Geisteswissenschaft Knuth Müller Die Technik-Debatte in der zeitgenössischen Psychoanalyse Von der Selbstpsychologie Kohuts zum intersubjektiven Ansatz von Stolorow et al.: Ein Vergleich aus behandlungstechnischer Perspektive Diplomarbeit
Die Technik-Debatte in der zeitgenössischen Psychoanalyse Von der Selbstpsychologie KOHUTs zum intersubjektiven Ansatz von STOLOROW et al.: Ein Vergleich aus behandlungstechnischer Perspektive (STOLOROW & KOHUT, 20. August 1981 [STROZIER 2001]) Diplomarbeit Zur Erlangung des Diploms im Diplomstudiengang Psychologie im Fachbereich Erziehungswissenschaft, Psychologie der Freien Universität Berlin. Zur Begutachtung eingereicht von: KNUTH MÜLLER Datum: 24.05.2004
3 Inhaltsverzeichnis DIE TECHNIK-DEBATTE IN DER ZEITGENÖSSISCHEN PSYCHOANALYSE... 1 INHALTSVERZEICHNIS... 3 ANMERKUNGEN ZUR ORIENTIERUNG IM TEXT:... 7 DANKSAGUNG... 8 EINLEITUNG... 9 I. AUF DEM WEG ZUR SELBSTPSYCHOLOGIE... 14 1.2 Biographischer Abriss zur Person HEINZ KOHUT... 14 1.2.1 Der Weg zur Psychoanalyse... 14 1.2.2 Narzissmus und die Person KOHUTs... 15 1.2.3 Von den Anfängen zur Selbstpsychologie... 16 II. FUNDAMENTE DER SELBSTPSYCHOLOGIE... 19 2.1 Frühe Annäherungen KOHUTs an das Narzissmuskonzept... 19 2.1.1 Der Einfluss ALFRED AICHHORNs auf KOHUT... 19 2.1.2 Introspektion, Empathie und Psychoanalyse (1959)... 20 2.1.2.1 Empathie... 20 2.1.2.2 Introspektion... 21 2.1.3 Formen und Umformungen des Narzissmus (1966)... 23 2.1.4 Die psychoanalytische Behandlung narzisstischer Persönlichkeitsstörungen (1969)... 25 2.1.5 Kritische Bemerkungen über KOHUTs frühe Orientierung... 27 2.1.6 Zusammenfassung... 28 2.2 Die Geburt der Selbstpsychologie... 29 2.2.1 Reaktionen auf KOHUTs Theoriewandel... 30 2.2.2 Narzissmus (1971), Die Heilung des Selbst (1977), Wie heilt die Psychoanalyse (1984) und darüber hinaus: Ein Theorieabriss... 32 2.2.2.1 Der Begriff des Selbst... 32 2.2.2.2 Bipolares Selbst... 35 2.2.2.3 Selbstobjekte... 36 2.2.2.4 Ödipuskomplex im Licht der Selbstpsychologie... 37
4 2.2.2.5 Selbststörungen (Psychopathologie des Selbst)... 39 2.2.2.6 Optimale Frustration und umwandelnde Verinnerlichung... 41 III. BEHANDLUNGSTECHNIK IN DER SELBSTPSYCHOLOGIE HEINZ KOHUTS... 43 3.1 Einleitende Bemerkungen... 43 3.2 Elemente der Behandlungstechnik nach KOHUT... 45 3.2.1 Rahmenbedingungen für eine psychoanalytische Behandlung... 46 3.2.1.1 Das selbstpsychologische Setting... 46 3.2.1.1.1 Physische Merkmale des Settings... 46 3.2.1.1.1.1 Raumgestaltung... 46 3.2.1.1.1.2 Stundenfrequenz... 47 3.2.1.1.1.3 Sitzungsdauer... 48 3.2.1.1.2 Grundregel... 48 3.2.1.1.3 Analytische Haltung... 49 3.2.2 Theoriegeleitete und erfahrungsspezifische Behandlungstechniken... 52 3.2.2.1 Fragen nach der Analysierbarkeit... 52 3.2.2.2 Umgang mit Widerstand, Übertragung und Gegenübertragung... 53 3.2.2.2.1 Widerstand und Übertragung - Grundlagen... 53 3.2.2.2.1.1 Widerstand... 53 3.2.2.2.1.2 Übertragung... 55 3.2.2.2.2 Formen der Selbstobjektübertragung... 56 3.2.2.2.2.1 Größenselbstübertragungen... 56 3.2.2.2.2.1.1 Kreativitätsübertragung:... 57 3.2.2.2.2.1.2 Spiegelübertragung (im engeren Sinne):... 58 3.2.2.2.2.1.3 Alter-Ego- bzw. Zwillingsübertragung:... 59 3.2.2.2.2.1.4 Verschmelzungsübertragung:... 59 3.2.2.2.2.2 Idealisierende Übertragungsformen... 60 3.2.2.2.2.2.1 Kreativitätsübertragung... 60 3.2.2.2.2.2.2 Idealisierende Übertragung... 61 3.2.2.2.3 Gegenübertragung... 62 3.2.2.2.3.1 Reaktionen des Analytikers auf Größenselbstübertragungen... 63 3.2.2.2.3.1.1 Reaktionen auf Kreativitätsübertragung... 63 3.2.2.2.3.1.2 Reaktionen auf Spiegelübertragung... 64 3.2.2.2.3.1.3 Reaktionen auf Alter-Ego- bzw. Zwillingsübertragung... 64 3.2.2.2.3.1.4 Reaktionen auf Verschmelzungsübertragung... 65 3.2.2.2.3.2 Reaktionen des Analytikers auf idealisierende Übertragungen... 66 3.2.2.2.3.2.1 Reaktionen auf Kreativitätsübertragungen... 66 3.2.2.2.3.2.2 Reaktionen auf idealisierende Übertragungen... 68
5 3.2.2.2.4 Ergänzungen und Zusammenfassung... 69 3.2.2.3 Deutung... 70 3.2.2.4 Traumdeutung in der Selbstpsychologie... 71 3.2.2.5 Nachbearbeitung der Sitzungen... 73 3.2.2.6 Ziele der analytischen Behandlung... 74 3.2.2.7 Abschluss der analytischen Behandlung... 75 3.3 ZUSAMMENFASSUNG... 76 3.4 KRITISCHE BEMERKUNGEN... 77 IV. DER INTERSUBJEKTIVE ANSATZ... 81 4.1 Einleitung... 81 4.2 Zur Person und theoretischen Hintergrund von ROBERT D. STOLOROW... 82 4.3 Grundlagen der Theorie der Intersubjektivität in der Psychoanalyse... 83 4.3.1 Das intersubjektive Feld und seine theoretische Verortung... 84 4.3.2 Entwicklungspsychologische Aspekte aus Sicht der intersubjektiven Perspektive.... 86 4.3.3 Psychopathologie im Licht der Intersubjektivität... 87 4.4 Konvergenzen und Divergenzen zur Selbstpsychologie HEINZ KOHUTs... 89 4.4.1 Konvergenzen... 89 4.4.2 Divergenzen... 90 4.4.2.1 Der Begriff des Selbst... 90 4.4.2.2 Die Bi-Polarität des Selbst... 91 4.4.2.3 Fragmentierung: isolierte Triebmanifestation als Desintegrationsprodukt?... 92 4.4.2.4 Selbstobjekte vs. echte Objekte... 93 4.5 Zusammenfassung... 93 V. BEHANDLUNGSTECHNISCHE IMPLIKATIONEN DER INTERSUBJEKTIVEN PERSPEKTIVE... 95 5.1 Grundlegende Gedanken zur psychoanalytischen Behandlungstechnik aus intersubjektiver Perspektive... 95 5.1.1 Das intersubjektive Setting... 96 5.1.2 Die analytische Haltung: Eine kritische Bestandsaufnahme... 97 5.1.2.1 Der Mythos von der suggestionsfreien Deutung... 98 5.1.2.2 Der Mythos von der unkontaminierten Übertragung... 98 5.1.2.3 Der Mythos von der Objektivität und die Frage nach der Analysierbarkeit... 99 5.1.2.4 Der Mythos vom isolierten Geist... 99
6 5.1.2.5 Die analytische Haltung aus intersubjektiver Perspektive... 100 5.1.3 Übertragung, Gegenübertragung und Widerstand... 102 5.1.3.1 Übertragung... 102 5.1.3.1.1 Ziele der Übertragungsanalyse...105 5.1.3.2 Gegenübertragung... 106 5.1.3.3 Widerstand... 106 5.1.4 Traumdeutung... 108 5.1.5 Ziele und Abschluss der Behandlung... 109 5.1.5.1 Ziele der Behandlung aus intersubjektiver Sicht... 109 5.1.5.2 Abschluss der Behandlung... 110 5.2 Zusammenfassung... 111 5.3 Kritische Bemerkungen... 112 VI. SCHLUßBETRACHTUNG... 116 LITERATURLISTE... 120
7 Anmerkungen zur Orientierung im Text: Im folgenden Text wurden alle Zitate mit dem Publikationsdatum der Erstveröffentlichung versehen, d.h. bei englischsprachigen Erstveröffentlichungen bezieht sich die Jahresangabe auf die englische Erstveröffentlichung. Die zitierte Stelle, soweit sie in deutscher Sprache wiedergegeben wurde, entstammt aus der deutschen Übersetzung, deren Erscheinungsdatum am Ende der deutschen Quellenangabe im Literaturverzeichnis genannt wird. In der Literaturliste sind nur die Schriften KOHUTs und STOLOROW et al. sowohl mit der englischen Originalquelle wie auch mit der deutschen Übersetzung angegeben. Andere englischsprachige Autoren werden entweder mit dem Original soweit daraus zitiert wird - oder in der deutschen Übersetzung wiedergegeben, ohne dass bei der deutschen Übersetzung noch der englischen Originaltitel hinzugefügt worden ist. Da es sich hier um einen Autorenvergleich handelt, habe ich mich entschlossen, bei der Bearbeitung der Primärquellen beider Autoren bzw. Autorengruppe eine genauere Quellenangabe einzufügen, da deren ins Deutsche übersetzte Titel teilweise mit dem englischen Original wenig übereinstimmen. Zur schnelleren Übersicht habe ich zusätzlich zur Literaturliste am Ende der Arbeit eine Liste der in dieser Arbeit verwendeten Internet-Seiten angeführt. Der Text wurde aus Gründen der Einfachheit aus männlicher Perspektive verfasst. Jeder Psychoanalytiker soll demnach auch als Psychoanalytikerin, jeder Patient auch als Patientin gelesen werden, soweit nicht spezifische Personen genannt sind. In den deutschen Zitaten findet sich noch die alte Rechtschreibung. Ich habe Wert darauf gelegt, keinerlei Veränderungen in den Zitaten durchzuführen, außer sie wurden mit [] gekennzeichnet, um einen sinngemäßen und damit verständlichen Lesefluss zu gewährleisten.
8 Danksagung Ich möchte mich ganz herzlich bei folgenden Personen bedanken, die mit Rat, Hilfe, Geduld, Tröstungen, Aufmunterungen und Ablenkungen den streckenweise nicht einfachen Aufnahme-, Verdauungs- und Ausscheidungsprozess der Arbeit beigestanden haben: Prof. Dr. KLAUS-JÜRGEN BRUDER für sein empathisches holding und containment in der langen Phase der Themenwahl und der Strukturierung der Arbeit insbesondere aber dafür, dass er mir die Möglichkeit geschenkt hat, mein psychoanalytisches Wissen im Rahmen einer Diplomarbeit um zwei weitere interessante Interpretationsmöglichkeiten zu erweitern. Prof. Dr. PETER MATTES für seine unermüdliche Begeisterung für die Psychoanalyse und das Durchhaltevermögen, diese Begeisterung auch im universitären Alltag über die ganzen Jahre aufrechtzuerhalten. CHRISTOPH BRAUN fürs Halten und Verwalten aller Gefühle und Geistesblitze, an die ich mich häufiger ohne seine Hilfe im Nachhinein entweder nicht erinnern wollte oder konnte. NICKLAS CORDES, RÜDIGER KUSSEROW, OLIVER SONNEN und BENJAMIN EBELING für das Erinnern, dass es noch etwas anderes da draußen gibt, als nur die Psychoanalyse. Den Ablenkungsräumen KDR, BMK und KQ samt ihren fleißigen ArbeiterInnen, in deren Sälen manch bessere Idee gereift ist, als in den einsamen Schreibtischstunden. Und schließlich meinen Eltern, die das zweite Studium ihres Sohnes nicht als deutliches Kennzeichen ausgeprägten Wahnsinns interpretierten, sondern stets diesen Plan emotional und ja, ich gebe es zähneknirschend zu auch finanziell unterstützten. Vielen Dank für Eure schier unendliche Geduld! Ach und eines verspreche ich: Kein drittes Studium mehr (nur noch Doktorarbeit, Therapieausbildung 1, Therapieausbildung 2, Therapieausbildung 3 ).
9 Einleitung Wenn wissenschaftliche Theorien aufeinanderprallen, ist es nicht gesagt, dass ein Kompromiß die Wahrheit ist. Die Erde ist nicht ein Zwischending zwischen flach und rund. (COOPER 1980, zitiert nach KÖHLER 1982, S. 353). The quintessential irony of the analytic relationship resides in the analyst who insists that the patient have a right to his or her own life, a right to develop a personal sense of freedom and agency. (WILLIAM COBURN1998) 1 In dem Feld der Psychoanalyse ist es selten, eine Arbeit über Behandlungstechnik lesen zu können, die nicht von einem praktizierenden Analytiker stammt. Es liegt in der Natur der Sache, dass Behandlungstechnik im psychoanalytischen Kontext immer an eigene Erfahrungen gekoppelt sein muss und demnach nicht unabhängig vom Erfahrungsraum gelehrt oder geleistet werden kann. Ein solches Verständnis vom Umgang mit dem Thema Behandlungstechnik ist nachvollziehbar und notwendig, da es ja um die verantwortungsvolle Behandlung von Patienten oder die Ausbildung von zukünftigen Psychoanalytikern geht. Die vorliegende Arbeit nähert sich dem Thema Behandlungstechnik jedoch von einer anderen Seite an, welche auch ohne persönlichen Erfahrungshintergrund den Weg zur Beschreibung von Behandlungstechnik gangbar macht. Im Folgenden soll herausgestrichen werden, was bestimmte Analytiker unter Behandlungstechnik verstehen, wie sie ihre persönliche Behandlungstechnik darstellen und wie sie sie von einander abgrenzen und/oder modifizieren. Im Zentrum stehen zwei Analytiker bzw. Analytikergruppen: Zum einen wird die Selbstpsychologie HEINZ KOHUTs und ihre behandlungstechnischen Konzepte dargestellt, zum anderen die der intersubjektiven Perspektive der Autoren um ROBERT D. STOLOROW. In der Darstellung beider Konzepte soll zunächst auf die theoretischen Grundlagen der KOHUTschen Selbstpsychologie eingegangen werden (Kapitel I und II). Dieser Weg wird 1 http://www.selfpsychology.com/deepthoughts/1998-1.htm. Stand: 05.05.04.
10 notwendig, da sich die Theorie der Intersubjektivität von STOLOROW et al. explizit auf selbstpsychologische Grundannahmen bezieht, ihr Konzept also als Ergänzung und Erweiterung der Selbstpsychologie (und darüber hinaus!) 2 verstanden wissen will. Darauf folgend soll KOHUTs behandlungstechnisches Verständnis aufgezeigt werden (Kapitel III). Das Kapitel IV stellt sowohl die theoretische Konzeption der intersubjektiven Perspektive wie auch eine Gegenüberstellung zur KOHUTschen Selbstpsychologie vor und leitet schließlich in Kapitel V über zu den behandlungstechnischen Konsequenzen der intersubjektiven Perspektive. Für mich bedeutet diese Arbeit ein Fortführen eines Interesses, das durch eine vorangegangene Diplomarbeit (MÜLLER 1999) viel Nahrung bekommen hat. War das Thema der ersten Arbeit das Verhältnis zwischen Eltern und Säuglingen resp. Kleinkindern aus psychoanalytischer und bindungstheoretischer Sicht im Hinblick auf die Phantasieentwicklung und transgenerationaler Weitergabe von Interaktionsschemata, so hat sich der Schwerpunkt in der vorliegenden Arbeit weg von der Säuglings- und Kleinkindforschung hin zur Frage des Umgang mit sog. frühen Störungen im Erwachsenenalter verlagert. So folgte der Beschäftigung mit der Bindungstheorie und den neueren psychoanalytischen Theorien über den Säugling das Interesse für die Selbstpsychologie HEINZ KOHUTs und deren Weiterentwicklung durch die intersubjektive Perspektive. Nicht zufällig ist die enge theoretische Verbundenheit der modernen psychoanalytisch orientierten Säuglingsforschung mit den Auffassungen KOHUTscher Selbstpsychologie (s. z.b. STERN 1985; LICHTENBERG et al. 1995), da sie Grundlagen schaffte für eine alternative Sicht auf die Konstituierung des Selbst weg von einer triebtheoretischen hin zu einer relational geleiteten Auffassung, welche durch die moderne Säuglingsforschung in vielerlei Aspekten Bestätigung findet. Aber auch ein zweiter Strang des Interesses war ausschlaggebend, mich mit der Selbstpsychologie und deren Weiterentwicklung zu beschäftigen. Dieser zweite Strang könnte als ein theoriehistorisches Interesse bezeichnet werden: In den vergangenen Jahren an der Freien Universität habe ich verschiedenste psychoanalytische Richtungen kennen lernen können. 3 Dabei fiel mir auf, dass sich bestimmte Charakteristika in der Rezeption 2 s. dazu Punkt 4.3.1. 3 Ein etwas zu selbstverständlich klingender Satz, da die Möglichkeiten zum Kennenlernen psychoanalytischer Grundlagen und ihren verschiedenen theoretischen Richtungen zunehmend