Langzeitverschreibung von Benzodiazepinen zwei Seiten einer Medaille

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Transkript:

Langzeitverschreibung von Benzodiazepinen zwei Seiten einer Medaille Dr. med. Jochen Brack Gemeinschaftspraxis für Psychiatrie, Psychotherapie, Neurologie, Allgemeinmedizin und Innere Medizin Gemeinschaftspraxis Suchtmedizin Hamburg-Rahlstedt

Stigmatisierung (Zitat Joel&Fränkel 1925) Noch mehr scheuen viele Süchtige den Arzt und die Klinik, weil sie dort nicht nur körperlich, sondern auch moralisch als minderwertig gelten. Sie haben einen schlechten Ruf. Man hält sie für Psychopathen, Asoziale, Schwächlinge, Genusssüchtige, unehrliche, unzuverlässige Naturen... Der Arzt interessiert sich viel mehr für die Schuld des Patienten als für die Ursache des Leidens.

Vier Möglichkeiten des Umganges: 1. Sich nicht mit dem Problem auseinander zusetzen, den Patienten/in abweisen 2. Die inhaltliche Auseinandersetzung vermeiden, ein Privatrezept ausstellen 3. Den Patienten an den Psychiater verweisen und sich raushalten 4. Den Patienten annehmen und in die ärztliche Behandlung nehmen und dabei Ziele und Regeln formulieren

Problem der Abhängigkeit Patienten, die zu mir in die Praxis kommen, weisen schon eine Benzodiazepinabhängigkeit auf! Ziel Aufnahme in die ärztliche Behandlung. Abweisen bedeutet den Patienten dem Schwarzmarkt mit den damit verbundenen hohen Risiken zu überlassen.

Es ist weder einer unkritische Befürwortung noch einer ideologisierenden Verdammung dieser Medikamentengruppe das Wort zu reden!

Differenzieller individueller Umgang Wir sollten uns vielmehr am Patienten orientieren und nicht alle Patienten, die Benzodiazepinen verlangen oder verordnet bekommen über einen Kamm scheren. Ansonsten erinnert das Ganze fatal an die frühere Verteufelung von Methadon bzw. der Substitutionsmittel, die doch nur die Abhängigkeit des Patienten verlängern würde und den Arzt als Dealer diffamierte.

Patientengruppen 1. Der Akutpatient/in mit schweren psychischen Symptomen 2. Der Substitutionspatient/in 3. Die über 70`jährigen 4. Der chronisch psychisch kranke Patient

Wirkungen/Nebenwirkungen von Benzodiazepinen ( nach O. Benkert,, H. Hippius) - gute Verträglichkeit, sehr große therapeutische Breite - schlafinduzierend,, anxiolytisch, sedativ- hypnotisch sowie muskelrelaxierend, antiaggressiv und antikonvulsiv. - Abhängigkeitsrisiko und entsprechend schwere Entzugsproblematik - Atemdepression, Paradoxe Reaktionen - Konzentrationsschwäche, Einschränkung der Aufmerksamkeit (Nach jahrelangem Gebrauch in hohen Dosierungen Möglichkeit von irreversible kognitive Störungen - Dysartrische und ataktische Störungen

Indikationsbereiche von Benzodiazepinen (Benckert-Hippius) - Angst, Unruhe, Agitiertheit, Hyperaktivität Hypervigilanz,, motorische Spannung, Gereiztheit, vegetativer Übererregbarkeit, unabhängig von ihrer nosologischen Zuordnung - Psychosomatische Symptome (emotional- affektiv entspannender Effekt) - Panikstörungen, (generalisierte) Angststörungen - Depressionen, insbesondere mit ängstlich- agitierter Komponente - Schlafstörungen - Psychiatrische Akutsituationen - Persönlichkeitsstörungen

Positive Wirkung der Benzodiazepine sehen - Einziges Medikament, welches hilft, z.b. schwere Angsstörungen,, trauen sich aus dem Haus, im übrigen ohne Dosissteigerung - Steigerung der Lebensqualität

Um eine Langzeitverordnung kommt man nicht herum! Es gibt eine Patientengruppe, die z.b. unter langjährigen Angsterkrankungen oder auch Depressionen leiden und alle gängigen Psychopharmaka ohne wesentlichen Erfolg verordnet bekommen haben, diese profitieren jedoch ganz erheblich von der Verordnung von Benzodiazepinen, insbesondere was die Lebensqualität angeht. Erst durch die langjährige Verordnung der Benzodiazepine sind sie aktions- und handlungsfähig und können den Alltag ohne wesentliche psychische Symptome bewältigen.

Mother s little helpers (1968 Rolling Stones) Versprochen wird sich von den Benzodiazepinen Beruhigung und Unterstützung bei der Bewältigung des Alltages. Die kleine Pille soll helfen den tristen Alltag zu ertragen. 2/3 der Medikamentenabhängigen sind Frauen zwischen 40 und 60 Jahren.

Kontraindikationen Zustände von Unlust, Verstimmungen oder Alltagsproblemen stellen keine Indikation für die Verordnung dar. Nicht verordnen, wenn es um Konflikte geht, die nicht ertragen werden bzw. mit denen man sich nichts auseinandersetzen will.

Möglichkeit von schweren Schädigungen Unbestritten ist, dass die Langzeitverordnung von Benzodiazepinen Hirnschädigungen im Bereich der Kognition und des Gedächtnissen hervorrufen kann, jedoch nicht muss. Im übrigen können alle Medikamente schwere Nebenwirkungen und Schäden hinterlassen, man sollte nicht mit zweierlei Maß messen!

Drogenabhängige Patienten hohe Komorbidität, insbesondere von Depressionen, Angsterkrankungen und vor allem Persönlichkeitsstörungen. Es gibt drogenabhängige Patienten, die durch die Langzeitverordnung von Benzodiazepinen erheblich profitieren und mit ihrer Sucht mit einer gewissen Lebensqualität leben bzw. überleben und nicht ständig zur Entgiftung ins Krankenhaus eingewiesen werden müssen. Nur weil jemand eine Abhängigkeitserkrankung aufweist sollte er nicht von einer psychiatrischen Behandlung ausgeschlossen werden

Ursachen und Rationalität eines solchen Konsumverhaltens (Peter Raschke,, Georg Chorzelski,, Rüdiger Brinkmann, 1996)! 2/3 der Opiatabhängigen leiden häufig unter Depressionen, 37 % leiden unter regelmäßigen Angstzuständen und 30 % von Zeit zu Zeit unter psychotischen Störungen, 40 % unternahmen mindestens einen Suizidversuch vor Beginn der Substitutionstherapie! Eine Gruppe von Heroinabhängigen leidet unter kombinierten psychischen Störungen

Grundsätzliche Herangehensweise! Werden Benzodiazepine nicht verschrieben, erhöhter Konsum anderer Stoffe, insbesondere Alkohol, Kokain und Heroin! Die ärztliche Verschreibungsstrategie von Benzodiazepinen hat Einfluss auf das gesamte Beikonsumverhalten. Eine sich an die psychische Situation des Patienten anpassende Verschreibungsstrategie bremst den Beikonsum von anderen Mitteln.! Die ungeregelte Selbstmedikation ist also der ärztlichen Verschreibung und Therapiekontrolle zu unterstellen.

Grundsätzliche Herangehensweise Die Verschreibung von Benzodiazepinen muss Regeln und Zielen folgen und bedeutet nicht den therapeutischen Nihilismus walten zu lassen:! Indikationsgeleitet! Motivationsarbeit sich mit der Abhängigkeit auseinanderzusetzen und Schritte aus der Abhängigkeit zu entwickeln! Möglichst kurze Verschreibungsdauer! Geringstmögliche Dosis, geringste Packungsgröße! Möglichst Abgabe mit dem jeweiligen Substitut, ggf. auch täglich

Grundsätzliche Herangehensweise! Regelhafte Einweisung zur Entzugsbehandlung bzw. psychopharmakologischen Einstellung! Einbeziehung der gesamten Breite der Psychopharmaka (Neuroleptika, Antidepressiva), um ggf. den Konsum von Benzodiazepinen zu reduzieren bzw. gänzlich zu beenden.! Gemeinsam mit dem Patienten seine psychischen Probleme bzw. Symptome zu thematisieren und dabei Therapieziele auch bezogen auf die Benzodiazepine festlegen.

Grundsätzliche Herangehensweisen In der Behandlung von substituierten Patienten ist somit fachärztliche psychiatrische Kompetenz in Hinblick auf Diagnostik und Therapie heranzuziehen. Benzodiazepine stellen eine hoch wirksame psychiatrische Medikation dar, insbesondere in Krisensituationen, aber auch über einen längeren Zeitraum bei Schwerstabhängigen mit multiplen psychischen Problemlagen.

Zusammenfassung Es ist wenig sinnvoll, gegen den Gebrauch von Benzodiazepinen prinzipiell zu polemisieren. Ein Abstinenzdogma führt nicht weiter. Die Ärzte und die Krankenkassen müssen sich dem Problem stellen, statt mit Regress bedroht zu werden bzw. zu drohen. Juristisch ist das Problem nicht zu lösen. Voraussetzung für eine Verordnung muss die fortlaufende ärztliche Überwachung sein. Zustände von Unlust, Verstimmungen oder Alltagsproblemen stellen keine Indikation für die Verordnung dar.