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Psychotherapie aktuell Psychotherapeut 2008 53:456 460 DOI 10.1007/s00278-008-0638-2 Online publiziert: 22. Oktober 2008 Springer Medizin Verlag 2008 Redaktion M. Cierpka, Heidelberg B. Strauß, Jena Cornelia Albani 1 Gerd Blaser 2 Elmar Brähler 1 1 Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Universitätsklinikum Leipzig AöR, Leipzig 2 Psychotherapeutische Praxis, Leipzig Gesundheitsberichterstattung der Krankenkassen Gesundheitsreport der Techniker Krankenkasse mit Daten und Fakten bei Arbeitsunfähigkeit und Arzneiverordnungen. Schwerpunktthema: psychische Störungen Seit 2004 verpflichtet das Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG) die kassenärztlichen Vereinigungen zur Weitergabe von Daten an die gesetzlichen Krankenversicherungen, die eine versichertenbezogene Auswertung von Diagnosen und Abrechnungsziffern ermöglichen. Diese umfangreichen Datensätze bieten wesentliche Informationen zu epidemiologischen Befunden bezüglich Morbidität und Behandlungsdaten aus dem Versorgungsalltag und damit eine wertvolle Grundlage für praxisnahe Versorgungsforschung. Gesundheitsberichterstattungen der gesetzlichen Krankenkassen 456 Psychotherapeut 6 2008 Erfreulicherweise zeigte sich in den vergangenen Jahren eine zunehmende Bereitschaft der gesetzlichen Krankenkassen, Gesundheitsberichterstattungen anhand dieser Daten vorzunehmen (z. B. BKK Bundesverband 2006; Gmünder Ersatzkasse 2007; Techniker Krankenkasse 2008). Die Techniker Krankenkasse (TK) hat ihren Gesundheitsreport 2008 unter das Schwerpunktthema psychische Störungen gestellt Techniker Krankenkasse 2008. Nachfolgend werden wesentliche Ergebnisse des Berichtes zusammenfassend dargestellt. Grundlage des Berichtes bilden die 2,62 Mio. bei der TK versicherten Erwerbspersonen [d. h. sozialversicherungspflichtig beschäftigt oder arbeitslos gemeldete Mitglieder mit eigenständiger Mitgliedschaft, die zur Abgabe einer Arbeitsunfähigkeits- (AU-)Bescheinigung verpflichtet sind] im Alter zwischen 14 64 Jahren, deren AU, Arzneimittelverordnungen 2000 2007 und Diagnosedaten aus dem ambulanten Bereich von 2006 untersucht wurden. Ergebnisse des Gesundheitsreports der TK zum Thema psychische Störungen Psychische Störungen waren sehr häufig Die bekannten, hohen Prävalenzraten wurden bestätigt (. Tab. 1); bei mehr als jeder fünften Erwerbsperson wurde 2006 mindestens einmal die Diagnose psychische Störung gestellt (15,1% der männlichen; 32,1% der weiblichen Erwerbspersonen). Depressionen, Reaktionen auf schwere Belastungen und somatoforme Störungen waren die häufigsten Diagnosen. Frauen hatten, außer für Störungen durch psychotrope Substanzen, höhere Prävalenzraten. Möller-Leimkühler (2007) und Möller-Leimkühler et al. (2007) vermuteten anhand ihrer Untersuchung von 1004 jungen Männern, dass die geringeren Depressionsraten bei Männern am ehesten mit einer Unterdiagnostizierung aufgrund mangelnder Hilfesuche, männerspezifischer Stressverarbeitung und einer einseitigen Depressionsdiagnostik erklärt werden können und forderten geschlechtersensible Perspektiven in Forschung und Praxis, insbesondere bei Erkrankungen, die als geschlechtstypisch gelten. Verglichen mit den Befunden aus dem Bundesgesundheitssurvey Jacobi u. Wittchen 2004 waren die Diagnoseraten in der TK-Stichprobe niedriger. Allerdings unterscheiden sich beide Untersuchungen bezüglich der Datenerhebung und der Stichprobe. Der Bundesgesundheitssurvey bezieht nicht nur Erwerbspersonen (arbeitende und arbeitslos gemeldete), sondern die gesamte deutsche Bevölkerung zwischen 18 65 Jahren ein und erfasst somit möglicherweise Gruppen mit besonders hoher Morbidität mit (z. B. berentete Angehörige, die sich nicht arbeitslos melden, weil sie keinen Anspruch auf Leistungen haben). Während im Bundesgesundheitssurvey mithilfe des standardisierten Interviews Diagnoseträger

(heißt nicht Patient!) ermittelt wurden, wurden bei der TK Patienten mit Diagnose erfasst. Dennoch wären so deutliche Unterschiede nicht zu erwarten. Zu vermuten ist, dass neben diagnostischen Unsicherheiten angesichts der nach wie vor bestehenden Stigmatisierung von Patienten mit psychischen Störungen auch der Patientenschutz durch die Behandler in der TK-Stichprobe zu einem restriktiven diagnostischen Verhalten geführt haben könnte. Im Report wird von ärztlicher Behandlung und Diagnose berichtet. Es bleibt offen, wer die Diagnosen gestellt hat (Hausärzte oder behandelnde psychologische/ärztliche Psychotherapeuten;. Tab. 1). Alle Altersgruppen waren von psychischen Störungen betroffen Bezüglich psychischer Störungen insgesamt waren sowohl bei Männern wie auch bei Frauen alle Altersgruppen betroffen; hierbei lagen die Zwölfmonatsprävalenzen für Frauen in allen Altersgruppen höher als für Männer (Prävalenzraten bei Männern zwischen 11% bei den 15- bis 19- Jährigen und 23% bei den 60- bis 64-Jährigen, bei Frauen zwischen 24% bei den 15- bis 19-Jährigen und 39% bei den 55- bis 59-Jährigen). Für Depressionen (F32/F33), Reaktionen auf Belastung (F43) und somatoforme Störungen (F45) zeigten sich bei beiden Geschlechtern höhere Prävalenzen mit zunehmendem Alter. Arbeitslose hatten hohe Zwölfmonatsprävalenzen psychischer Störungen Insgesamt zeigten sich eher geringe Prävalenzunterschiede zwischen den Berufsgruppen. Frauen waren wiederum in allen Berufsgruppen häufiger betroffen. Die Rangreihe für einzelne Berufsgruppen (Männer und Frauen) bezüglich irgendeiner psychischen Störung führten Telefonisten an (32%), gefolgt von Kindergärtnern (31%), Sozialpädagogen (30%) und Sozialarbeitern (30%). Die niedrigste Rate mit 15% fand sich bei Ärzten. Arbeitslose Männer waren mit 21% und arbeitslose Frauen mit 38% sehr häufig betroffen. Tab. 1 Zwölfmonatsprävalenzen a psychischer Störungen in der TK-Stichprobe Techniker Krankenkasse 2008 und im Bundesgesundheitssurvey Jacobi u. Wittchen 2004 Mindestens einmal/eine Diagnose einer psychischen Störung Störung durch psychotrope Substanzen (F00 F09) Störung durch Alkohol (F10) Irgendeine affektive Störung Depressionen wurden mit 15% bei Arbeitslosengeld- (ALG-)II-Empfängern und 11% bei ALG-I-Empfängern deutlich häufiger diagnostiziert als bei Berufstätigen (7%). Diese Befunde bestätigen einmal mehr die mittlerweile empirisch gut belegten Zusammenhänge zwischen Erwerbslosigkeit und körperlichen sowie psychischen Gesundheitsstörungen und -risiken sowie psychosozialen Belastungen (z. B. Berth et al. 2007; Grobe 2006; Kastner et al. 2005). Psychische Störungen gingen mit erhöhten Fehlzeiten einher Techniker Krankenkasse Bundesgesundheitssurvey % der bei der TK versicherten Erwerbspersonen b % der repräsentativen deutschen Gesamtbevölkerung c Gesamt Männlich Weiblich Gesamt Männlich Weiblich 22,1 15 32,1 31,1 25,3 37,0 2,9 3,0 2,8 4,5 7,2 1,7 0,6 0,8 0,4 4,1 6,8 1,3 7,5 4,7 11,7 11,9 8,5 15,4 Depression (F32/F33) 7,2 4,4 11,1 Neurotische, Belastungs-, 14,8 8,6 23,5 somatoforme Störung (F40 F48) Phobische Störung (F41) 1,0 0,5 1,9 11,6 6,8 16,6 Andere Angststörung (F41) 3,0 Irgendeine Angststörung 14,5 9,2 19,8 Reaktion auf Belastung 4,6 2,5 7,5 (F43) Somatoforme Störung 8,0 4,5 12,9 11,0 7,1 15,0 (F45) Persönlichkeits- und Verhaltensstörung (F60 F69) 1,4 0,9 2,3 a Zahl der Erkrankten im Verhältnis zur Zahl der Untersuchten im Zeitraum von 12 Monaten. b Standardisiert nach Alter und Geschlecht, bezogen auf Gesamtdeutschland, Alter 14 64 Jahre, Erhebungszeitraum 2006, klinische Diagnose niedergelassener Behandler nach ICD-10. c Screening von 6159 repräsentativ ausgewählten Deutschen mit Fragebogen (Composite International Diagnostic-Screener, CID-S), alle Screen-Positiven und 50% der Screen-Negativen wurden dann mit standardisiertem computerisiertem Composite International Diagnositc Interview (DIA-X-CIDI, DSM-IV-Diagnosen) untersucht, insgesamt 4181 Teilnehmer, Alter 18 65 Jahre, Erhebungszeitraum 1998/1999. Der Krankenstand (anteilige Fehlzeiten taggenau auf das Versicherungsintervall bezogen) lag im Durchschnitt für Männer bei 2,7%, für Frauen 3,4%. Arbeitslose hatten 2007 im Vergleich zu allen anderen Berufsgruppen den höchsten Krankenstand (5% bei Männern und Frauen). Mit zunehmendem Bildungsgrad sank der Krankenstand bei beiden Geschlechtern (Hauptschule: 4,7%, Hochschule: 1,8%). Es zeigte sich eine Zunahme der Fehlzeiten zwischen 2006 und 2007 in allen Bundesländern (außer Bremen) aufgrund eines Anstiegs der Krankschreibungshäufigkeit (+8,4%) bei gleichzeitig rückläufiger fallbezogener Krankschreibungsdauer ( 3,9%). Es ergab sich aber eine große Spannweite zwischen verschiedenen Bundesländern (Baden-Württemberg durchschnittlich 9 Tage, Bayern 10 Tage, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern je 13 Tage in 2007). Für die Diagnose einer psychischen Störung ergab sich eine 7-fach höhere ambulante Diagnoserate (22%), verglichen Psychotherapeut 6 2008 457

mit der AU-Rate (3%) unter Nennung einer psychischen Diagnose, d. h. nur jeder Siebte mit der ambulanten Diagnose psychische Störung wurde auch unter einer entsprechenden Diagnose arbeitsunfähig geschrieben. Bei Depressionen (F32/F33) betrug die AU-Rate 1% aller Erwerbspersonen, bei Reaktionen auf Belastung (F43) 0,7% und bei somatoformen Störungen (F45) 0,44%. Die AU-Raten wegen psychischer Störungen waren, verglichen mit somatischen Krankheitsbildern, eher niedrig, aber bei AU aufgrund psychischer Störung waren die Fehltage hoch (im Mittel 37 Tage; bei Neubildungen 39 Tage, bei endokrinen, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten 24 Tage, Herz-Kreislauf-System 20 Tage), sodass der Anteil der AU- Tage wegen psychischer Störungen an allen AU-Tagen hoch ist (AU-Tage je 100 Versicherungsjahre: Erkrankungen des Muskel- und Skelettsystems: 212, Atmungssystem: 154, Verletzungen: 146, psychische Störungen: 129, Verdauungssystem: 70, Kreislaufsystem: 52). Erwerbspersonen mit der Diagnose psychische Störung (22,7 AU-Tage in 2006) wurden auch unter anderen Diagnosen häufiger arbeitsunfähig geschrieben als Personen ohne psychische Diagnose (7,62 AU-Tage in 2006, abgeglichen für Alter und Geschlecht). Besonders gravierend war die Zunahme der AU-Tage bei depressiven Störungen: 9,6 AU-Tage ohne Depression, 35,3 Tage beim Vorliegen einer Depression, d. h. eine 3,7-fach bzw. 25,7 Tage längere AU als bei Personen ohne Depression. Psychische Störungen gehen mit erhöhten Fehlzeiten einher, auch noch im Folgejahr nach der Diagnoseerfassung. Hierbei ist aber die Kausalität offen, da psychische Störungen auch Folgen somatischer Erkrankungen sein können. Diese Befunde unterstreichen nachdrücklich die Notwendigkeit einer raschen diagnostischen Abklärung sowie einer zeitnahen und qualifizierten psychotherapeutischen Behandlung psychischer Störungen. Psychotherapie aktuell Diagnoseraten, AU-Raten und Verordnungsraten von Antidepressiva weisen erhebliche regionale Unterschiede auf Die Verordnungsrate von Antidepressiva (Anteil der Erwerbspersonen mit Antidepressivaverordnung) betrug 3,6% und war in den Neuen Bundesländern (NBL) mit 2,7 2,9% deutlich niedriger als in den Alten Bundesländern (ABL) 2,9 4,5%. Sie wurden bezogen auf alle Erwerbspersonen dargestellt. Interessanter wäre, sie auf diejenigen zu beziehen, bei denen eine Depression diagnostiziert wurde. In den NBL zeigten sich niedrigere Diagnose-, aber höhere AU-Raten als in den ABL (z. B. Mecklenburg-Vorpommern: 17,8% mehr AU-Fälle mit psychischer Störung, aber 1,5% weniger ambulante Diagnosen psychische Störung als im Bundesdurchschnitt). Für Reaktionen auf Belastung (F43) lagen die AU-Raten in den NBL höher (zwischen 0,81% in Thüringen und 1,12% in Mecklenburg- Vorpommern), verglichen mit den ABL (zwischen 0,53% in Bayern und 0,97% im Saarland). Die ambulanten Diagnoseraten waren aber in den NBL niedriger (zwischen 3,93% in Thüringen und 4,84% in Brandenburg) als in den ABL (zwischen 4,31% in Baden-Württemberg und 5,60% in Bremen). Bezüglich der Diagnose-, AU- und Antidepressivaverordnungsraten und deren Zusammenhänge wurden in dem ansonsten weitgehend sachlich-deskriptiven Report weiter reichende Interpretationen vorgenommen, die nachfolgend etwas ausführlicher dargestellt werden. In den drei Stadtstaaten und damit vermutlich allgemein in städtischen Ballungszentren erhalten, gemessen an der verhältnismäßig häufigen Diagnose Depression, nur verhältnismäßig kleine Anteile der Erwerbspersonen Antidepressiva. Eine Ursache hierfür könnte in der breiteren Verfügbarkeit von ambulanten Psychotherapien als Therapieoption in den Ballungsräumen liegen. (Techniker Krankenkasse 2008, S. 12) Das heißt, da, wo es psychotherapeutische Angebote gibt (Städte, Ballungszentren), erhalten Patienten Psychotherapie und entsprechend weniger Antidepressiva. Dies entspricht vermutlich der Nationalen VersorgungsLeitlinie Depression, laut deren für leichte und mittlere Depressionen (von denen in der Mehrzahl auszugehen ist, die entsprechenden Daten wurden nicht berichtet) Psychotherapie und nicht Antidepressiva Mittel der ersten Wahl ist Härter et al. 2007. Die verallgemeinernden Zusammenfassungen im Report entsprechen nicht den publizierten Daten: Zum Beispiel betrug die ambulante Diagnoserate für Depressionen im Saarland 8,22% und ist damit höher als in Bremen (8,08%). Insgesamt waren die Unterschiede zwischen den westlichen Bundesländern gering (Spannweite der Diagnoserate Depression zwischen 7,08% in Baden-Württemberg und 8,22% im Saarland; in Hamburg 8,54%, in Berlin 9,16%). In den NBL zeigten sich insgesamt deutlich niedrigere Raten (zwischen 4,76% in Sachsen-Anhalt und 5,59% in Brandenburg). Die Verordnungsraten für Antidepressiva lagen in Schleswig-Holstein bei 3,32% sowie in Niedersachsen bei 3,34% und waren dort somit niedriger als in Hamburg mit 3,59%. (Nur in Bremen betrugen sie lediglich 2,88%.) Auch hier waren wiederum insgesamt die Unterschiede zwischen den westlichen Bundesländern nur gering (Spannweite zwischen 3,32% in Schleswig-Holstein und 4,46% im Saarland). Verglichen mit den NBL (Spannweite zwischen Brandenburg 2,74% und Sachsen 2,95%) waren die Verordnungsraten in Berlin sogar hoch (3,36%). Der Rückschluss, dass es an der Angebotsdichte von Psychotherapie liegt, wird anhand der eigenen Daten widerlegt. In den NBL ist das Angebot an Psychotherapie wesentlich geringer, die Antidepressivaverordnung dennoch deutlich niedriger (Techniker Krankenkasse 2008, S. 32). Die Zusammenhänge zwischen AU- Rate, ambulanter Diagnoserate und Antidepressivaverordnungsrate bei Depressionen war in den Bundesländern heterogen die einfache Schlussfolgerung, dass in den Stadtstaaten alles anders ist, stimmt nicht. Auch die folgende Schlussfolgerung: Beide Ergebnisse [niedrigere Raten und seltener Antidepressiva; Anmerk. d. Verf.] sprechen für eine geringere reale Häufigkeit von Depressionen in den neuen Bun- 458 Psychotherapeut 6 2008

desländern (Techniker Krankenkasse 2008, S. 12), erscheint fragwürdig. Diese Befunde könnten auch aus regionalen Unterschieden bezüglich der diagnostischen Gewohnheiten und real bestehenden Versorgungsunterschieden resultieren (ein Hausarzt in den ABL versorgt weniger Patienten als ein Hausarzt in den NBL, kann sich also möglicherweise mehr Zeit für die Diagnostik psychischer Störungen nehmen ). Insgesamt ist zu vermuten, dass psychische Störungen nur unzureichend und nicht korrekt diagnostiziert werden. Der Hinweis: In Bezug auf Depressionen existiert mit den Antidepressiva eine Medikamentengruppe, deren Verordnung zumindest weit überwiegend bei dieser spezifischen Erkrankung indiziert ist (Techniker Krankenkasse 2008, S. 33) erstaunt, da er, zumindest für leichte und mittelschwere Depressionen, nicht den Nationalen VersorgungsLeitlinien Depression Härter et al. 2007 entspricht und von Untersuchungen zur Wirksamkeit von Antidepressiva nicht gestützt wird. Zahlreiche Metaanalysen zur Behandlung von Depressionen ergaben für Psychotherapie Effektstärken von 0,82 1,13 Kastner et al. 2005. (Nach Cohen 1988 entsprechen Effektstärken >0,20 einem schwachen, >0,50 einem mittleren und >0,80 einem starken Effekt.) Die durchschnittliche Effektstärke für antidepressive Medikamente, die bei der US Food and Drug Administration zugelassen wurden, betrug hingegen 0,31 (Fluoxetin 0,26, Sertralin 0,26, Citalopram 0,24, Escitalopram 0,31, Duloxetin 0,30; Tuner et al. 2008). Diskussion Die Repräsentativität der Datenbasis bleibt offen: Bei der TK sind 9,4% aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland versichert, aber der Anteil der TK-Versicherten an allen Erwerbspersonen unterschied sich in den Bundesländern stark [höchster Anteil TK-Versicherter in Berlin (15,2%), niedrigster in Sachsen (4,9%), in den NBL 6,6%, in den ABL (ohne Berlin) 9,6%]. Die Verteilung der Berufsgruppen der TK-Versicherten ist möglicherweise anders als für alle Erwerbspersonen in Deutschland. Es ist zu bedauern, dass keine Aussagen zu Komorbiditäten erfolgten (obwohl der TK die entsprechenden Daten vorliegen). Unklar bleibt, ob sowohl die ambulanten wie auch die AU-Diagnosen Einzeldiagnosen oder lediglich Hauptdiagnosen bei Komorbiditäten darstellen. Es sind hohe Komorbiditäten zu vermuten; im Bundesgesundheitssurvey hatten 39,5% der Personen, bei denen eine psychische Störung diagnostiziert wurde, mehr als eine Störung (bei Frauen 43,7%, bei Männern 30,5%; Schulz et al. 2008). Allerdings diagnostizieren niedergelassene Kliniker häufig defensiv, (d. h. nur eine Hauptdiagnose, Zurückhaltung bei der Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen ). Grundsätzlich ist das Bemühen der gesetzlichen Krankenkassen, ihre Daten wissenschaftlich auszuwerten und zu publizieren, wie hier am Beispiel der TK gezeigt, positiv zu bewerten. Solche Analysen zu Diagnosen, AU und Behandlungsdaten der gesetzlichen Krankenkassen können eine wertvolle Grundlage für praxisrelevante Versorgungsforschung bieten. Um aus diesen Daten wesentliche Informationen über die Versorgungsrealität und Verbesserungsmöglichkeiten abzuleiten und letztlich eine verbesserte Versorgung von Patienten zu erreichen, ist aber eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen Vertretern der gesetzlichen Krankenkassen und Psychotherapeuten notwendig, wie der vorliegende Report der TK eindrücklich belegt. Der TK und allen anderen Krankenkassen ist der angemessene Mut zu wünschen, die vorhandenen Daten in vollem Umfang offen zu legen, um in Kooperation mit den Fachvertretern die dringend benötigte Versorgungsforschung voranzutreiben und nicht zuletzt, um den berechtigten Erwartungen ihrer Versicherten nach mehr Transparenz gerecht zu werden. Fazit für die Praxis Die Auswertung der Daten der TK zu AU und Arzneimittelverordnung 2000 2007 sowie die Diagnosedaten aus dem ambulanten Bereich von 2006 bestätigten die bekannten hohen Prävalenzraten: Bei mehr als jeder fünften Erwerbsperson wurde mindestens einmal die Diagnose psychische Störung gestellt. Frauen hatten, außer für Störungen durch psychotrope Substanzen, höhere Prävalenzraten. Alle Altersgruppen waren gleichermaßen betroffen. Die Prävalenzraten für irgendeine psychische Störung unterschieden sich kaum zwischen verschiedenen Berufsgruppen, waren bei Arbeitslosen jedoch am höchsten. Psychische Störungen gingen mit erhöhten Fehlzeiten einher, aber nur jeder Siebte mit einer Diagnose psychischer Störung wurde auch unter dieser Diagnose arbeitsunfähig geschrieben. Wenn eine psychische Störung vorlag, erhöhten sich die Fehlzeiten bei anderen Erkrankungen. Es scheint deutliche regionale Unterschiede bezüglich der Diagnosestellung und AU-Raten aufgrund psychischer Störungen zu geben. Vermutlich werden psychische Störungen nur unzureichend diagnostiziert. Das Bemühen der TK, ihre Daten wissenschaftlich auszuwerten und zu veröffentlichen, ist grundsätzlich zu begrüßen, weitergehende Analysen (z. B. Komorbiditäten, Behandlungsverfahren) sind wünschenswert und sollten in Zusammenarbeit mit Psychotherapeuten erfolgen. Der Report unterstreicht den hohen Bedarf an qualifizierten, psychotherapeutischen Behandlungsangeboten. Korrespondenzadresse Prof. Dr. Cornelia Albani Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Universitätsklinikum Leipzig AöR Philipp-Rosenthal-Straße 55, 04103 Leipzig Cornelia.Albani@medizin.uni-leipzig.de Interessenkonflikt. Der korrespondierende Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Literatur Berth H, Förster P, Balck F et al. (2007) Gesundheitsfolgen von Arbeitslosigkeit. Ergebnisse der Sächsischen Längsschnittstudie. Psychosozial 109: 73 83 BKK Bundesverband (2006) BKK-Gesundheitsreport 2006. http://www.bkk.de Cohen J (1988) Statistical power analysis for the behavioral sciences. Erlbaum, Hillsdale New Jersey Gmünder Ersatzkasse (Hrsg) (2007) GEK-Report ambulant-ärztliche Versorgung 2007. Auswertungen der GEK-Gesundheitsberichterstattung. Schwerpunkt Ambulante Psychotherapie. Asgard, St. Augustin Psychotherapeut 6 2008 459

Psychotherapie aktuell Grobe TG (2006) Sterben Arbeitslose früher? In: Holleder A, Brand H (Hrsg) Arbeitslosigkeit, Gesundheit und Krankheit. Huber, Bern, S 75 84 Härter M, Bermejo I, Klesse C et al. (2007) Evidenzbasierte Leitlinienentwicklung in der Psychotherapie Verfahrensweise und Ergebnisse in der S3- bzw. Nationalen VersorgungsLeitlinie Depression. http://www.egms.de/en/meetings/ebm2007/ 07ebm051.shtml Jacobi F, Wittchen H-U (2004) Psychische Störungen in der deutschen Allgemeinbevölkerung: Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen und Ausfalltage. Bundesgesundheitsbl Gesundheitsforsch Gesundheitsschutz 47: 736 744 Kastner M, Hagemann T, Kliesch G (Hrsg) (2005) Arbeitslosigkeit und Gesundheit. Arbeitsmarktintegrative Gesundheitsförderung. Pabst, Lengerich Lambert M (2004) Bergin and Garfield s handbook of psychotherapy and behavior change. Wiley & Sons, New York Möller-Leimkühler AM (2007) Depression überdiagnostiziert bei Frauen, unterdiagnostiziert bei Männern? Gynakologe 41: 381 388 Möller-Leimkühler AM, Paulus N-C, Heller J (2007) Male depression in einer Bevölkerungsstichprobe junger Männer: Risiko und Symptome. Nervenarzt 78: 641 650 Schulz H, Barghaan D, Harfst T, Koch U (2008) Gesundheitsberichterstattung des Bundes Psychotherapeutische Versorgung, Vol. 41. Robert Koch-Institut, Berlin Techniker Krankenkasse (2008) Gesundheitsreport der Techniker Krankenkasse mit Daten und Fakten bei Arbeitsunfähigkeit und Arzneiverordnungen. Schwerpunktthema: Psychische Störungen. Techniker Krankenkasse, Hamburg Turner EH, Matthews AM, Linardatos E et al. (2008) Selective publication of antidepressant trials and its influence on apparent efficacy. N Engl J Med 358: 252 260 CME im Psychotherapeut Die CME-Beiträge der Zeitschrift Psychotherapeut sind von der Landesärztekammer Hessen sowie der Nordrheinischen Akademie für ärztliche Fort- und Weiterbildung mit jeweils 3 CME-Punkten zertifiziert. Für psychologische Psychotherapeuten ist die Fortbildung aus Psychotherapeut von der Landespsychotherapeutenkammer Baden-Württemberg ebenfalls mit 3 Punkten akkreditiert. Damit sind die Fortbildungseinheiten aus Psychotherapeut für alle Psychotherapeuten bundesweit anerkennungsfähig. 460 Psychotherapeut 6 2008