Verpflichtendes Kindergartenjahr: Screening für österreichische Pilot-GFA Zur Umsetzung einer gesundheitsförderlichen Gesamtstrategie (in der Fachliteratur oftmals auch als Health in All Policies bezeichnet) hat sich international das Instrument der Gesundheitsfolgenabschätzung (int. Health Impact Assessment = HIA) etabliert, dessen Praktikabilität nun auch in Österreich in Form eines Pilotprojektes zur Kindergesundheit erprobt werden soll. Die Gesundheitsfolgenabschätzung (GFA) beginnt immer mit einem Selektionsprozess, einem sogenannten Screening-Prozess. Geprüft wird - vornehmlich auf Basis von Expertenmeinungen -, welche politischen Vorhaben vermutlich hohe Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung bzw. einzelner Bevölkerungsgruppen haben und ob die Durchführung einer GFA erforderlich bzw. sinnvoll erscheint. In Österreich identifizierte im Herbst 2010 eine Gruppe von GFA-interessierten Fachleuten insgesamt acht relevante Politik-Themen zur Kindergesundheit, die anschließend anhand folgender Kriterien priorisiert wurden: verfügbare Evidenz, parteipolitische Neutralität / Anschlussfähigkeit, generelle Konsensusfähigkeit, Komplexität und Emotionalität. Zu einem der priorisierten Themen - verpflichtendes Kindergartenjahr - wurde Ende des Jahres ein Screening durchgeführt. Eckpunkte zum verpflichtenden Kindergartenjahr: Seit Beginn des Schuljahres 2010/2011 ist die halbtägige, kostenlose frühe Förderung an institutionellen Kinderbetreuungseinrichtungen für alle Fünfjährigen verpflichtend. Ziel dieser Bund-Länder-Vereinbarung ist es, allen Kindern ein Optimum an Bildungsmöglichkeiten und gute Startchancen für das spätere Berufsleben zu bieten.» Hintergrund: In Österreich werden rund 90 Prozent der Fünfjährigen frühinstitutionell betreut. Daten aus anderen Ländern (u. a. aus Deutschland) lassen vermuten, dass Kinder von Eltern mit niedrigerem Einkommen und Bildungsniveau sowie Kinder mit Migrationshintergrund vergleichsweise seltener vorschulisch betreut werden als Kinder aus sozioökonomisch höher gestellten Gesellschaftsschichten bzw. aus Familien ohne Migrationshintergrund.» Nutzen frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung: Die psychische, kognitive und soziale Entwicklung des Kindes sowie seine sprachlichen und motorischen Fähigkeiten werden gefördert und unterstützen es bei der Erreichung der Schulfähigkeit.
» Ausnahme von der Besuchspflicht: Laut Regierungsvorlage sind jene Kinder von der Besuchspflicht ausgenommen, die vorzeitig die Schule besuchen sowie jene Kinder, denen auf Grund einer Behinderung oder aus medizinischen Gründen bzw. auf Grund eines
» sonderpädagogischen Förderbedarfes oder auf Grund der Entfernung bzw. schwieriger Wegeverhältnisse zwischen Wohnort und nächstgelegener geeigneter institutioneller Kinderbetreuungseinrichtung der Besuch nicht zugemutet werden kann. Ausgenommen sind auch jene Kinder, bei denen die Verpflichtung im Rahmen der häuslichen Erziehung bzw. durch eine Tagesmutter/einen Tagesvater erfolgt, sofern die Bildungsaufgaben und Zielsetzungen gemäß Artikel 2 erfüllt werden.» Kostenlose, halbtägige Betreuung: Der halbtägige Besuch im Ausmaß von 20 Stunden pro Woche ist kostenlos. Nicht inkludiert sind die Kosten für die Verabreichung von Mahlzeiten oder die Teilnahme an Spezialangeboten.» Bildungsaufgaben: Die gesetzlich definierten Bildungsaufgaben der Kinderbetreuungseinrichtung umfassen die Förderung der Persönlichkeitsbildung und die Unterstützung beim Erreichen der Schulreife unter Berücksichtigung von frühkindlichen Lernformen, die Einhaltung des zwischen den Vertragspartnern einvernehmlich erarbeiteten Bildungsplans sowie des Leitfadens zur Betreuung durch Tagesmütter. Vorbereitungsarbeiten des Screenings: Auf Basis einer Internetrecherche wurden relevante Regierungsdokumente, Stellungnahmen und Zeitungsartikel zum verpflichtenden Kindergartenjahr aufbereitet und an die Teilnehmer/innen - neun Personen von Bundes- und Landesverwaltung, Sozialversicherung, Forschungsinstitutionen sowie aus dem Public-Health-Bereich 1 - des Screenings-Workshops vorab übermittelt. Nach kurzer Präsentation der Eckdaten zum verpflichtenden Kindergartenjahr wurden in der Expertenrunde die einzelnen Fragen anhand ausgewählter Checklisten diskutiert. Der Einbezug wichtiger Stakeholder und Fachleute am Screening-Prozess wird in der GFA- Methodik empfohlen, um praxisnahes und fachliches Wissen bereits zu Prozessbeginn zu berücksichtigen. Die Partizipation der betroffenen Bevölkerung ist ein weiterer zentraler Grundsatz für die GFA. Entsprechend dem Ziel, mittelfristig österreichspezifische GFA-Instrumente zu entwickeln, wurden im Zuge des Screening-Workshops zwei unterschiedliche Screening-Tools erprobt: das Raster zur Identifizierung potenzieller Gesundheitsfolgen aus dem Kanton Jura (Schweizer GFA- Plattform 2010, 55-56) und eine auf Basis internationaler GFA-Guides individuell erstellte Checkliste (Public Health Advisory Committee 2004; Harris et al. 2007). Der Fokus der verwendeten Instrumente lag zum einen auf den potenziellen Auswirkungen der geplanten Maßnahme auf die einzelnen Determinanten der Kindergesundheit und zum anderen auf den generellen Gesundheitsauswirkungen der Maßnahme auf den Kontext, in dem GFA umgesetzt wird, und auf die Kompetenzen der umsetzenden Organisation. 1 Fachexpertinnen zum verpflichtenden Kindergartenjahr wurden angefragt, konnten aber aus terminlichen Gründen nicht teilnehmen.
Es gibt länderspezifische Unterschiede bezüglich der im Screening-Prozess verwendeten Instrumente. Sogenannte Screening-Tools (Checklisten für systematisierte Entscheidungsfindung, ob eine GFA durchgeführt werden soll) basieren großteils auf internationalen Guides (z. B. EPHIA-Guide zu Policies auf EU-Ebene) und werden jeweils nur an die spezifischen Gegebenheiten des Landes angepasst. Ergebnisse des Screenings: Aus Sicht der Expertinnen und Experten birgt das verpflichtende Kindergartenjahr potenziell positive Auswirkungen auf die Gesundheit der Kinder. Im Rahmen einer GFA könnte man die positiven Effekte des verpflichtenden Kindergartenjahres aufzeigen und Empfehlungen zur Optimierung abgeben. Die potenziell negativen Effekte des verpflichtenden Kindergartenjahres bzw. deren Auswirkungen auf benachteiligte Bevölkerungsgruppen konnten von den Expertinnen und Experten im Rahmen des Screenings nicht eindeutig beurteilt werden. Beispielsweise könnte die Einführung des verpflichtenden Kindergartenjahrs dazu führen, dass die verfügbaren Plätze verstärkt für das letzte Kindergartenjahr benötigt werden und damit jüngere Kinder keinen Platz bekommen. Einen vertiefenden Eindruck erlauben einige ausgewählte Diskussionspunkte: Lebensstil/Ernährung: Der halbtägige Besuch in Kinderbetreuungseinrichtungen (KBE) dürfte sich entsprechende Qualität des Angebote vorausgesetzt - grundsätzlich positiv auf den Lebensstil der Fünfjährigen auswirken (insbesondere in Hinblick auf gesunde Ernährung und körperliche Bewegung). Empowerment: Aus Sicht der Expertinnen und Experten könnte die Persönlichkeitsentwicklung und das Selbstwertgefühl der Kindes durch das verpflichtende Kindergartenjahr positiv beeinflusst werden. Diskriminierung: Das verpflichtende Kindergartenjahr könnte die Integration von Kindern aus sozioökonomisch benachteiligten Gesellschaftsschichten oder aus Familien mit Migrationshintergrund verbessern. Soziale Bindungen: Die Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass sich das verpflichtende Kindergartenjahr positiv auf die sozialen Bindungen des Kindes auswirken könnte. Beschäftigung/Einkommen: Laut Experteneinschätzung wirkt sich das verpflichtende Kindergartenjahr positiv auf das Einkommen der Eltern aus, da Elternbeiträge entfallen und die Möglichkeit gegeben wird, einer (Teilzeit-)Berufsausübung nachzugehen. Zugang zu Information: Das Setting Kindergarten würde die Möglichkeit bieten, Informationen für Eltern über pädagogische und gesundheitliche Fragen zur Verfügung zu stellen (z. B. sprachliche Frühförderung, Kariesprophylaxe, Information über Beißen, Zwicken und Kratzen der Kinder) und damit könnte der Zugang zu Information positiv beeinflusst werden.
Zugang zu Dienstleistungen: Bei sozial auffälligen Kindern könnte über die Kindergärten der Kontakt zum Sozialamt bzw. zur Jugendwohlfahrt hergestellt werden. Resümee: Da der Zusammenhang zwischen Bildung und Gesundheit unbestritten ist, waren sich die Expertinnen und Experten einig, dass das verpflichtende Kindergartenjahr mittelund langfristige Auswirkungen auf die Gesundheit der Fünfjährigen, wie auch auf Pädagoginnen und Pädagogen und Eltern hat. Um das Screening abzuschließen zu können, waren aus Sicht der Expertinnen und Experten keine weiteren Recherchen notwendig. Die Vereinbarung gemäß Art 15a B-VG über die Einführung der halbtägigen, kostenlosen und verpflichtenden frühen Förderung in institutionellen Kinderbetreuungseinrichtungen wird von der Expertengruppe als geeignet für die Durchführung einer Pilot-GFA angesehen. Um das Ausmaß der Gesundheitsauswirkungen auf die identifizierten Zielgruppen zu präzisieren, wie auch Handlungsempfehlungen zur Optimierung der Auswirkungen ausarbeiten zu können, sind die nächsten Schritte der GFA notwendig. So bestünde etwa im Rahmen des eigentlichen Assessments Recherchebedarf hinsichtlich der Umsetzung der Vereinbarung (Überprüfung der Erfüllung, Umsetzung in die Praxis, Ausnahme von Besuchspflicht im Praxiszusammenhang). Folgende nächste Schritte sind daher notwendig: Potentielle positive wie auch negative Gesundheitsauswirkungen des verpflichtenden Kindergartenjahres sollen auf Basis der GFA- Methodologie identifiziert und kontextualisiert werden. Ob sich das verpflichtende Kindergartenjahr auf die primären Zielgruppen (Kinder, Eltern und Erziehungsberechtigte sowie Kindergartenpädagogen/-innen) im gleichen Maße auswirkt oder ob es gesundheitliche Ungleichheiten verstärkt, ist im Rahmen des Pilot-GFA zu beleuchten. In Hinblick auf die aktuelle Prüfung des verpflichtenden Kindergartenjahrs durch den Verfassungsgerichtshof (APA 2011) erscheint es erforderlich, die Wahrung bzw. Verletzung des elterlichen Erziehungsrechtes durch das verpflichtende Kindergartenjahr im Rahmen des GFA-Assessments näher zu betrachten. Ergebnisse der Pilot-GFA werden Empfehlungen zur Optimierung der Gesundheitsauswirkungen beinhalten. Durch eine externe Supervision des Prozesses soll sichergestellt werden, dass die österreichische Pilot-GFA dem internationalen Standard entspricht. Eine Evaluation soll die Erfahrungen der Pilot-GFA für zukünftige GFA-Projekte sichern.
Quellen: APA (2011): Verpflichtendes Kindergartenjahr beim VfGH angefochten. http://derstandard.at/1313024250869/verpflichtendes-kindergartenjahr-beim-vfghangefochten (25.08.2011) Harris, P.; Harris-Roxas, B.; Harris, E.; Kemp, L. (2007): Health Impact Assessment: A Practical Guide, Sydney: Centre for Health Equity Training, Research and Evaluation (CHETRE), S. 36 Public Health Advisory Committee, 2004, S. 22 Regierungsvorlage (2010): 205 Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates XXIV. GP. Roedenbeck, Maja (o.d.): Brauchen wir eine Kindergartenpflicht?; http://www.urbia.de/magazin/kindergartenkind/brauchen-wir-eine-kindergartenpflicht (21. 4. 2010) Schweizer GFA-Plattform 2010: Leitfaden für die Gesundheitsfolgenabschätzung in der Schweiz. Genf Vorblatt (2010): 205 der Beilagen XXIV. GP Vereinbarung Art. 15a B-VG - Materialien