1 Bundesregierung -I- Äußerungen eines Botschafters Im Staat Flodira, mit dem die Bundesrepublik Deutschland freundschaftliche Beziehungen unterhält, kommt es in letzter Zeit vermehrt zu Überfällen auf deutsche Urlauber. Auf einem Empfang des Staatschefs von Flodira äußert sich der deutsche Botschafter unsachlich und äußerst abwertend über die dortigen Sicherheitsorgane. So bezeichnet er die Polizei als korrupte Bande und völlig unfähig, den Saustall auszumisten". Dies findet seinen Niederschlag in der dortigen Presse und führt zu einer empfindlichen Beeinträchtigung der zwischenstaatlichen Beziehungen. Als der Bundeskanzler (BK) von der Angelegenheit erfährt, weist er den Bundesminister des Auswärtigen an, den Botschafter zurückzurufen, da dieser die Beziehungen beider Völker zueinander schwer belastet habe und solche Äußerungen geeignet seien, das Ansehen der Bundesrepublik weltweit zu schädigen und ihre außenpolitischen Interessen zu gefährden. Der Außenminister (A) weigert sich, dieser Weisung nachzukommen. Er verweist dabei auf seine Ressortkompetenz in außenpolitischen Fragen. Er gesteht zu, daß sich der Botschafter diplomatischer hätte äußern können. Dies ändere jedoch nichts am Wahrheitsgehalt seiner Äußerungen. Im Kabinett stimmt die komplette Regierung der Anweisung des Kanzlers zu. A, der auch Abgeordneter des Bundestages ist, ist nunmehr erbost und möchte gegen den Kabinettsbeschluss im Bundestag Stellung nehmen. Dies sei von seiner Abgeordnetenfreiheit umfasst. Das Kabinett untersagt ihm dies. Frage 1 Muss der Außenminister der Weisung des Bundeskanzlers nachkommen? Frage 2 Muss A den Anweisungen des Kabinetts folgen oder darf er im Bundestag gegen den Kabinettsbeschluss Stellung nehmen? Frage 3 Hätte ein vom Außenminister gegen den Bundeskanzler gerichtetes Verfahren vor dem BVerfG Aussicht auf Erfolg? Bearbeitervermerk: Völkerrechtliche Fragen sind nicht zu prüfen. Literatur: verändert nach Windirsch, JuS 1995, 527 ff. Zusätzlich noch: Beaucamp, JA 2001, 478 ff.
2 Lösungsskizze A. Frage 1 Der Außenminister muß der Weisung des Bundeskanzlers nachkommen, wenn dieser ihm gegenüber befugt war, eine solche zu erteilen, und wenn diese Weisung bindend ist. I. Befugnis aus der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers, Art. 65 S. 1 GG 1. Begriff der Richtlinie - weder im Grundgesetz noch in der Geschäftsordnung der Bundesregierung greifbar definiert - grundlegende, staatsrichtungsbestimmende Gestaltungsentscheidungen - auf das Staatsganze hingeordnet, ohne aber dasselbe zu sein wie das Regierungsprogramm - soll den politischen Führungsanspruch des Kanzlers durchsetzen und behaupten - Art. 65 S. 1 GG stellt hinsichtlich der Formbedürftigkeit von Richtlinien keine Anforderungen Hier: BK weist A an, den Botschafter abzuziehen Problem Werden auch Einzelweisungen von dem Begriff der Richtlinie umfasst?
3 pro - grundlegende und richtungsweisende Entscheidungen, die auch Einzelfälle betreffen können - eigenständige Kategorie der politischen Führungsentscheidung, Bundeskanzler kann in jeder beliebigen Weise Richtlinienentscheidungen zur Geltung bringen - deutlich machen, dass von der Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht wurde - hochpolitische Einzelfälle, die für den Bestand der Regierung von Bedeutung sind - das prinzipiell Richtungsweisende seinen Sitz in der konkreten Sachfrage selbst hat - teilw. Einzelfallentscheidungen, die von viel größerer Bedeutung sind als mancher Normsetzungsakt - der Bundeskanzler ist der politisch Verantwortliche contra - dürften nicht die Gestalt von Einzelweisungen annehmen - kein Durchgriff in die einzelnen Ressorts - Der Minister sei zwar an die vom Kanzler bestimmten Richtlinien gebunden, könne aber innerhalb dieses Rahmens sein Ermessen walten lassen - soweit denn der Entscheidungsspielraum reicht, ist der Bundeskanzler nicht berechtigt, durch Einzelweisungen in die Geschäfte des Ressorts einzugreifen Ergebnis: nach h.m ist die Einzelanweisung grds. eine zulässige Ausübung der Richtlinienkompetenz 2. Das Ressortprinzip nach Art. 65 S. 2 GG als Gegensatz zur Richtlinienkompetenz - regelt die Stellung der Minister als Leiter ihres jeweiligen Geschäftsbereiches - frei innerhalb der ihn insoweit bindenden vom Kanzler vorgegebenen Richtlinien der Politik - Unter den egriff Ressortleitung" fällt unter anderem auch die Leitung der nachgeordneten Behörden - Der Minister verfügt hierbei über die Personal hoheit und über eine eigene Organisationsgewalt
4 3. Abwägung zwischen Ressortprinzip und Richtlinienkompetenz a) Allgemein - Sinn und Zweck der Richtlinienkompetenz könne nicht sein, dem Bundeskanzler das Hineinregieren in jeden zu entscheidenden Einzelfall möglich zu machen - Kein Monopol der Regierungsentscheidungen des Bundeskanzlers und dadurch die Eigenverantwortlichkeit des Ministers auf kleine unbedeutende Bereiche zu reduzieren - Die Grenze zum Prinzip der selbstständigen Ressortleitung ist erst dann überschritten, wenn die Richtlinienbestimmung so detailliert erfolgt, dass bis in den verwaltungsmäßigen Vollzug der Politik hinein konkrete Einzelweisungen erteilt würden - Nur solche Weisungen sind zugelassen, die ihrem Grundsatz nach eine politische Grundsatzentscheidung enthalten oder das Prinzipielle in der konkreten Sachfrage selbst haben b) Anweisung des BK an A den Botschafter abzuberufen - Die Abberufung des Botschafters, als einer der schwersten denkbaren diplomatischen Schritte, ist von hochpolitischer Brisanz - weit reichende Folgen auf politischem aber auch auf wirtschaftlichem Gebiet - es manifestiert sich gerade in der Besetzung von Botschaftsposten die Politik der Bundesregierung - Abberufung des Botschafters ist als politische Grundsatzentscheidung anzuerkennen - Erst Eingriff in Ressortprinzip, schriebe der BK dem A vor wie er den Botschafter zu verwenden habe (Eingriff in die von Art. 65 S. 2 GG gewährte Personalhoheit Ergebnis: Die Weisung an A ist von der Richtlinienkompetenz des BK umfasst, er muss die Weisung befolgen
5 B. Frage 2 I. Rechtsgrundlage für Einschränkung der Abgeordnetenfreiheit des A aus Art. 38 I 2 GG Das Kollegialprinzip nach Art. 65 S. 3 GG - Die Bundesregierung kann die ihr zugewiesenen Kompetenzen nur dann ausschöpfen, wenn sie die in Anspruch genommene Kompetenz gegenüber den anderen Staatsorganen deutlich macht - nur gewährleistet, wenn die Kompetenzwahrnehmung unteilbar, bestimmt und unzweideutig erfolgt - Pflicht für die Bundesregierung, bei ihrer Kompetenzwahrnehmung einheitlich und geschlossen vorzugehen - Aus dieser für das Organ als Ganzes geltende Pflicht folgt für jedes Mitglied eine Verhaltenspflicht, gegenüber anderen Staatsorganen die Kollegialbeschlüsse zu vertreten II. Abwägung zwischen Kollegialprinzip aus Art. 65 S. 3 GG und der Abgeordnetenfreiheit des A aus Art. 38 I 2 GG Streitstand mit 3 Ansichten 1. Anwendungsvorrang des Art. 65 S. 3 GG - Die Bundesregierung sei politisches Leitungsorgan im Staate, und diese Aufgabe sei gegenüber der Abgeordnetenfreiheit der stärkere Gemeinwohlwert hier: Nach dieser Ansicht müsste A den Anweisungen folge leisten. 2. Anwendungsvorrang des Art. 38 I 2 GG - Vorrangsverhältnis zugunsten der Abgeordnetenfreiheit an unter Verweis auf die allgemeine Bedeutung des freien Mandats für die parlamentarische Tätigkeit jedes einzelnen Mandatsträgers, auch für das Gemeinwesen insgesamt hier: Nach dieser Ansicht müsste A den Anweisungen nicht folge leisten. 3. Gewissensentscheidung des Mandatsträgers - Eine weitere Ansicht besagt, dass die gleichzeitige Innehabung von Mandat und Ministeramt einer permanenten Prüfung des Trägers bedarf, ob er durch die Kabinettssolidarität in seiner Mandatsfreiheit nach Art. 38 I 2 derart beschränkt werde, so dass er nicht mehr die Bindung an die Regierungsbeschlüsse tragen könne, so müsse er dieser Situation durch Rücktritt als Bundesminister entgehen, ansonsten bleibe er der Pflicht zur Solidarität unterworfen
6 hier: - keine Angaben zu entnehmen, dass A zurücktreten wolle - Also muss er sich dem Prinzip der Kabinettssolidarität unterwerfen - Nach dieser Ansicht müsste A den Anweisungen folge leisten. 4. Streitentscheid vorzugswürdig: letzte Auffassung, denn: - pragmatischer Weg der Konfliktlösung - Minister-Abgeordnete befindet sich in einem immanenten Gewissenskonflikt zwischen der Kabinettssolidarität einerseits und seiner Abgeordnetenfreiheit andererseits - Daher kann dieser Konflikt nur aufgrund seiner Gewissensentscheidung gelöst werden Ergebnis: A muss den Anweisungen des Kabinetts folge leisten und kann sich nicht gegen den Beschluss im Bundestag äußern.
7 C. Frage 3: Organstreitverfahren, Art. 93 I Nr. 1 GG, 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG I. Zulässigkeit 1. Parteifähigkeit (Antragsteller und Antragsgegner), Art. 93 I Nr. 1GG, 63 BVerfGG a) Antragssteller, 63 BVerfGG hier: A als Bundesminister (Teil der Bundesregierung); Rechte aus Art. 65 S. 2 GG b) Antragsgegner hier: Bundeskanzler (Teil der Bundesregierung), z.t. wird er auch zutreffend als oberstes Bundesorgan qualifiziert; Rechte aus Art. 65 GG und Bundesregierung als oberstes Bundesorgan 2. Angriffsgegenstand hier: Anweisung des Bundeskanzlers 3. Antragsbefugnis Mögliche Rechtsverletzung des A in: Art. 65 S. 2 GG 4. Form und Frist - Form, 23 I, 64 II BVerfGG - Frist, 64 III BVerfGG ( sechs Monate) 5. Rechtsschutzbedürfnis (+) Zwischenergebnis. Ein Antrag des A wäre zulässig. II. Begründetheit A muss die Anweisung befolgen, der Antrag ist zwar zulässig jedoch unbegründet und A wurde nicht tatsächlich in seinen Rechten verletzt. Der Antrag des A hätte keinen Erfolg.