Medizin Differentialdiagnostik von Anämien Diagnostik im Dialog Ausgabe 52 04/2017 Differentialdiagnostik von Anämien Bedeutung der Erythrozytenmorphologie Dr. C. Thomas Nebe, Hämatologie-Labor Mannheim Gewidmet Prof. Dr. Hermann Heimpel*, der am 14. Oktober 2014 verstorben ist. Die Anämie ist der häufigste pathologische Befund eines Blutbildes, das auch bereits eine schnelle differentialdiagnostische Orientierung erlaubt (s. u.). Da 80 % der Anämien einen Eisenmangel als Ursache haben, folgt die Ferritinbestimmung aus dem Serum als zweiter Schritt. Allerdings liegen viele Werte trotz Eisenmangel im Normbereich, weil Ferritin als Akut-Phase-Protein bei Entzündungen ansteigt. Die Suche nach einer ursächlichen Blutungsquelle bleibt z. T. ergebnislos. chen vorliegen. Ein Grund für das inadäquate diagnostische Vorgehen ist die Vergütungssituation in Deutschland. Sie kann die medizinisch wertvolle und eigentlich unverzichtbare Analyse der Erythrozytenmorphologie für streng wirtschaftlich ausgerichtete Labore unattraktiv machen. Der Beitrag beleuchtet das breite Potenzial der Erythrozytenmorphologie und welche qualitativen Anforderungen zu erfüllen sind. Im Hinblick auf das ungünstige Verhältnis von Aufwand/Kosten einerseits und Vergütung andererseits sind neue Systeme mit leicht verfügbarer und für die Beurteilung der Erythrozytenmorphologie qualitativ ausreichender, computergestützter Bilderkennung hochinteressant. Das Blutbild, also die Zählung und Differenzierung aller zellulären Bestandteile des peripheren Blutes, ist die häufigste Laboruntersuchung überhaupt und die Anämie ihr häufigstes pathologisches Ergebnis. Dennoch verläuft die erforderliche Stufendiagnostik zur Anämieabklärung oft unbefriedigend. Nicht immer werden die sinnvollsten Parameter angefordert oder kompetent beurteilt. Als Folge davon werden beispielsweise angeborene Anämien teilweise erst in der zweiten Lebenshälfte diagnostiziert und Erythrozytenfragmentationssyndrome (intravasaler Erythrozytenabbau) gar nicht erkannt. Oder Ärzte erklären die Anämie monokausal, obwohl in vielen Fällen mindestens zwei Ursafotolia/mezegliz Schneller Überblick im Blutbild Zur ersten, groben Differentialdiagnostik der Anämien aus dem Blutbild stehen die Erythrozytenindices nach Wintrobe zur Verfügung O MCV (mittleres Erythrozytenvolumen) O MCH (mittlerer Hämoglobingehalt der Erythrozyten) O und meist auch die Retikulozyten wenn sie denn angefordert würden. Bei isoliertem und ausgeprägtem Eisenmangel sind die Erythrozyten hypochrom (MCH) und mikrozytär (MCV). Makrozytäre Erythrozyten entstehen bei erhöhter Retikulozytenzahl, Folsäuremangel und (selten) einem Vitamin B12-Mangel bzw. einem Myelodysplastischen Syndrom. Die entzündungsbedingte Anämie im Rahmen chronischer Erkrankungen wird in der 4
Diagnostik im Dialog Ausgabe 52 04/2017 Differentialdiagnostik von Anämien Medizin Praxis meist über die Neutrophilenzahl und das CRP beurteilt, obwohl beide Parameter z. B. bei viralen oder C. pneumoniae-infektionen und bei Tumoren kaum ansteigen. Die unspezifische klassische Blutsenkung (BSG) aus Citratblut reagiert, z. B. bei Autoimmunerkrankungen, sensitiver und kann einen Entzündungsprozess besser als das CRP ausschließen. Dennoch steht die BSG als Labormethode oft nicht mehr zur Verfügung bzw. wird aus einem organisatorischen Pragmatismus heraus durch eine schlecht validierte Pseudomethode aus EDTA-Blut ersetzt. Das morphologische Korrelat der BSG ist die im Ausstrich sichtbare Geldrollenbildung der Erythrozyten. Besteht der Verdacht auf Altersanämie, z. B. bedingt durch einen Mangel am Erythrozyten-Wachstumsfaktor Erythropoietin (EPO) bei chronischer Niereninsuffizienz, rückt oft die verminderte glomeruläre Filtrationsrate (GFR) in den Fokus. Sie wird mit einer schlechten Kreatininmethode (Jaffé- Methode) berechnet, anstatt auf verminderten EPO-Spiegel zu prüfen (Achtung: EPO im Referenzbereich, d. h. fehlender Anstieg bei Anämie, wird häufig als Normalbefund fehlinterpretiert!). Bei der Fragestellung "Altersanämie" kann eine normale Erythrozytenmorphologie bereits wichtige Informationen liefern: bei reinem EPO-Mangel als Anämieursache ist die Morphologie nicht beeinträchtigt. Stiefkind Erythrozytenmorphologie Weiterführende Ursachenklärungen scheitern oft an der Vergütungssituation: Die Untersuchung der Erythrozyten mit Erstellung und Färbung eines Blutausstrichs inkl. manueller Differenzierung wird in Deutschland als Kassenleistungen nur mit 0,4 Euro vergütet (im Vergleich zu ca. 30 Euro im europäischen Ausland). Daraus hat sich eine Vermeidungsstrategie im Labor entwickelt, da der Aufwand hoch ist und speziell geschultes und damit teures Personal erfordert. In den letzten Jahren hat sich zwar ein Markt für automatisierte Mikroskope mit compufotolia/phonlamaiphoto tergestützter Bildauswertung entwickelt, 1 deren Fokus liegt jedoch auf der Bewertung der Leukozyten. Die Beurteilung der Erythrozytenmorphologie beschränkt sich hier auf die Mikro- und Makrozytose was aber bereits gängige Hämatologieautomaten mit dem MCV-Wert liefern. Mehr als diese grobe Unterscheidung können deren schwache 10er-Objektive auch nicht leisten, denn die Erythrozyten liefern hierbei nur ein unscharfes digitales Bild. Es müsste sich daher allein für die Erythrozytenmorphologie weiterhin eine manuelle Beurteilung des Blutausstrichs anschließen, was wirtschaftlich unattraktiv ist und deshalb häufig unterbleibt. Die Versorgungsrealität in Deutschland sieht folglich so aus, dass auch in akkreditierten, überregionalen Großlaboren mit etwa 10 000 Blutbildern am Tag, großen Automationsstraßen und automatisiertem Mikroskop bzw. Bilderkennungssystem ein konventionelles Mikroskop für die Beurteilung der Erythrozytenmorphologie kaum noch genutzt wird bzw. gar nicht mehr vorhanden ist. Die Zahl der morphologischen Anforderungen wird durch die untere Grenze für den Hämoglobin (Hb)-Wert bestimmt, die sich an multizentrischen Studien zu Referenzbereichen an unterschiedlichen Geräten orientieren sollte. 2 Eine längst überfällige Referenzbereichsstudie an Personen > 60 Jahre wird in Kürze von Mitgliedern des Arbeitskreises "Labor" der DGHO** publiziert. Frustriert ob der Menge der Pathophysiologie von Anämien O Bildungsstörung von Erythrozyten/Hämoglobin O gesteigerter Erythrozytenabbau O Erythrozytenverlust O Verteilungsstörung von Erythrozyten Patienten beginnt die Anämieabklärung allerdings oft erst dann, wenn das Hb bereits 1 g/dl (10 g/l) unterhalb des jeweiligen geschlechtsspezifischen Normbereiches liegt. In Anbetracht dieser unbefriedigenden Stufendiagnostik verwundert es nicht, dass angeborene Anämien z. T. erst in der zweiten Lebenshälfte diagnostiziert oder Erythrozytenfragmentationssyndrome gar nicht erkannt werden. Erfahrungsgemäß versuchen Anforderer darüber hinaus, eine einzige Ursache der Anämie zu ermitteln, obwohl bei mehr als 20 % der Anämien (je nach Patientenkollektiv) mindestens zwei Ursachen vorliegen. Es würde also viel Sinn ergeben, zum einen bei der sehr preisgünstigen Basisdiagnostik breiter vorzugehen, um das Aufdecken der multifaktoriellen Ursachen zu erleichtern 3 und zum zweiten die Erythrozytenmorphologie mit einzubeziehen, damit weniger Patienten durch das diagnostische Sieb fallen. Qualität entscheidend Für die Differentialdiagnostik der Anämien spielt die Erythrozytenmorphologie eine nicht unerhebliche Rolle. Deshalb muss die Stufendiagnostik dafür Sorge tragen, dass mindestens einmal im Prozess der Anämieabklärung eine kompetente Person einen manuellen Blutausstrich begutachtet. Dabei ist die Anforderung an den Begutachter bei digitaler Bildverarbeitung durch die begrenzte Bildqualität höher als bei der 5
Medizin Differentialdiagnostik von Anämien Diagnostik im Dialog Ausgabe 52 04/2017 Die Analyse der Erythrozytenmorphologie ist unverzichtbar für die Differentialdiagnose von Anämien Normalbefund zum Vergleich mit den nachfolgenden Abweichungen. Man sucht sich einen ruhenden, sog. Standard-Lymphozyten (blau) zum Größenvergleich, dessen Zellkern mit 8 µm eine Spur größer ist im Vergleich zum Erythrozyten (7 µm). Mikrozytäre Anämie Die Erythrozyten sind deutlich kleiner als die Lymphozyten. Makrozytäre Anämie: Die Makrozyten neigen teilweise zu ovaler Form. Sie besitzen im Gegensatz zu den physiologischerweise größeren Retikulozyten eine normale Anfärbung (keine Polychromasie). Hier bei einem Patienten mit Myelodysplastischem Syndrom (MDS) kommen neben der Anisopoikilozytose Störungen der Hämoglobinverteilung hinzu. Fragmentozyten bei TTP als einer der Ursachen eines Erythrozytenfragmentationssyndroms. Fragmentozyten sind oft kleiner, aber immer bikonkav. Die Gabe von Erythrozytenkonzentraten ist gut zu erkennen (dunklere Zellen ohne zentrale Delle), die bei der Fragmentozytenzählung bezogen auf alle Erythrozyten zu einer Verdünnung führen würden. Dies erschwert die Diagnose bzw. verfälscht die Verlaufsbeurteilung. Gleichzeitiges Vorkommen von Tränenformen und dem Artefakt von Echinozyten (Stechapfelformen) bei einem Patienten mit Myelofibrose. Die Unterscheidung von Akanthozyten und Echinozyten ist nicht immer einfach. Bei Stechäpfeln sind meist alle Erythrozyten betroffen, während Akanthozyten durch die fehlende Filterfunktion der Milz einen mehr oder weniger großen Anteil darstellen. Bereits ein geringerer Anteil an Tränenformen ist diagnostisch wegweisend. Schwere Anisopoikilozytose und Polychromasie hier bei hämolytischer Anämie. Im Gegensatz zur Sphärozytose haben die Kugelzellen eine unterschiedliche Größe. Starke Vermehrung von Targetzellen bei einem Patienten mit beta-thalassämie. Die Patienten weisen oft eine geringere Anisopoikilozytose auf als in diesem Fall von einer Thalassämia major. (Bild: Nebe, Mannheim) Bei einer Thalassämie können neben den Targetzellen auch fischförmige Erythrozyten entstehen. Howell-Jolly-Körperchen und Akanthozyten sowie Targetzellen nach Splenektomie bei Thalassämia major. Die initiale Thrombozytose nach Splenektomie normalisiert sich meist wieder. Mikrosphärozyten (Kugelzellen) bei Sphärozytose, die in ca. 90 % vererbt ist. Durch die fehlende zentrale Eindellung ist das Volumen kaum geringer trotz des geringeren Durchmessers, d. h. der MCV- Wert ist meist normal. Die hereditäre Pyropoikilozytose entsteht wie die Sphärozytose aufgrund einer Spektrinmutation, aber die Erythrozyten weisen ein abnorm geringes Volumen (MCV-Wert) auf. (Bild: MJ King, Bristol) 6
Diagnostik im Dialog Ausgabe 52 04/2017 Differentialdiagnostik von Anämien Medizin Stomatozyten: Die hereditäre Stomatozytose zeigt eine Schlitzform der zentralen Eindellung als solitäre Abweichung von der normalen Erythrozytenmorphologie bei mehr als 20 % der Erythrozyten. (Bild: HemoSurf) Elliptozyten: Die hereditäre Elliptozytose beruht auf einem genetischen Defekt des Membranproteins Spektrin. 30 % Elliptozyten im Ausstrich beweisen eine Elliptozytose. Das Ausmaß der Hämolyse hängt vom Ort der Mutation im Spektrin-Gen ab. Immunhämolytische Anämie mit Sphärozyten und Autoantikörpern gegen Erythrozyten vom Wärmetyp mit 11 % Retikulozyten bei M. Waldenström (Immunozytom). Im Gegensatz zur Geldrollenbildung beim Plasmozytom kommt es zu einer traubenförmigen Aneinanderlagerung der Erythrozyten. (Bild: MK King, Bristol) Das Phänomen der Geldrollenbildung der Erythrozyten wird durch Aufhebung der negativen Zelloberflächenladung durch Immunglobuline erreicht. Ist der Hintergrund des Objektträgers bläulich, so liegt das am hohen Proteingehalt beim Myelom. Nach Inkubation unter Luftabschluss mit dem Sauerstoff-verzehrenden Natriumdithionit zeigt sich eindrucksvoll im Phasenkontrast das Sichelzell-Phänomen bei der Sichelzellkrankheit. Infektion mit Pl. falciparum. Gut erkennbar ist der Doppelkern des Trophozoiten. Im dicken Tropfen bei dem gleichen Patienten ist die Anreicherung erkennbar, aber die Differenzierung der Malariaformen ist etwas schwieriger. Infektion mit Pl. vivax bei einem türkischen Kind, welches unter V.a. akute Leukämie knochenmarkpunktiert wurde. Form und Größe von Trophozoit und Erythrozyt sind nur sekundäre Hilfsmerkmale bei der Differenzierung der Plasmodien. Schizont einer Pl. vivax-infektion. Die Zahl der Merozoiten erlaubt eine Differenzierung von Pl. ovale. direkten Beurteilung im konventionellen Mikroskop mit seinem höheren Auflösungsvermögen und der besseren Farbtiefe. Grundvoraussetzung für eine valide Differentialdiagnostik ist ein optimal hergestellter Blutausstrich, was Ausstrichtechnik und Färbung betrifft. Der Ausstrich muss gleichmäßig und dünn sein. Dies wird durch einen Ausstreicher nach Undritz aus Glas mit geschliffener Kante sichergestellt, der schmäler als der Objektträger ist und eine Beurteilung der Randbereiche des Ausstrichs erlaubt, wo eine höhere Aufenthaltswahrscheinlichkeit für große Zellen und Thrombozytenaggregate besteht. Mechanische Ausstreicher (z. B. das Gerät Hemaprep, Fa. Sysmex, Norderstedt) erleichtern diesen Prozessschritt. Das Färbeprotokoll der über 100 Jahre alten May-Grünwald-Giemsa (MGG)-Färbung nach Pappenheim wurde kürzlich in seiner optimierten Form ebenfalls vom Arbeitskreis "Labor" der DGHO publiziert. 4 Breites diagnostisches Potenzial Systematisch betrachtet orientiert sich die Beurteilung der Erythrozytenmorphologie formal an folgenden Kriterien: O Größe (Mikro-, Makro und Anisozytose) O Form (Poikilozytose mit Akanthozyten, Tränenformen, Fragmentozyten, etc.) O Anfärbbarkeit der Erythrozyten (Hypo-, Hyper-, Polychromasie) O Einschlüsse in den Erythrozyten (Pappenheimer-, Howell-Jolly-Körperchen, basophile Tüpfelung, Parasiten, etc.). 7
Medizin Differentialdiagnostik von Anämien Diagnostik im Dialog Ausgabe 52 04/2017 Wegen der unbefriedigenden Stufendiagnostik werden Anämien oft erst im Erwachsenenalter und nicht mit all ihren Ursachen erkannt. Vor allem Formveränderungen und Einschlüsse (wie beispielsweise bei der Malaria) werden von den gängigen Automaten, seien es Durchflussgeräte oder Bildanalysesysteme, nicht erkannt. Allerdings sind sie oft wegweisend für die Diagnose. fotolia/ thodonal Die folgenden Beispiele, anschaulich unterstützt durch Bildtafeln (S. 6/7), beschreiben den medizinischen Wert einer validen Begutachtung der Erythrozytenmorphologie. O Eine Anisozytose (Glossar) ist oft mit einer Poikilozytose (Glossar) verknüpft, weshalb Hermann Heimpel den Begriff der Ansiopoikilozytose geprägt hat, welcher beides zusammenfasst. Sie ist Zeichen einer Bildungsstörung der Erythrozyten im Knochenmark. Liegen Tränenformen vor, lässt sich die Ursache weiter in Richtung extramedullärer Blutbildung spezifizieren. O Fragmentozyten (Glossar) kommen in einem physiologischen Blutbild nicht vor. Treten sie in Reinkultur auf, sind sie wegweisend für Erythrozytenfragmentationssyndrome als Ausdruck einer Mikrozirkulationsstörung, z. B. beim HELLP-Syndrom, bei M. Moschcowitz (thrombotisch-thrombozytopenische Purpura), EHEC-Infektion oder Verbrennungen. Finden sie sich dagegen untergeordnet, zusammen mit Akanthozyten (Glossar) und Tränenformen, wie bei der Primären Myelofibrose (PMF), so gelten diese spezifischen Krankheitsassoziationen nicht. Die Frage nach dem Vorkommen von Fragmentozyten lässt sich momentan nur mikroskopisch klären, denn Geräte warnen zwar mit einem geflaggten Ergebnis (hohe Rate an falsch positiven Hinweisen!), können Fragmentozyten aber nicht spezifisch erkennen. Die Grenze für das Vorliegen eines Erythrozytenfragmentationssyndroms liegt bei 0,5 % (5 Promille), deshalb müssen Fragmentozyten analog zu Retikulozyten auf eintausend Erythrozyten gezählt werden. Ihre abfallende Zahl zeigt den Erfolg von Therapiemaßnahmen an. (Achtung: Bei Vorliegen von Fragmentozyten geben die meisten Hämatologieautomaten die Thrombozytenzahl falsch zu hoch an, was das Ausmaß einer Thrombozytopenie erheblich verschleiert). In geringerer Zahl kommen Fragmentozyten bei anderen Mikrozirkulationsstörungen vor, z. B. bei Niereninsuffizienz oder Tumoren, insbesondere dem Pankreas-Ca. Der Arbeitskreis "Labor" hat zum Thema "Fragmentozyten" ein Übungsblatt herausgebracht. 6 O Tränenformen (tear drops, Drepanozyten) sind ein starker Hinweis auf eine extramedulläre Blutbildung bei Myelofibrose, sei sie idiopathisch (PMF) oder durch Haar- bzw. Tumorzellen bedingt. Die max. Ausprägung von Tränenformen beträgt 20 %, wenige pro Gesichtsfeld sind diagnostisch wegweisend. O Mikrosphärozyten (Glossar) deuten, sofern sie isoliert vorkommen, auf eine Sphärozytose (genetisch bedingte, hämolytische Anämie; Kugelzellanämie) hin. Oft sind nur sehr wenige pro Gesichtsfeld vorhanden. O Die Kombination von Mikrosphärozyten mit Makrosphärozyten (Glossar) tritt bei immunhämolytischen Anämien auf und ist nicht mehr spezifisch für die Sphärozytose. Durch die gleichzeitige Erhöhung der Retikulozyten (Glossar) kommt es zur Polychromasie (Anfärbbarkeit der Erythrozyten mit verschiedenen Farbstoffen). Wurden bereits vor der Diagnostik Erythrozytenkonzentrate verabreicht, verlieren Kugelzellen gänzlich ihre Spezifität, da den aufbereiteten Erythrozyten ebenfalls die zentrale Delle fehlt. O Stomatozyten und Elliptozyten (Glossar) können auf angeborene Erythrozytenanomalien hinweisen, wenn ihr Anteil über 20 % bzw. 30 % ansteigt und die Formveränderung relativ isoliert bei ansonsten blander Morphologie auftritt. O Targetzellen (Glossar) in großer Zahl sind eng mit der Thalassämie verknüpft. Da es sich um eine angeborene Anämie handelt, ist die Hämatopoese adaptiert, daher besteht bei den milderen Formen meist eine anderweitig blande Erythrozytenmorphologie. O Howell-Jolly-Körperchen (Glossar) sind in großer Zahl Zeichen einer evtl. auch funktionellen Asplenie (Milzlosigkeit), bei geringerem Vorkommen Anhalt für eine Milzüberlastung. O Erythroblasten (Glossar) kommen bei Neugeborenen regelhaft vor, da bei der extramedullären Blutbildung die Knochenmark-Blut-Schranke fehlt. Erythroblasten im späteren Leben sind pathologisch und treten v. a. bei Blutbildung in der Milz auf. Bei Intensivpatienten ist der Verlust dieser Schrankenfunktion prognostisch ungünstig. Die Erkennung von Erythroblasten durch Hämatologieautomaten ist oft unbefriedigend. O Sichelzellen (Glossar) sind erst im Phasenkontrast nach Inkubation unter Sauerstoffabschluss gut zu erkennen und nur bei homozygot Erkrankten im normalen Blutausstrich zweifelsfrei zu sehen. Da jedoch die HbA2-Analytik (Hb aus zwei 8
Diagnostik im Dialog Ausgabe 52 04/2017 Differentialdiagnostik von Anämien Medizin alpha- und zwei delta-ketten) zur Thalassämiediagnostik heute zumeist durch eine HPLC-Methode bestimmt wird, ist dort auch das Sichelzell-Hb (HbS) leicht identifizierbar. O Die mikroskopische Abklärung von Infektionen mit Blutparasiten, insbesondere Plasmodien (Malariaparasiten) ist in Afrika der häufigste Bluttest. Der sog. dicke Tropfen, bei dem frisches Blut auf die Mitte eines Objektträgers gegeben und kreisförmig verrieben wird, bedeutet eine Anreicherung der Parasitendichte um den Faktor 20 und verkürzt die Zeit des Suchens gegenüber dem normalen Blutausstrich. In unseren Breitengraden ist der dicke Tropfen oft unvertraut, daher ist der reguläre MGG-gefärbte Blutausstrich zur Suche und Differenzierung von Plasmodien der bessere Weg. Die Erkennung der Plasmodien ist die Voraussetzung, um den Patienten überhaupt der richtigen Diagnose und Therapie zuführen zu können. Der Antigen- Schnelltest ist hierfür sensitiver, aber für die Verlaufskontrolle unter Therapie ungeeignet. Für die mikroskopische Beurteilung gilt folgende Faustregel: Bei Pl. falciparum, Erreger der gefährlichen M. tropica, zeigt der ringförmige Trophozoit (Glossar) Doppelkerne und oft einen Doppelbefall der Erythrozyten. Seine typischen bananenförmigen Gametozyten sind bei Diagnosestellung vor Therapie nur sehr selten zu finden. Pl. ovale und Pl. vivax lassen sich durch die Anzahl der Kerne in den Schizonten sicher unterscheiden. Liegen die Erreger ausschließlich als Trophozoiten vor, ist eine erneute Blutabnahme nach 8 12 Stunden erforderlich, um diesen Zyklus in der synchronen Vermehrungsphase zu sehen. Die Schüffner sche Tüpfelung (Glossar) ist in der normalen MGG-Färbung nicht erkennbar. Hilfreich sind die instruktiven Lehrtafeln auf den Internetseiten der WHO (bench aid malaria) und des Centers of disease control (CDC). 6 Fazit Die Erythrozytenmorphologie liefert entscheidende Hinweise auf Anämieursachen und ist daher unverzichtbarer Bestandteil der Anämiediagnostik. Morphologische Veränderungen sollten quantifiziert werden, jedoch ist die semiquantitative Methode mit den Symbolen +/++/+++ schlecht standardisiert. Die maximale Ausprägung ist je nach Veränderungstyp unterschiedlich und ihr Auftreten in isolierter Form bzw. zusammen mit anderen Modifikationen typisch und wichtig. Das Internationale Komitee zur Standardisierung in der Hämatologie (ICSH) hat hierzu einen Vorschlag unterbreitet. 7 Leider stehen der Personalaufwand und die Kostenerstattung in Deutschland dem breiten Einsatz der Erythrozytenmorphologie komplett entgegen. Deshalb sind aktuelle Systementwicklungen interessant, mit der sich die computergestützte Bilderkennung anwenderfreundlich und in ausreichender Qualität für die große Zahl der in Frage kommenden Proben gestaltet. * Prof. Dr. Hermann Heimpel war einer der bedeutendsten deutschen Hämatologen. Er hat sich insbesondere um die Anämiediagnostik verdient gemacht. ** DGHO: Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie Literatur 1 Nebe T et al: J Lab Med (2012); 36 (5): 311-336 2 Nebe T et al: J Lab Med (2011); 35 (1): 3-28 3 hastka J, Metzgeroth G: J Lab Med (2015); 39 (5): 273 289 4 Binder T et al: J Lab Med (2012); 36(5): 293 309 5 Diem H et al: J Lab Med (2005); 29(5): 331 332 6 http://www.who.int/malaria/publications/atoz/9241545240/ en/ (zuletzt am 17.1.2017 angefragt) 7 http://icsh.org/guidelines/ zuletzt am 6.2.2017 angefragt Korrespondenzadresse Dr. med. Carl Thomas Nebe Hämatologie-Labor Mannheim Hans-Böckler-Str. 1 68161 Mannheim thomas.nebe@haema-labor.de www.haema-labor.de Glossar Anisozytose: Vorliegen unterschiedlich großer Erythrozyten. Poikilozytose: Vorkommen verschieden geformter, nicht runder Erythrozyten. Fragmentozyten (Schistozyten): Beschädigte Erythrozyten bzw. deren Trümmerstücke. Entstehen durch mechanische Schädigungen der roten Blutkörperchen an Hindernissen in der Blutbahn. Akanthozyten: Pathologische Erythrozyten mit spitzen Ausläufern aufgrund eines hereditären Missverhältnisses zwischen Zellvolumen und Zellmembran (Stachelzellen). Form einer korpuskulären hämolytischen Anämie. Mikrosphärozyten: Kleine, kugelförmige Erythrozyten mit einem Durchmesser von weniger als 6 µm. (Makro)sphärozyten: Kugelförmige Erythrozyten normaler Größe. Retikulozyten: Junge, unreife Erythrozyten. Stomatozyten: Erythrozyten mit mikroskopisch sichtbarer, zentraler, schlitz- oder mundförmiger Aufhellung aufgrund eines hereditären Defekts. Form einer korpuskulären hämolytischen Anämie. Elliptozyten: Ellipsenförmige Erythrozyten aufgrund eines hereditären Defekts. Form einer korpuskulären hämolytischen Anämie. Targetzellen: Erythrozyten mit einer im gefärbten Zustand sichtbaren Farbverdichtung im Zentrum. Howell-Jolly-Körperchen: Pathologische Zellkernfragmente in den normalerweise kernlosen Erythrozyten. Erythroblasten: Kernhaltige Erythrozyten. Sichelzellen: Erbliche Anomalie des Hämoglobins (sog. HbS), wodurch sich bei Sauerstoffmangel die Erythrozyten sichelförmig verformen und in der Milz miteinander verklumpen können (sog. Sichelzellkrise). Trophozoit: Aktiver vegetativer Lebensabschnitt eines Protisten (eukaryotische Ein- und Wenigzeller). Schüffner'sche Tüpfelung: Bei reiner Giemsa-Färbung im Lichtmikroskop sichtbare, rötliche Granulation von Erythrozyten, die mit Pl. ovale oder Pl. vivax befallen sind. Nur noch von historischer Bedeutung. 9