TUTORIUM SACHENRECHT WS 2017/2018 Fall 2: Sachverhalt M hat beim Eigentümer V ein Fahrrad gemietet. Nachdem die Mietzeit abgelaufen ist, fordert V den M mehrfach dazu auf, ihm das Fahrrad herauszugeben. Als M sich nicht rührt, wartet V eine günstige Gelegenheit ab und entwendet das Fahrrad vom Grundstück des M. M ist der Meinung, V könne sich das Fahrrad nicht einfach so nehmen und erhebt in zulässiger Weise Klage auf Herausgabe des Fahrrads gegen V. V meint, das Fahrrad stehe allein ihm zu und beantragt, die Klage abzuweisen. In einer zulässigen Widerklage beantragt er zudem die Feststellung, dass ihm ein Besitzrecht an dem Fahrrad zusteht. Wie wird das Gericht über die Klage des M entscheiden?
LUDWIG-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT MÜNCHEN SEITE 2 VON 5 Fall 2: Lösung Das Gericht wird der Klage der M stattgeben, wenn diese begründet wäre. Die Klage wäre begründet, wenn M gegen V einen Anspruch auf die Herausgabe des Fahrrads hätte. 1. 861 I BGB Ein Herausgabeanspruch könnte sich aus 861 I BGB ergeben. Voraussetzung hierfür wäre, dass M zum Zeitpunkt der Besitzentziehung Besitzer war, dass ihm der Besitz durch verbotene Eigenmacht entzogen wurde und dass V ihm gegenüber fehlerhaft besitzt. a) Besitz des M V hat das Fahrrad vom Grundstück des M entwendet. Es ist deshalb davon auszugehen, dass M zuvor die tatsächliche Gewalt über das Fahrrad ausübte und dass diese Ausübung von seinem Besitzwillen getragen war, sodass M isd 854 I BGB Alleinbesitzer war. Dem steht auch nicht entgegen, dass M im Moment der Entwendung möglicherweise nicht zugegen war. Gemäß 856 II BGB wird der Besitz nämlich durch eine nur vorübergehende Verhinderung in der Gewaltausübung nicht beendigt. Ein Grundstücksbesitzer behält den Besitz an den auf dem Grundstück befindlichen Sachen somit auch im Falle vorübergehender Abwesenheit. M war somit zum Zeitpunkt der Besitzentziehung Besitzer. b) Besitzentzug durch verbotene Eigenmacht Dem M müsste der Besitz durch verbotene Eigenmacht entzogen worden sein. Das wäre gemäß 858 I BGB der Fall, wenn ihm der Besitz ohne nicht notwendig gegen seinen Willen entzogen worden wäre. V hat das Fahrrad ohne den Willen des M mitgenommen und ihm somit seinen Besitz ohne seinen Willen entzogen. Dieser Besitzentzug war auch nicht etwa isd 858 I BGB gestattet, weil V möglicherweise einen Anspruch auf Herausgabe des Fahrrads hatte. Weder 985 BGB noch 546 BGB verleihen ein Recht zur verbotenen Eigenmacht oder zur Selbsthilfe. Dem M wurde somit der Besitz durch verbotene Eigenmacht entzogen. c) Fehlerhaftigkeit des Besitzes von V V besitzt fehlerhaft i.s.v. 858 II 1 BGB, weil er die verbotene Eigenmacht selbst begangen hat. Die Voraussetzungen der 861 I BGB liegen somit an sich vor.
LUDWIG-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT MÜNCHEN SEITE 3 VON 5 d) Dolo agit -Einwand nach 242 BGB Dem V könnte aber der Einwand des Rechtsmissbrauchs gemäß 242 BGB zustehen. Als Vermieter und Eigentümer des Fahrrads steht V nämlich nach Ablauf der Mietzeit ein Herausgabeanspruch sowohl nach 546 I BGB als auch nach 985 BGB zu. V könnte das Fahrrad deshalb nach der Wiedereinräumung des Besitzes direkt wieder von M herausverlangen. Und grundsätzlich ist es treuwidrig, etwas zu fordern, was man anschließend direkt wieder herauszugeben verpflichtet ist ( dolo agit qui petit quod statim redditurus est ). Ließe man jedoch vorliegend den Einwand nach 242 BGB zu, so würde dies dazu führen, dass die petitorischen Besitzrechte des V aus 985 BGB und 546 I BGB dem Anspruch aus 861 I BGB wirksam entgegengehalten werden könnten. Und aus 863 BGB ergibt sich klar, dass petitorische Rechte zum Besitz dem Anspruch 861 I BGB nicht entgegengehalten werden können. 863 BGB will nämlich gerade verhindern, dass unter Berufung auf ein Besitzrecht unzulässige Selbsthilfe verübt wird. Dem V steht der dolo-agit -Einwand aus 242 BGB daher nicht zu. e) Erlöschen des 861 I gem. 864 II BGB (analog) Gemäß 864 II BGB wäre der Anspruch des M allerdings erloschen, wenn durch rechtskräftiges Urteil festgestellt wäre, dass V ein Besitzrecht am Fahrrad zusteht. Zwar hat V noch kein rechtskräftiges Urteil erstritten, sondern bislang lediglich Widerklage auf Feststellung seines Besitzrechtes erhoben. Allerdings ist die Widerklage des V nicht nur zulässig, sondern auch offensichtlich begründet und entscheidungsreif: V steht offensichtlich ein Anspruch auf die Herausgabe des Fahrrads zu. 864 II BGB könnte daher möglicherweise analog auf die Konstellation anzuwenden sein, dass der Täter zwar kein rechtskräftiges Urteil erstritten, jedoch im Wege zulässiger, begründeter und entscheidungsreifer Widerklage die Feststellung seines Besitzrechts beantragt hat. aa) Teilweise vertretene Ansicht Nach teilweise vertretener Ansicht soll auch bei Vorliegen einer zulässigen, begründeten und entscheidungsreifen Widerklage 864 II BGB keine (analoge) Anwendung finden. Der illegalen Selbsthilfe des obligatorisch zum Besitz Berechtigten müsse vorgebeugt werden. Lasse man eine petitorische Widerklage mit der Wirkung des 864 II BGB zu, so werde 863 BGB letztlich ausgehebelt und würden petitorische Besitzrechte entgegen der ausdrücklichen Anordnung des 863 BGB letztlich doch wieder dem Anspruch nach 861 I BGB entgegengehalten werden. Außerdem sei es unbillig, den Kläger mit den Kosten seiner an sich begründeten Besitzklage zu belegen. bb) Herrschende Meinung Demgegenüber wendet die h.m. im Falle einer zulässigen, begründeten und entscheidungsreifen Widerklage zurecht 864 II BGB analog an. Die Beschränkung auf
LUDWIG-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT MÜNCHEN SEITE 4 VON 5 allein rechtskräftige Urteile dazu führen, dass beiden Klagen stattgegeben werden und somit widersprechende Urteile erlassen werden müssten. Eine derartige Lösung widerspricht der Schaffung von Rechtssicherheit. Es liegt außerdem eine vergleichbare Interessenlage zu der in 864 II BGB geregelten Situation vor, da für das erkennende Gericht feststeht, dass dem Widerkläger im Endergebnis der Besitz an der Sache zusteht. 1 Somit ist 864 II BGB entsprechend anzuwenden der Anspruch des M gegen V gemäß 861 I ist daher analog 864 II BGB erloschen. M hat gegen V keinen Anspruch auf die Herausgabe des Parketts gemäß 861 I BGB. 2. Anspruch auf Herausgabe aus 1007 I BGB Ein Anspruch des M gegen V auf Herausgabe des Parketts nach 1007 I BGB besteht nicht, da V nach 985, 546 I BGB ein Recht zum Besitz isd 1007 III 2 ivm 986 I 1 Alt. 1 BGB am Fahrrad hat. 3. Anspruch aus 1007 II BGB auf Herausgabe Aus dem gleichen Grund besteht auch kein Anspruch nach 1007 II BGB. Hinweis: Die Prüfung der Ansprüche aus 1007 BGB ist wohl Geschmacksache. Sie wurde hier der Übersichtlichkeit halber eingefügt, könnten aber auch vertretbar weggelassen werden. 1007 BGB wird in der nächsten Stunde ausführlich behandelt. 4. 823 I BGB 1 Vgl. BGHZ 53, 169 f.: 863 BGB will dem Besitzer die rasche Wiederherstellung seines durch verbotene Eigenmacht oder durch Besitzstörung beeinträchtigten Besitzstandes ermöglichen. Die gerichtliche Durchsetzung der Besitzschutzansprüche soll deshalb nicht dadurch verzögert werden können, daß zunächst über ein vom Beklagten geltend gemachtes Recht zum Besitz oder zur Besitzstörung verhandelt und in einem möglicherweise langwierigen Verfahren Beweis erhoben wird, soweit es dabei nicht um den Ausschluß der verbotenen Eigenmacht geht (...). Dem Anspruchsgegner ist es aber nicht verwehrt, sein Recht zum Besitz oder zur Vornahme der störenden Handlungen seinerseits uneingeschränkt klageweise geltend zu machen. Daß er aus einem solchen Recht keine Einwendung gegenüber dem Besitzschutzanspruch herleiten kann ( 863 BGB), ändert daran nichts. Ist seine Klage entscheidungsreif, so hat der Gegner keinen Anspruch darauf, daß die Entscheidung darüber dennoch zurückgestellt wird, solange noch nicht über seine Besitzschutzansprüche entschieden ist. Ergeht ein Feststellungsurteil des Inhalts, daß der»störer«kraft eines ihm an der Sache zustehenden Rechts die Herstellung des seiner Handlungsweise entsprechenden Besitzstandes verlangen kann, und wird dieses Urteil rechtskräftig, so führt dies zum Erlöschen der Besitzschutzansprüche ( 864 Abs. 2 BGB). Gegen die Zulassung einer entsprechenden Widerklage gegenüber Besitzschutzklagen könnten hiernach Bedenken aus Sinn und Zweck des 863 BGB nur dann hergeleitet werden, wenn die Widerklage die Entscheidung über die Klage verzögerte. Ein solches Bedenken wird aber dadurch ausgeraümt, daß, wenn die Klage entscheidungsreif ist, das Gericht darüber durch Teilurteil zu entscheiden hat, ohne die Entscheidungsreife auch der Widerklage abwarten zu dürften.
LUDWIG-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT MÜNCHEN SEITE 5 VON 5 Ein Anspruch von M gegen V aus 823 I BGB scheitert daran, dass V kein nach 823 I BGB geschütztes Recht des M verletzt hat. Zwar hat V dem M den Besitz entzogen und der Besitz kann grundsätzlich ein sonstiges Recht isd 823 I BGB darstellen. Geschützt ist insoweit nach ganz h.m. jedoch nur der berechtigte, nicht der unberechtigte Besitz. Und M hatte nach Beendigung des Mietvertrags kein Recht zum Besitz mehr. 5. 823 II ivm 858 BGB Auch ein Anspruch nach 823 II ivm 858 BGB scheidet aus mangels Verletzung eines Schutzgesetzes aus. Selbst wenn man 858 BGB als Schutzgesetz ansieht, so könnte sich dieses Schutzgesetz wiederum nur auf den berechtigten, nicht aber auf den unberechtigten Besitz erstrecken. 6. Anspruch aus 812 I 1 Alt. 2 BGB V hat den Besitz nicht ohne Rechtsgrund erlangt, weil ihm ein Besitzrecht aus 985, 546 I BGB zusteht. Ein Anspruch nach 812 I 1 Alt. 2 BGB besteht deshalb nicht. Hinweis: Auch die Prüfung der Ansprüche aus 823 und 812 I 1 Alt. 2 BGB dürfte Geschmacksache sein. Jedenfalls sollten im Rahmen dieser Klausur alle Ansprüche außer 861 I BGB kurz und knackig abgehandelt werden.