Neue Qualitätsleitlinien für versicherungspsychiatrische Gutachten

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Transkript:

Neue Qualitätsleitlinien für versicherungspsychiatrische Gutachten Die Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie SGPP hat am 14.09.2016 die 3. Auflage ihrer Qualitätsleitlinien veröffentlicht (Schweizerische Zeitschrift für Sozialversicherung und berufliche Vorsorge SZS, 05/2016, S. 435 ff.). Die 1. Auflage aus dem Jahr 2004 ist noch im Archiv der Schweizerischen Ärztezeitung abrufbar (www.saez.ch, Nr. 20/2004). Die 2. Auflage vom Februar 2012 findet sich auf der Webseite der Interessengemeinschaft Versicherungsmedizin Schweiz SIM (www.swiss-insurance-medicine.ch, letzter Abruf: 12.10.2016). In ihrem Aufbau folgen die neuen Qualitätsleitlinien der Systematik der 2. Auflage 2012, enthalten aber zusätzlich 7 Anhänge und ein ausführliches Glossar mit Begriffserklärungen. Diese neuen Anhänge wurden als «Instrumente, Hilfestellungen, Systematiken, Empfehlungen» zur Unterstützung der Arbeit der psychiatrischen Gutachter hinzugefügt (S. 465). Die SZS hat mit den neuen Leitlinien noch drei juristische und einen medizinischen Artikel publiziert, die sich kritisch damit auseinandersetzen (S. 494 ff.). Im Folgenden möchten wir Ihnen einige Anmerkungen zu diesen neuen Leitlinien weitergeben: Ziel der Leitlinien ist die Vereinheitlichung der Methodik im Begutachtungsprozess sowie der Form und des Inhalts von psychiatrischen Gutachten im versicherungsmedizinischen Kontext auf der Basis wissenschaftlicher, evidenzbasierter bzw. von Experten im Konsens festgelegter Kriterien (SZS, S. 436). Die Verfolgung dieses Ziels ist unseres Erachtens unabdingbar für eine möglichst gerechte gutachterliche Beurteilung im Einzelfall.

Das psychiatrische Gutachten hat im Kontext des Versicherungsrechts eine Brückenfunktion zwischen Rechtsanwendung und Medizin (S. 437). Eigentlich müsste man die Reihenfolge umkehren, denn das Gutachten dient - als Expertise in einem Teilgebiet der Sachverhaltsermittlung (medizinischer Sachverhalt) - der rechtlichen Beurteilung über die Leistungspflicht der Versicherung. Somit ist das Gutachten, zusammen mit anderen Elementen, dem Rechtsentscheid vorgeschaltet. Zum Hintergrund der Leitlinien wird erwähnt, diese orientierten sich für die zentral wichtige Beurteilung der Leistungsfähigkeit an der ICF- Klassifikation sowie für die Diagnostik an der ICD- und an der DSM- Klassifikation. Die entsprechenden Aussagen eines Gutachtens müssen sich somit an diesen internationalen Klassifikationen für gesundheitliche Beeinträchtigungen ausrichten (S. 438). ICF- und DSM-Kriterien waren bisher in Gutachten gegenüber der ICD wenig präsent. Beim kritischen Studium eines Gutachtens sollten daher auch diese beiden Klassifikationen und deren Kriterien beachtet werden (vgl. Informationen und Links dazu in de.wikipedia.org). Die psychiatrischen Begutachtungs-Leitlinien sollen fortlaufend mit den von den somatischen (körperliche Leiden betreffend) Fachgesellschaften erarbeiteten Leitlinien koordiniert werden (S. 438). Dabei geht es um formelle Fragen, nicht z.b. um das Zusammenwirken von körperlichen und psychischen Leiden. Der körperliche Aspekt muss auch im psychiatrischen Gutachten berücksichtigt werden (vgl. S. 450), kann jedoch nur in einem mehrdisziplinären Gutachten genau erfasst und gewichtet werden (vgl. S. 458). Hauptteil der neuen Leitlinien bilden, wie bereits bei der 2. Auflage der Aufbau des psychiatrischen Gutachtens (S. 442 ff.) mit den darauf Bezug nehmenden Erläuterungen zum Gutachtenprozess (S. 448 ff.). 2

Der Aufbau bleibt sich gegenüber 2012 gleich und enthält folgende Abschnitte: 1. Ausgangslage/Formelles 2. Aktenauszug 3. Untersuchung/Exploration 4. Befund 5. Auskünfte von Drittpersonen 6. Beurteilung 7. Fragenbeantwortung 8. Beilagen An mehreren Stellen wird im Aufbau auf die entsprechenden neuen Anhänge verwiesen. In den Erläuterungen wird auf die obigen Abschnitte des Aufbaus (ausser 7 und 8) näher eingegangen (S. 448 ff.): Zu Abschn. 1 wird festgehalten, dass somatische Befunde in der psychiatrischen Beurteilung in jedem Fall berücksichtigt werden müssen (s. oben). Zu Abschn. 2 wird erwähnt, dass die Erstellung des Aktenauszugs eine zentrale intellektuelle Leistung des Gutachters darstellt und von ihm selber, also nicht z.b. von seiner Sekretärin, zu verfassen ist (S. 450). Zu Abschn. 3 wird die Wichtigkeit der Reflexion von Wechselwirkungen zwischen Gutachter und Explorand betont (Übertragung/Gegenübertragung). In der 2. Auflage fehlte dieser Hinweis, während er in der 1. Auflage noch aufgeführt war. Nicht hier unter Ziff. 5, sondern weiter unten unter Ziff. 6.3 wird festgehalten, dass bei massiv anders lautender Beurteilung gegenüber dem behandelnden Arzt eine fremdanamnestische Auskunft bei diesem empfohlen wird. Zu Abschn. 4 ist neu ein längerer Abschnitt mit den Themen Erhebung des Psychostatus und Diagnostische Methoden bei der Begutachtung aufgenommen worden, mit Verweisen auf die Anhänge (S. 454 f.). 3

Hier wird erwähnt, bei der Diagnostik sei der Unterschied zwischen Symptom-, Syndrom- und Diagnoseebene zu beachten (S. 454). Für die allgemeine Befunderhebung wird explizit die Verwendung des klassischen AMDP-Systems empfohlen (vgl. www.amdp.de) (S. 454). Bei der Zusatzdiagnostik wurde der Abschnitt Beschwerdevalidierung gegenüber der 2. Auflage weggelassen (vgl. die kritische Studie für das Bundesamt für Sozialversicherungen, FoP-IV 04/2008). Es wird darauf hingewiesen, dass die Aussagekraft psychodiagnostischer Instrumente in Bezug auf mögliche Verfälschungen oder Verzerrungen besonders gut überprüft werden muss (S. 457). Das Thema Validierung wird im Pt. 6. Beurteilung sowie im Anhang 4 ( Beurteilung von Konsistenz, Validität und Plausibilität ) ausführlich abgehandelt (s. unten). Zu Abschn. 5 wird auf die neuen Anhänge verwiesen, insbesondere auch auf Anhang 4 betreffend die Konsistenzfrage, die somit auch hier an Bedeutung gewinnt. Abschn. 6 wird als Kernstück des Gutachtens bezeichnet (S. 459). Gegenüber der 2. Auflage 2012 nehmen die Ausführungen zu diesem Abschnitt deutlich mehr Raum ein (S. 459-464). Zusätzlich verweisen sie an zahlreichen Stellen auf die neuen Anhänge. Prominent wird dabei das Thema der Authentizität und Konsistenz der Angaben und des Verhaltens der versicherten Person abgehandelt. So ist Pt. 6.2 gegenüber der 2. Auflage neu. Er lautet: Beurteilung von Konsistenz, Validität und Plausibilität und verweist auf den entsprechenden Anhang 4. Gegenüber 2012 wird die Verschiebung des Fokus auf das Feststellen von Unstimmigkeiten daher nochmals stärker und dadurch der Druck auf die Versicherten weiter erhöht. In diesem Zusammenhang zu erwähnen ist Anhang 6 der Leitlinien. Dieser enthält eine Kurzversion des neuen zusätzlichen Fragenkatalogs der IV für psychosomatischen Leiden, der aber in der Praxis von der IV praktisch bei allen Begutachtungen eingesetzt wird. Der Fragenkatalog enthält eine Rubrik «Konsistenz (Gesichtspunkte des Verhaltens)». Wer nicht in allen Lebensbereichen gleichmässig eingeschränkt erscheint und nicht stets einen sichtbaren Leidensdruck gezeigt hat, fällt bei diesem 4

Kriterium durch. Zu erwähnen ist, dass Anhang 7 der Leitlinien wichtige Aussagen in Bezug auf psychische Leiden nach einem Unfall enthalten. Diese sind im Blick auf Leistungen der Unfallversicherung und - beispielsweise bei einem Verkehrsunfall - der Haftpflichtversicherung massgebend. Zu guter Letzt: Wer sich durch die zahlreichen Seiten der neuen Leitlinien kämpft und sich bei der trockenen Lektüre nach Aufheiterung sehnt, wird spätestens im letzten der vier Artikel fündig. Dort macht Dr. iur. Ueli Kieser einen Abstecher in den Reitsport und veranschaulicht, dass Versicherungen und Gerichte sich im Sinne eines «Steigbügels» auf medizinische Gutachten stützen, wobei sie nicht etwa nur den «leichten Reitstil» anwenden wollen 5