Prof. Dr. Michael Feldhaus Patchwork-Familien: Herausforderungen und Folgen für die Familienmitglieder Workshop: Zukunft der Familienbildung Deutsches Rotes Kreuz Berlin, 24. April 2015
Gliederung 1) Begrifflichkeiten 2) Verbreitung in Deutschland 3) Strukturelle Kennzeichen 4) Folgen für Eltern, Stiefeltern und Kindern 5) Fazit
Begrifflichkeiten Konstitutive Elemente von Familie: - Generationendifferenzierung - Vorhandensein eines spezifischen Kooperations- und Solidaritätsverhältnis - biologisch-soziale Doppelnatur : Übernahme der Reproduktions- und Sozialisationsfunktion (Nave-Herz 2009). - Zunehmende Entkopplung von biologischer und sozialer Elternschaft (Vaskovics 2002)
Begrifflichkeiten
Begrifflichkeiten Patchworkfamilien: - Auftreten neuer Begrifflichkeiten zur Erfassung familialer Realität - multiple Elternschaft (Gross & Honer 1990) - Fortsetzungsfamilien (Meulders-Klein & Thery 1998) - fragmentierte Elternschaft (Peuckert 2005) - Stieffamilie - Patchwork-Familie (Sieder 2008) - Fortsetzungsfamilien / Folgefamilien (Meulders-Klein & Théry 1998)
Begrifflichkeiten...es ist noch komplizierter: Typen von Folgefamilien (Bien et al. 2002; Feldhaus 2015) - biologische Zwei-Elternfamilie; mit oder ohne Ehe - alleinerziehende Elternteile ohne Partner(!) (engeren/weiteren Sinne) - Stieffamilien - primäre Stieffamilie: ein Elternteil mit Kind(ern) hat einen neuen Partner - Stieffamilie im engeren Sinne: zusammenwohnend mit neuem Partner - Stieffamilie im weiteren Sinne: nicht zusammenwohnend mit neuem Partner - sekundäre Stieffamilie: wenn ein Elternteil bei dem das Kind nicht lebt einen neuen Partner hat - Patchworkfamilie/komplexe Stieffamilie: mindestens ein Stiefkind und mindest. ein gemeinsames Kind
Verbreitung Verbreitung: - keine Informationen aus der amtlichen Statistik - Umfragedaten Tabelle 1: Anteile von Personen in Familienformen in verschiedenen Surveys in % (Kinder unter 18, im Haushalt lebend)
Kindschaftsverhältnisse im Alter 0-16 Jahre
Verbreitung Verbreitung - Familienverläufe: biolog. Zwei-Elternfamilie (46,6%) 0 200 biolog. Zwei-Elternfam., verheiratet biolog. Zwei-Elternfam., nicht verh. Ein-Elternfamilien Patchworkfamilie keine Kinder 400 600 800 1000 0 50 100 150 9
Verbreitung Verbreitung - Familienverläufe: Stieffamilie (3,2%) 0 20 biolog. Zwei-Elternfam., verheiratet biolog. Zwei-Elternfam., nicht verh. Ein-Elternfamilien Stieffamilie Patchworkfamilie keine Kinder 40 60 80 0 50 100 150 10
Verbreitung Verbreitung - Familienverläufe: Patchworkfamilien (4,6%) 0 20 40 biolog. Zwei-Elternfam., verheiratet biolog. Zwei-Elternfam., nicht v erh. Ein-Elternfamilien Stieffamilie Patchworkfamilie keine Kinder Sonstige 60 80 100 0 50 100 150 11
Struktur Strukturelle Kennzeichen von Stieffamilien/Patchworkfamilien: - erlebte biographische Übergänge: Eltern und Kinder - teilweise multiple Übergänge - Hinzukommen einer neuen Bezugsperson (auch Großeltern) - außerhalb des HH lebender Elternteil / Umgangsregelungen - Geschwisterkomplexität - relative Unbestimmtheit der Rollen ( incomplete institution ) > erhöhter Abstimmungsbedarf - neue/erweiterte sozialer Netzwerke von Kindern und Eltern
Folgen Folgen für die Kinder - Generell: Familiale Transitionen sind kritische Lebensereignisse - Anpassungsprozesse notwendig - kurzfristige Folgen der Trennung: negatives subjektives Wohlbefinden, eher internalisierendes, externalisierendes Verhalten, weniger prosoziales Verhalten, mehr Ängstlichkeit, mehr Depressivität, weniger Bindungssicherheit, eher aggressives Verhalten, ein geringeres Selbstwertgefühl, schlechtere Schulleistungen - aber kein Automatismus: abhängig von den Resilienzfaktoren - Anpassung mehrheitlich nach 2 Jahren erfolgt / teilweise sehr negative Verläufe - nicht nur Verlierer: Gewinner durch frühe Übernahme von Verantwortung, weniger erlebte Konflikte zwischen Eltern, weniger Missbrauch (Hetherington 1989; Schmit-Denter 2005; Sieder 2008) 13
Folgen Spezifische Folgen für Stieffamilien/Patchworkfamilien - Konflikte zum nicht im Haushalt lebenden Elternteil; wechselseitige Vorwürfe, Regelung der Finanzen - erfolgt ein kindorientierter Umgang (autoritative Erziehung), dann bleibt der getrennt lebende Elternteil ein zentrale Bezugsperson (Steward 2007): Zwei-Zuhause-Ansatz (Sieder 2008) - Stieffamilien als incomplete institution (Cherlin 1978): Problem die Unbestimmtheit der Rollen - Schwierigkeiten in der Gründungsphase zum Stiefelternteil - positiver Verlauf bei kontinuierlicher offener Kommunikationsbereitschaft - eher negativ wenn Elternteil ersetzt werden soll: Loyalitätskonflikte möglich; oder größere Erziehungsansprüche stellen - ökonomische Deprivation eher weniger ein Problem - Mütter als gatekeeper; defender; mediator; interpreter (Ganong et al. 1999) 14
Folgen Folgen der Geschwisterkomplexität - Stief-/Halbgeschwistern als weiterer eigenständiger Einflussfaktoren (selbst unter Kontrolle der Familienstruktur) - niedrigere Schulabschlüsse - Auftreten von verschiedenen psychischen Verhaltensproblemen / Konkurrenz - unterschiedliche Beziehungsqualitäten bei leiblicher und sozialer Elternschaft - das elterliche Engagement, im Sinne gemeinsam verbrachter Zeit, reduziert sich 15
Folgen - Langfristige Folgen für Kinder, die in alleinerziehenden Familien / Stieffamilien auswachsen - uneindeutige Befundlage: von geringen Effekten bis zur Bezeichnung der Scheidung als Lebensschicksal - Nachgewiesene Auswirkungen: - früher eine erste Partnerschaft, - früherer Auszug aus dem Elternhaus und Familiengründung, - höhere Wahrscheinlichkeit einer eigenen Scheidung; daher eher nicht-traditionelle Familienformen - langfristige psychische Folgen: Depressivität, Bindungsunsicherheit, liberalere Werte, Delinquenz (Wallerstein & Blakeslee 2000; Amato 2006) 16
Folgen Unterstützungsbedarf und Ansatzmöglichkeiten - Ausgangspunkt: wenn Unterstützungsbedarf notwendig, dann könnten gerade bei Stieffamilien / Patchworkfamilien multiple Problemlagen vorliegen! - bewährte Maßnahmen greifen evtl. auch hier - Versuch: ganzheitlicher (sozialökologisch) Zugang durch Blick auf alle Lebensbereiche (Familie, Schule, Freunde, Freizeit) - Studien belegen sog. Spill-Over-Effekte - aber belegen auch: angrenzende Lebensbereiche können ein sehr zentrale Ressource sein - zusätzlich: Konzentration auf zentrale, multifokale Resilienzfaktoren
Folgen Resilienz-/Schutzfaktoren Persönlichkeitsebene: - Kognitive Fähigkeiten / Bildung - Selbstwertgefühl - Selbstwirksamkeitserfahrungen - Emotionsregulation Soziale Beziehungen: - Positives Familienklima und Familienbeziehungen - sichere Bindungen - Autoritative Erziehung, Monitoring - Großelternbeziehungen / Freundschaftsnetzwerke Organisationen: - Schule - Vernetzung von Organisationen ( Frühe Hilfen )
Fazit - Dominanz der dauerhaften biologischen Zwei-Elternfamilie nimmt weiter ab und die Vielfalt von Familie nimmt weiter zu (Peuckert 2012) - Kinder/Jugendliche werden in zunehmendem Maße mit familialen Transitionen (Trennungen, Scheidungen, Stief- /Patchworkfamilien) konfrontiert - Daraus ergibt sich erhöhter Anpassungsbedarf bei Kindern (und Eltern), mit z.t. erheblichen negativen Folgen - aufällige Stieffamilien weisen vermutlich vielfältige Problemlagen auf - Ansatzpunkte sind vergleichbar mit anderen Problemlagen: z.b. von Alleinerziehengen (Scheidungen, Trennungen) - Situation kann an Komplexität zunehmen, durch einen zusätzlichen Elternteil; durch ein weiteres Kind mit daraus sich ergebender Geschwisterkomplexität - Ganzheitlicher Zugang evtl. hilfreich 19
Literatur - Beelmann, W. und Schmidt-Denter, U. (2003): Auswirkungen von Scheidungen. In: Grau, I. und Bierhoff, H.W. (Hrsg.): Sozialpsychologie der Partnerschaft. Göttingen, S. 505-533. - Feldhaus, M. und Huinink, J. (2011): Multiple Elternschaften in Deutschland - eine Analyse zur Vielfalt von Elternschaft in Folgepartnerschaften. In: Schwab, Dieter und Vaskovics, Laszlo A. (Hrsg.): Pluralisierung von Elternschaft und Kindschaft. Sonderheft Zeitschrift für Familienforschung, S. 77-105. - Walper, S. und Schwarz, B. (2002): Was wird aus den Kindern. Weinheim. - Walper, S., & Beckh, K. (2006): Adolsecent s development in high-conflict and separated families: Evidence from a German longitudinal study. In: Clarke-Stewart, A. and Dunn, J. (Ed.): Families Count. Cambridge: University Press, pp.239-273. - 20