Fall 25: Nachtarbeitsverbot

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Fall 25: Nachtarbeitsverbot (Epping, Grundrechte, 6. Aufl. 2014, ISBN 978-3-642-54657-0) 1 Fall 25: Nachtarbeitsverbot (Epping, Grundrechte, 6. Aufl. 2014, S. 398 f.) Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG begründet, soweit die Beschwerdeführerin durch die angegriffenen Akte der öffentlichen Gewalt in einem ihrer Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist. I. Formelle Verfassungsmäßigkeit Fraglich ist zunächst, ob 19 Abs. 1 AZO formell verfassungsgemäß ist. Hier ist zu beachten, dass 19 Abs. 1 AZO zwar vom nachkonstitutionellen Gesetzgeber implizit bestätigt worden ist, aber bereits 1938 auf Grundlage anderer verfassungsrechtlicher Bestimmungen erlassen wurde. Gemäß Art. 125 Nr. 1 i.v.m. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gilt die AZO als Bundesrecht fort, ohne dass es einer Prüfung bedürfte, ob ein Erfordernis nach Art. 72 Abs. 2 GG vorliegt (vgl. BVerfGE 1, 283 [294 f.] [Ladenschlussgesetze]; 23, 113 [122] [Blankettstrafrecht] zu Art. 72 Abs. 2 GG a.f.). Hinweis: Art. 125 Nr. 2 GG ist anders als der Wortlaut vielleicht nahe legt nicht einschlägig. Hier ist an diejenigen Fälle gedacht, in denen in der Zeit nach dem 8.5.1945, aber vor dem 7.9.1949 die Landesgesetzgeber (ein handlungsfähiges Reich gab es damals nicht) Recht aus der Zeit vor 1945 abgeändert haben (vgl. BVerfGE 7, 18 [26 ff.] [Bayerisches Ärztegesetz], 7, 330 [337] [Steuerneuordnungsgesetz Rheinland-Pfalz]). Dies ergibt sich aus dem Zusammenhang mit Art. 123 GG, der auf den Stichtag des 7.9.1949 abstellt (erster Zusammentritt des Bundestages). Fraglich ist, ob vorkonstitutionelles Recht, das als Bundesrecht fort gilt, überhaupt an den formellen Voraussetzungen des Grundgesetzes - Zuständigkeit (Art. 70 ff.), Verfahren (Art. 76 ff.) und Form (Art. 82) - gemessen werden kann. Der vorkonstitutionelle Gesetzgeber konnte sich nicht an die formellen Vorschriften des noch nicht existierenden Grundgesetzes halten; Rechtsnormen aus diesem Grunde für nichtig zu erklären widerspräche dem Ziel der rechtlichen Kontinuität, das Art. 123 Abs. 1 GG festlegt, weswegen auch unstrittig ist, dass Art. 123 Abs. 1 GG nur solches vorkonstitutionelle Recht für nichtig erklärt, das inhaltlich dem Grundgesetz widerspricht. Für die formelle Verfassungsmäßigkeit kann es daher nur auf das zur Zeit der Entstehung der AZO geltende Verfassungsrecht ankommen. Dass 19 Abs. 1 AZO unter Missachtung der seinerzeit geltenden Bestimmungen über Zuständigkeit, Verfahren und Form erlassen worden wäre, ist dem Sachverhalt nicht zu entnehmen. 19 Abs. 1 AZO ist damit formell verfassungskonform. II. Materielle Verfassungsmäßigkeit Die Bestimmung des 19 Abs. 1 AZO wäre dann materiell verfassungswidrig, wenn sie inhaltliche Bestimmungen des Grundgesetzes, namentlich Grundrechte verletzte. In Betracht kommen hier mögliche Verstöße gegen das Gebot der Gleichberechtigung von Mann und Frau (Art. 3 Abs. 2, Abs. 3 S. 1 GG) bzw. den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Hinweis: Einen evtl. Verstoß gegen Art. 12 Abs. 1 GG hat das BVerfG in diesem Fall nicht geprüft, da der Schwerpunkt eindeutig auf der unterschiedlichen Behandlung von Arbeiterinnen und Arbeitern bzw. Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten liegt (vgl. auch Sachverhaltsgestaltung). Der Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG beträfe nur die Berufsausübung und wäre damit nach Maßgabe der Drei-Stufen-Theorie aus vernünftigen Gründen des Gemeinwohls unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit zulässig; dem genügt ein Nachtarbeitsverbot zum Schutz vor gesundheitsschädigender Nachtarbeit ganz offensichtlich. 1. Verstoß gegen den Gleichberechtigungsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 2, Abs. 3 S. 1 GG? Zunächst ist fraglich, ob das Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen gegen das Gebot der Gleichberechtigung von Männern und Frauen aus Art. 3 Abs. 2 bzw. Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG verstößt, wenn die Vorschrift des 19 Abs. 1 AZO zwar (weiblichen) Arbeiterinnen, nicht aber (männlichen) Arbeitern die Arbeit zwischen 20 Uhr und 6 Uhr untersagt. Vergleichspaar sind insoweit die Arbeiterinnen und ihre männlichen Kollegen.

Fall 25: Nachtarbeitsverbot (Epping, Grundrechte, 6. Aufl. 2014, ISBN 978-3-642-54657-0) 2 a) Prüfungsmaßstab: Art. 3 Abs. 2 oder Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG? Gemäß Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG darf das Geschlecht - ebenso wie die anderen dort genannten Merkmale - grundsätzlich nicht als Anknüpfungspunkt für eine rechtliche Ungleichbehandlung herangezogen werden. (...) Soweit es um die Frage geht, ob eine Regelung Frauen wegen ihres Geschlechts zu Unrecht benachteiligt, enthält Art. 3 Abs. 2 GG keine weitergehenden oder spezielleren Anforderungen. Der über das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG hinausreichende Regelungsgehalt von Art. 3 Abs. 2 GG besteht darin, dass er ein Gleichberechtigungsgebot aufstellt und dieses auch auf die gesellschaftliche Wirklichkeit erstreckt. Der Satz Männer und Frauen sind gleichberechtigt will nicht nur Rechtsnormen beseitigen, die Vor- oder Nachteile an Geschlechtsmerkmale anknüpfen, sondern für die Zukunft die Gleichberechtigung der Geschlechter durchsetzen (BVerfGE 85, 191 [206 f.]). Dies wird durch den neu angefügten S. 2 des zweiten Absatzes von Art. 3 GG noch deutlicher gemacht. Da es sich bei 19 Abs. 1 AZO um eine rechtliche Regelung handelt, deren Zulässigkeit zu überprüfen ist, ist Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG Prüfungsmaßstab. b) Rechtlich relevante Ungleichbehandlung aa) Bevorzugung oder Benachteiligung (Ungleichbehandlung)? Arbeiterinnen und Arbeiter müssten durch 19 Abs. 1 AZO zunächst ungleich behandelt werden. Da das Nachtarbeitsverbot lediglich für Arbeiterinnen, nicht aber für Arbeiter gilt, ist dies der Fall. Unerheblich ist dabei, ob sich diese Regelung für die Arbeiterinnen als Schutzvorschrift positiv oder negativ auswirkt: Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG untersagt sowohl die an das Geschlecht anknüpfende Benachteiligung als auch eine hieran anknüpfende Bevorzugung. Eine Ungleichbehandlung gemäß Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG liegt somit vor. bb) Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts? Die Ungleichbehandlung müsste gemäß Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG wegen des Geschlechts erfolgen, d.h. das vorgenannte Merkmal darf in keiner Weise als Anknüpfungspunkt für eine rechtliche Ungleichbehandlung herangezogen werden. Da 19 Abs. 1 AZO explizit nur für (weibliche) Arbeiterinnen gilt, liegt eine Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts vor. c) Rechtfertigung der Ungleichbehandlung Fraglich ist, ob Art. 3 Abs. 2 Satz 1 und Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ein absolutes Differenzierungsverbot begründen, sodass jede gesetzliche Missachtung dieses Verbotes zur Verfassungswidrigkeit der betreffenden Gesetzesvorschrift führte. Das BVerfG versteht trotz des Wortlautes in Art. 3 Abs. 2 S. 1 und Abs. 3 S. 1 GG, der eigentlich auf ein absolutes Differenzierungsverbot schließen lässt, das Diskriminierungsverbot nur als Grundsatz. Nicht jede Anknüpfung an das Geschlecht ist demnach unzulässig. Differenzierende Regelungen können vielmehr zulässig sein, soweit sie zur Lösung von Problemen, die ihrer Natur nach nur entweder bei Männern oder bei Frauen auftreten können, zwingend erforderlich sind (BVerfGE 85, 191 [207] [Nachtarbeitsverbot]); ferner kann in gewissem Rahmen der Gleichstellungsauftrag in Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG Differenzierungen nach dem Geschlecht dort rechtfertigen, wo es um die Beseitigung bestehender Nachteile geht (vgl. zu Art. 3 Abs. 2 GG a.f. BVerfGE 74, 163 [180] [Altersruhegeld]). aa) Zwingende Gründe aus der Natur von Männern und Frauen? Die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen könnte zunächst aus Gründen, die in der Natur von Männern bzw. Frauen liegen, zwingend geboten sein. Für die ursprünglich dem Nachtarbeitsverbot zugrunde liegende Annahme, dass Arbeiterinnen wegen ihrer Konstitution stärker unter Nachtarbeit litten als männliche Arbeitnehmer, haben sich in der arbeitsmedizinischen Forschung keine gesicherten Anhaltspunkte ergeben. Nachtarbeit ist grundsätzlich für jeden Menschen schädlich. (...) Spezifische gesundheitliche Risiken, die auf die weibliche Konstitution zurückgehen, sind nicht mit hinreichender Sicherheit erkennbar (BVerfGE 85, 191 [207 f.]; Hervorhebung nicht im Original). Fraglich ist, ob sich mit der - im Ausgangsfall vom Betriebsrat geführten - Argumentation, Frauen seien üblicherweise durch familiäre Verpflichtungen als Hausfrau und Mutter zusätzlich belastet, weswegen sie zur Nachtzeit besonderen Schutzes bedürften, das auf Arbeiterinnen beschränkte Nachtarbeitsverbot begründen lässt. Das für alle Arbeiterinnen geltende Nachtarbeitsverbot kann darauf aber nicht gestützt werden; denn die zusätzliche Belastung mit

Fall 25: Nachtarbeitsverbot (Epping, Grundrechte, 6. Aufl. 2014, ISBN 978-3-642-54657-0) 3 Hausarbeit und Kinderbetreuung ist kein hinreichend geschlechtsspezifisches Merkmal. Es entspricht zwar dem tradierten Rollenverständnis von Mann und Frau, dass die Frau den Haushalt führt und die Kinder betreut, und es lässt sich auch nicht leugnen, dass diese Rolle ihr sehr häufig auch dann zufällt, wenn sie ebenso wie ihr männlicher Partner berufstätig ist. (...) Ein solcher sozialer Befund reicht (...) zur Rechtfertigung einer geschlechtsbezogenen Ungleichbehandlung nicht aus (BVerfGE 85, 191 [208 f.]). Insbesondere würden auf diese Weise bestehende Rollenverteilungen zwischen den Geschlechtern durch rechtliche Regelungen gleichsam verhärtet, was nach Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG gerade verhindert werden soll. Der Hinweis auf die größere Gefährdung von Frauen auf dem nächtlichen Weg zur Arbeit mag sachlich berechtigt sein. Aber auch dies rechtfertigt es nicht, allen Arbeiterinnen die Nachtarbeit zu verbieten. Der Staat darf sich seiner Aufgabe, Frauen vor tätlichen Angriffen auf öffentlichen Straßen zu schützen, nicht dadurch entziehen, dass er sie durch eine Einschränkung ihrer Berufsfreiheit davon abhält, nachts das Haus zu verlassen (...). Außerdem trifft auch dieser Grund nicht so allgemein für die Gruppe der Arbeiterinnen zu, dass er es rechtfertigen könnte, alle Arbeiterinnen zu benachteiligen (BVerfGE 85, 191 [209]). Auch hierin liegt demnach keine Ungleichbehandlung, die aus geschlechtsspezifischen Gründen zwingend geboten wäre. bb) Rechtfertigung durch kollidierendes Verfassungsrecht? Möglicherweise könnte die Regelung des 19 Abs. 1 AZO der Beseitigung bestehender Nachteile für Frauen und daher der Zielvorgabe des Art. 3 Abs. 1 S. 2 GG dienen. Eine häufigere Heranziehung von Frauen zur Nachtarbeit, der 19 Abs. 1 AZO entgegensteuern sollte, ist nicht ersichtlich. Ferner ist zu bedenken: Das Nachtarbeitsverbot schützt zwar zahlreiche Frauen, die neben Kinderbetreuung und Hausarbeit beruflich tätig sind, vor gesundheitsgefährdender Nachtarbeit. Dieser Schutz ist aber mit erheblichen Nachteilen verbunden: Frauen werden dadurch bei der Stellensuche benachteiligt. Arbeit, die mindestens zeitweise auch nachts geleistet werden muss, können sie nicht annehmen. (...) Darüber hinaus werden Arbeiterinnen daran gehindert, über ihre Arbeitszeit frei zu disponieren. Nachtarbeitszuschläge können sie nicht verdienen. All das kann auch zur Folge haben, dass Frauen weiterhin in größerem Umfang als Männer neben einer Berufsarbeit noch mit Kinderbetreuung und Hausarbeit belastet werden und dass sich damit die überkommene Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern verfestigt. Insofern erschwert das Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen einen Abbau von gesellschaftlichen Nachteilen der Frau (BVerfG E 85, 191 [209 f.] [Nachtarbeitsverbot]). d) Ergebnis Ein auf Arbeiterinnen beschränktes Nachtarbeitsverbot, wie es 19 Abs. 1 AZO bestimmt, verstößt im Verhältnis zu deren männlichen Kollegen gegen Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG. 2. Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, Art. 3 Abs. 1 GG? Das auf Arbeiterinnen beschränkte Nachtarbeitsverbot könnte zudem gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen, da die Regelung nicht für alle Arbeitnehmerinnen, sondern nur für Arbeiterinnen gilt. Vergleichspaar sind hier demnach Arbeiterinnen und weibliche Angestellte. Hinweis: Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG könnte zwar gegenüber dem bereits festgestellten Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 GG grundsätzlich subsidiär sein und die Prüfung des Art. 3 Abs. 1 GG dahinstehen. Da hier jedoch ein anderes Vergleichspaar zur Untersuchung ansteht, greift die Subsidiarität insoweit nicht durch. Der allgemeine Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG untersagt es dem Staat und seinen Organen, wesensmäßig Gleiches ungleich oder wesensmäßig Ungleiches gleich zu behandeln, sofern für eine derartige Differenzierung eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung nicht vorliegt. a) Rechtlich relevante Ungleichbehandlung aa) Ungleichbehandlung Zunächst müsste eine Ungleichbehandlung der Vergleichsgruppen vorliegen. Da nach 19 Abs. 1 AZO lediglich die Beschäftigung von Arbeiterinnen, nicht aber von weiblichen Angestellten zur Nachtzeit verboten ist, ist eine Ungleichbehandlung von Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten gegeben.

Fall 25: Nachtarbeitsverbot (Epping, Grundrechte, 6. Aufl. 2014, ISBN 978-3-642-54657-0) 4 bb) Wesensmäßige Gleichheit Bei Arbeiterinnen und Angestellten müsste es sich um wesensmäßig vergleichbare Personengruppen handeln. Die wesensmäßige Gleichheit lässt sich nur mit Blick auf das Regelungsgebiet feststellen. Zwar wird im Arbeitsrecht herkömmlich rechtlich nach Arbeitern und Angestellten differenziert, so dass man annehmen könnte, die beiden Arbeitnehmergruppen seien bereits von vornherein nicht miteinander vergleichbar. Allerdings haben sich im Zuge der fortschreitenden Rationalisierung und Automatisierung der Produktion die Tätigkeiten von Arbeitern und Angestellten einander weitgehend angeglichen, so dass Ungleichbehandlungen dieser Personengruppen durch den Staat der Rechtfertigung bedürfen. Eine Ungleichbehandlung wesensmäßig gleicher Personengruppen liegt hier demnach vor. b) Rechtfertigung der Ungleichbehandlung Diese Ungleichbehandlung könnte allerdings verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Fraglich ist zunächst, welcher Prüfungsmaßstab anzuwenden ist. Das BVerfG zieht bei einer Überprüfung von gleichheitsrechtlichen Fallgestaltungen einen differenzierten Maßstab heran: Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die von einer bloßen Willkürkontrolle bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen. Es gilt ein stufenloser am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen. Vorzunehmen ist mit anderen Worten eine Verhältnismäßigkeitsprüfung, in deren Rahmen bei der Prüfung der Angemessenheit die konkrete Intensität der Ungleichbehandlung zu berücksichtigen ist. Vorliegend ist es bereits fraglich, ob die gesetzliche Unterscheidung zwischen Arbeiterinnen und (weiblichen) Angestellten einem legitimen Zweck dient, zu dessen Erreichen sie geeignet und erforderlich ist. Dann müssten nämlich überhaupt Unterschiede hinsichtlich der Häufigkeit der Nachtarbeit sowie der körperlichen Belastung bestehen, denen die gesetzliche Regelung Rechnung tragen könnte. Hierfür fehlen belastbare Anhaltspunkte. Jedenfalls fehlt es an der Angemessenheit. Die Differenzierung müsste in Anbetracht des Differenzierungsziels angemessen sein. Fraglich ist zunächst, welche Bindungen des Gesetzgebers bestehen. Ob sich die Angemessenheitsprüfung auf eine bloße Willkürkontrolle beschränkt oder aber eine zunehmend strengere Abwägung erfordert, ergibt sich aus einer typisierten Betrachtung der Intensität der Ungleichbehandlung. Intensiv und damit in besonderer Weise rechtfertigungsbedürftig sind Ungleichbehandlungen immer dann, wenn sie Personengruppen nach bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen unterschiedlich behandeln. Die Regelung des 622 BGB knüpft an den Status des Beschäftigten an. Der Status ist ein persönliches Merkmal, das der Einzelne kaum ändern kann. Bereits mit der Berufswahl ist in der Regel vorgezeichnet, ob sich der weitere Berufsweg als Arbeiter oder Angestellter vollziehen wird. Die Arbeiterinnen können dementsprechend ihre Position kaum verändern. Auch werden Arbeiterinnen von solchen Arbeitsplätzen ausgeschlossen, auf denen typischerweise häufig Nachtarbeit anfällt, sodass sie zugleich in ihrer Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) beeinträchtigt werden. Damit liegt eine intensive Ungleichbehandlung vor, die eine strenge Abwägung erforderlich macht. Als Gründe für die Ungleichbehandlung kommen insbesondere die grundsätzlichen Unterschiede zwischen den betroffenen Personengruppen in Betracht. Gerechtfertigt sein könnte die Ungleichbehandlung der beiden Gruppen von Arbeitnehmerinnen nur, wenn weibliche Angestellte durch Nachtarbeit weniger belastet würden als Arbeiterinnen. Dafür gibt es aber keinen Beleg. Die einschlägigen arbeitsmedizinischen Untersuchungen deuten vielmehr darauf hin, dass die gesundheitsschädlichen Folgen der Nachtarbeit beide Gruppen in gleicher Weise treffen (...). Ob das mit einer Angleichung der Arbeitsinhalte von Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten im Zuge der technischen Entwicklung zusammenhängt oder ob die Arbeitsinhalte von vornherein keinen Einfluss auf die schädlichen Folgen von Nachtarbeit hatten, kann auf sich beruhen. Jedenfalls ist ein unterschiedliches Schutzbedürfnis von Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten, das allein eine differenzierende Regelung der Nachtarbeit vor dem allgemeinen Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG rechtfertigen könnte, nicht zu erkennen (BVerfGE 85, 191 [210 f.] [Nachtarbeitsverbot]). Die Ungleichbehandlung von Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten könnte schließlich noch gerechtfertigt sein, wenn beide Gruppen von Arbeitnehmerinnen unterschiedlich stark zu Nachtarbeit herangezogen würden und Arbeiterinnen daher eines verstärkten Schutzes bedürften. Es kann jedoch keine Rede davon sein, dass die Gruppe der weiblichen Angestellten typischerweise von Nachtarbeit

Fall 25: Nachtarbeitsverbot (Epping, Grundrechte, 6. Aufl. 2014, ISBN 978-3-642-54657-0) 5 verschont würde. Jedenfalls handelt es sich bei den weiblichen Angestellten nicht um eine Gruppe, die in so geringem Umfang von Nachtarbeit betroffen wäre, dass sie vom Gesetzgeber im Rahmen zulässiger Typisierung vernachlässigt werden konnte (BVerfGE 85, 191 [211] [Nachtarbeitsverbot]). Die Bestimmung des 19 Abs. 1 AZO behandelt demnach die wesensmäßig vergleichbaren Gruppen der Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten ohne sachlichen Grund ungleich, so dass der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG insoweit verletzt ist. Ergebnis: 19 Abs. 1 AZO verstößt gegen Art. 3 Abs. 3 S. 1 sowie gegen Art. 3 Abs. 1 GG und ist daher verfassungswidrig. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist somit auch begründet. Das Bundesverfassungsgericht wird 19 Abs. 1 AZO gemäß 78 S. 1 i.v.m. 82 Abs. 1 BVerfGG für nichtig erklären.