SWR2 Wissen Arthur Miller

Transkript

1 SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Wissen Arthur Miller Kritiker des American Way of Life Von Anna-Dorothea Schneider Sendung: Donnerstag, 08. Oktober 2015, Uhr Redaktion: Anja Brockert Regie: Felicitas Ott Produktion: SWR 2015 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Wissen können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter oder als Podcast nachhören: Die Manuskripte von SWR2 Wissen gibt es auch als E-Books für mobile Endgeräte im sogenannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. Für das iphone oder das ipad gibt es z.b. die kostenlose App "ibooks", für die Android-Plattform den in der Basisversion kostenlosen Moon-Reader. Für Webbrowser wie z.b. Firefox gibt es auch sogenannte Addons oder Plugins zum Betrachten von E-Books: Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/ Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/ oder swr2.de

2 MANUSKRIPT Regie: Leise Musik, darüber Collage: O-Ton 1 (Bill Clinton): Arthur Miller has given our nation some of the finest plays of this century. Arthur Miller hat unserer Nation einige der besten Theaterstücke dieses Jahrhunderts geschenkt. Bill Clinton, 42. Präsident der USA O-Ton 2 (Schmidt): Im Prinzip sind viele seiner Stücke irgendwie aktuell: "The Crucible", "Hexenjagd" zum Beispiel, 1953, Stichwort wäre hier: Massenhysterie, Denunziation, Verfolgung Andersdenkender oder auch "The Archbishop s Ceiling", deutsch etwa "Die Decke des Erzbischofs" von 1977, Stichwort: Überwachung auch die sind natürlich sehr aktuell. O-Ton 3 (Achilles): "Tod eines Handlungsreisenden" war Millers erster wirklich ganz großer Erfolg. Es hat ihn sozusagen zu einer öffentlichen Person gemacht. "Tod eines Handlungsreisenden" gilt auch als eine komplexe Behandlung dessen, was man amerikanischen Traum nennt. Ansage: Arthur Miller Kritiker des American Way of Life. Eine Sendung von Anna Dorothea Schneider. O-Ton 4 (Schmidt): Es ist Millers Plädoyer für die persönliche Würde eines jeden Einzelnen, das den bleibenden Wert seines Stücks ausmacht. Das Stück Tod eines Handlungsreisenden ist das Meisterwerk des Autors Arthur Miller. Die Geschichte um den Vertreter Willy Loman wurde 1949 in New York uraufgeführt und bekam im selben Jahr den Pulitzer-Preis für Drama. Regie Leise Musik / Akzent Alles in Ordnung. Ich bin wieder da. Ja, Willy ist wieder da, um zu sterben. Aber er kehrt immer wieder zurück 2013 und 2014 zum Beispiel auf die Bühnen in Basel, Nürnberg, Dortmund und Gera. Weltweit wird Death of a Salesman seit Jahrzehnten gespielt. 2

3 Regie: Leise Flöten-Musik (siehe Millers Bühnenanweisung zu Beginn des Stücks: "zarte, liebliche Melodie... Ihr Thema sind das Gras, die Bäume und der Himmel.") Vorschlag: Debussy, s.o., darüber: Zitatorin: Willy! Alles in Ordnung. Ich bin wieder da. Zitatorin: Warum denn? Was ist los? (Kurze Pause). Ist was passiert, Willy? Regie: Musik kurz frei "Alles in Ordnung. Ich bin wieder da" ging mir immer und immer wieder im Kopf herum. Eines Morgens begann ich zu schreiben. Ich schrieb den ganzen Tag. Dann aß ich etwas. Am nächsten Morgen hatte ich die erste Hälfte geschafft: den ersten von zwei Akten. Es sollte ungefähr sechs Wochen dauern, bis ich den zweiten Akt beendet hatte. Regie: Musik weg Arthur Asher Miller wurde vor hundert Jahren, am 17. Oktober 1915 in New York geboren. Er starb, fast neunzigjährig, im Jahr Viele seiner Stücke wurden verfilmt. Seine Ehe mit Marilyn Monroe ging durch die Klatschspalten. Mitte der 1950er Jahre stand er auf Hollywoods schwarzer Liste, weil er sich geweigert hatte, ehemalige kommunistische Freunde und Bekannte zu denunzieren. Miller schrieb für Radio, Bühne und Film, verfasste aber auch Romane und Kurzgeschichten thematisierte er antisemitische Strömungen in den USA in dem Roman Focus, der in Deutschland unter dem Titel Brennpunkt erschien. Das Buch verkaufte sich immerhin neunzigtausend Mal. Weltbedeutung erlangte er aber vor allem als Dramatiker. Jochen Achilles, Amerikanist an der Universität Würzburg: O-Ton 5 (Achilles): Miller übersetzt seine Jugenderfahrungen, könnte man sagen, in die tiefgreifende existentielle Verunsicherung von Figuren wie Willy Loman, wodurch sie als Wertunsicherheit der Moderne, als genereller Mangel an normativen Orientierungen aufgefasst werden können. Arthur Millers Vater war als Kind in die USA ausgewandert. Er stammte aus Radomysl, einem Marktflecken im polnischen Galizien, das damals zu Österreich- Ungarn gehörte. In New York hatte er eine florierende Mantelfabrik mit mehreren hundert Mitarbeitern aufgebaut. Arthur wuchs im Wohlstand auf, bis der Börsenkrach von 1929 und die darauf folgende Weltwirtschaftskrise die Aktienpakete des Vaters wertlos machten und seinen Textil-Betrieb in die Insolvenz trieben. Miller Junior selbst hatte schnell noch sein Erspartes, 12 Dollar, von der Bank abgehoben und 3

4 sich ein Fahrrad gekauft. Einen Tag später war die Bank geschlossen, und sein Fahrrad gestohlen. Arthur, der noch zur Schule ging, nahm nun alle möglichen Jobs an. Er wollte nicht nur zum Familieneinkommen beitragen, sondern auch für ein Studium sparen. Der Schock der Weltwirtschaftskrise hat Miller nachhaltig geprägt. In dieser Zeit kam er zum ersten Mal mit den Ideen des Marxismus in Berührung, wie er in seiner Autobiographie Zeitkurven schreibt: Für mich hatte die Vorstellung einer klassenlosen Gesellschaft wie für Millionen anderer junger Menschen damals und heute eine entwaffnende Schönheit, die für den Großmut der Jugend unwiderstehlich war. Wie es schien, war die wahre Natur des Menschen das genaue Gegenteil des von Konkurrenz bestimmten Systems mit all seinem Hass und seinen Intrigen, wie ich es für das normale gehalten hatte. Das Leben konnte ein kameradschaftliches Miteinander sein. Anfang der 1930er Jahre, Miller war gerade siebzehn, schrieb er die Geschichte eines vom Leben enttäuschten jüdischen Handelsreisenden in sein Notizbuch. Dieses Heft fiel ihm später bei einem Umzug wieder in die Hände. Als Student schrieb er die Geschichte um und nutzte dafür die Technik des Stream of Consciousness, des Bewusstseinsstroms. In dieser Version wirft sich der ausgebrannte Handels-Vertreter am Schluss vor einen U-Bahn-Zug. Das Theaterstück, das Miller schließlich daraus machte, gab dem Stoff die Form, in der das Drama bis heute aufgeführt wird. Gründe, es auf die Bühne zu bringen, gibt es genug. Die Amerikanisten Klaus H.Schmidt von der Universität Mainz in Germersheim und Jochen Achilles von der Universität Würzburg: O-Ton 6 (Schmidt): Death of a Salesman enthält zahlreiche Aspekte, die angesichts der derzeitigen Entwicklungen in Deutschland aktueller sind denn je, heute sogar noch relevanter zu sein scheinen als in den 40er Jahren. Zu nennen wären hier nur ein paar Beispiele ein Konkurrenzkampf um Anerkennung, Bildungsvorteile und Ressourcen, der mittlerweile bereits im Embryoalter beginnt; ein von der Werbeindustrie bewusst angeheizter Zwang zum positiven Denken, der bei vielen zu einer Form von Selbsttäuschung führt, die an Realitätsverlust grenzt; ein Materialismus, der fast schon pathologische Züge angenommen hat und dadurch verschärft wird, dass irrationaler Konsum von einem Gefühl der Sinnlosigkeit begleitet wird. O-Ton 7 (Achilles): Die Produktalterung, die Produktvergreisung, ähnlich wie die Frage: Wie lange sollen Menschen arbeiten, was sollen Leute, die etwas älter sind, tun? Müssen die schon aussortiert werden? Kann man ihnen nicht einen Job in New York geben, anstelle sie in Neu-England insgesamt herumfahren zu lassen, weil es für sie zu anstrengend wird? Das sind ja ganz aktuelle Fragen, die keineswegs abgelebt sind. Das Stück Tod eines Handlungsreisenden umfasst die letzten vierundzwanzig Stunden im Leben des Willy Loman. Der Vertreter ist körperlich, seelisch und finanziell am Ende und fragt sich, warum alles schief gelaufen ist. Wer ist für sein Scheitern verantwortlich? Er selbst? Die Söhne? Sein Chef? Die gesellschaftlichen 4

5 Umstände? Die Geschichte spielt irgendwann in den 1930er Jahren: Willy Lohman kehrt vorzeitig von einer Vertreter-Reise zurück, weil er wegen psychischer Probleme nicht mehr sicher Auto fahren kann. Am nächsten Morgen bittet er seinen Arbeitgeber um Versetzung in den Innendienst, wird aber stattdessen gefeuert. Seine Frau Linda weiß, dass Willy sich umbringen will und bittet die Söhne, das zu verhindern. Dem steht jedoch ein schwelender, unlösbarer Konflikt zwischen dem Vater Willy und älteren Sohn Biff entgegen. O-Ton 8 (Schmidt): Millers "Tod eines Handlungsreisenden" wird auch deshalb aktuell bleiben, weil die darin enthaltenen Ambiguitäten Fragen aufwerfen: Wer steht eigentlich im Zentrum des Stücks Willy, sein Sohn Biff oder die amerikanische Familie? Ist Willy ein moderner Jedermann oder doch nur ein Spiegelbild spezifisch amerikanischer Verhältnisse? Willy Lomans letzter Tag vor seinem Selbstmord wird durchbrochen von Rückblenden. Sie zeigen uns seine Erinnerungen und Tagträume: etwa Willys hochfliegende Hoffnungen und Pläne für seine Söhne, seine Bewunderung für seinen älteren Bruder, der ihm als ein fast schon mythischer Selfmademan immer wieder als Vorbild vor Augen schwebt. Sie enthüllen auch seinen Seitensprung mit einer Geschäftspartnerin, bei dem ihn sein Sohn Biff ertappt hat. Das Stück ist eine Art Stationendrama: Gegenwart und Vergangenheit des Willy Loman wechseln ständig ab und durchdringen sich. Entsprechend durchlässig wollte Miller die Bühnendekoration haben. Das Licht sollte die Aufmerksamkeit des Zuschauers lenken. Zu seiner Arbeit als Dramatiker äußerte sich Miller 1987 in einem Interview: O-Ton 9 (Miller): The art of playwriting consists mainly in the manipulation of time. Everything has to be squeezed so that it becomes dramatic. Zitator 1 (overvoice) Die Kunst des Stückeschreibens besteht hauptsächlich darin, die Zeit zu formen. Alles muss verdichtet werden, damit es dramatisch wirkt. Jochen Achilles erläutert Millers Technik etwas genauer: O-Ton 10 (Achilles): Man versucht ein plastisches Theater, "plastic theater", zu produzieren, in dem Außenwelt und Innenwelt ineinander übergehen können, in dem Vergangenheit und Gegenwart ineinander übergehen können, wobei die zeitliche Dimension räumlich visualisiert wird. Man geht an eine andere Stelle und die Vergangenheit kommt zurück. Miller wollte dem "Tod eines Handlungsreisenden" ja zunächst den Titel geben "Im Inneren seines Kopfes"/"The Inside of his head". Man könnte sogar sagen, dass der Bühnenraum streckenweise und zeitweise zu einem veräußerlichten oder nach außen gestülpten, jedenfalls psychologisch zu verstehenden Innenraum wird. Regie: Musik, darüber 5

6 Bis heute erscheint Millers Death of a Salesman überall dort aktuell, wo wirtschaftlicher Erfolg und Berufsarbeit als einzig anerkannter Maßstab für den Wert eines Menschen gelten. In der Figur des Willy Loman führt uns Miller das Konkurrenzdenken vor, das vermeintlich zum wirtschaftlichen Erfolg führt. Willy stachelt seine Söhne von klein auf dazu an, obwohl ihm klar ist: Es gibt einfach mehr Menschen heutzutage. Die Bevölkerung nimmt überhand. Der Wettbewerb ist wahnsinnig! Und sein Sohn Biff stöhnt: In den sechs oder sieben Jahren, seit ich von der Schule bin, habe ich versucht, mich hochzuarbeiten. Als Packer, als Vertreter, in allen möglichen Berufen. Was ist das für eine miese Existenz. Den Sinn seines Lebens darin zu sehen, die und die Ware zu führen, Leute anzurufen, irgendwas zu kaufen oder zu verkaufen. Und immer schneller sein zu müssen als die anderen! Miller zeigt, wie ökonomischer Druck zu falschem positiven Denken führen kann. So redet Willy seinen Söhnen ein, die Schule sei für sie gar nicht so wichtig, da sie ja von Natur aus genügend andere Vorzüge hätten. Über den Nachbarssohn Bernard, der Biff Nachhilfeunterricht gibt, räsoniert er: Bernard kann noch so gute Zeugnisse kriegen, aber draußen im Geschäftsleben, da seid ihr zehnmal besser als der. Das ist ja der Grund, weshalb ich dem Allmächtigen auf Knien danke, dass ihr beide wie die jungen Götter ausseht. Wer im Geschäftsleben aufzutreten versteht, der bringt's zu was. Sei beliebt, und alles andere macht sich von selbst. Willy übersieht dabei jedoch einen wichtigen Punkt: O-Ton 11 (Achilles): Gemocht werden wollen heißt ja auch, sich abhängig machen von der Einschätzung der anderen. Und zwar in einem sehr hohen Ausmaß. Positives Denken und ständiger Zweckoptimismus sind Willy zur Gewohnheit geworden. Alles redet er sich schön und macht damit sich und anderen etwas vor. Als sein Sohn Biff einen Fußball aus der Schule klaut, erklärt Willy, dass Biff ja schließlich mit einem "vorschriftsmäßigen Ball" trainieren müsse und er damit seinen Eifer beweise. Und als Biff Bauholz vom Nachbargrundstück stiehlt, bewundert Willy das als ein wagemutiges Husarenstück. Selbst von seinen Vertreterreisen meldet er Verkaufserfolge, obwohl die Geschäfte immer schlechter gehen. Miller zeigt im Laufe des Stücks, wie solch ein zwanghafter Zweckoptimismus in letzter Konsequenz 6

7 Lebenslügen hervorbringt, die irgendwann aufbrechen und dann nicht nur den Einzelnen zerstören, sondern ganze Familien zertrümmern. Amerikas uneingestandene Religion war die Selbstzerstörung sowohl politisch als auch persönlich. In meinen Augen war die amerikanische Kultur, die freier war als jede andere, eine Kultur des Leugnens. Arthur Miller, Zeitkurven. O-Ton 12 (Schmidt): Der Willy ist zwar verblendet, aber er hat immer wieder Momente, in denen er das eigene Scheitern erkennt. Und das macht ihn tragisch. Dann kommt wieder die Abwehr-Reaktion und er lügt sich wieder in die Tasche und versucht, die Illusion aufrecht zu erhalten. Aber ohne die Illusion wäre er nichts. Deswegen unterstützt auch Linda die Illusion. Sie weiß von Anfang an, dass das eigentlich falsch ist, und unterstützt aber trotzdem seine Illusion, weil ohne die wäre Willy verloren. Die familiären Spannungen der Lomans entlarven ein Gesellschaftssystem, das falschen Werten huldigt. Hieran entzündet sich unter anderem auch der Vater-Sohn- Konflikt. Denn Willys Söhnen Happy und Biff dämmert, dass es kein richtiges Leben im falschen geben kann: Regie: Musik, darüber Weißt du Biff, die um mich herum sind so falsch, dass einem langsam alle Ideale flöten gehen. Wenn wir zusammen sind, Kleiner, dann steht einer für den anderen ein und man hat jemanden, dem man trauen kann. Wenn wir zusammen was machen könnten Nämlich, Hap, wir sind einfach nicht dazu geschaffen, hinter Geld herzujagen. Ich weiß gar nicht, wie man das macht. Ich auch nicht. Regie: Musik Ende Arthur Miller hat sich in seinen Texten immer wieder mit den Mechanismen der Macht und der Unterdrückung beschäftigt, und mit dem Entfaltungsspielraum des Einzelnen in der Gemeinschaft ob Familie, Nachbarschaft oder Staat. O-Ton 13 (Schmidt): 7

8 Im Zentrum seiner Werke steht der Mensch nach dem Sündenfall, der Mensch, der verdrängt, der sich und andere belügt, sich selbst widerspricht und um seine Existenz bangt. Der Autor sieht die Aufgabe des Künstlers darin, uns an das zu erinnern, was wir gerne vergessen würden. Die Depression war nur am Rande eine Sache des Geldes. Im Grunde war sie eine moralische Katastrophe, eine gewaltsame Entschleierung der Scheinheiligkeiten hinter der Fassade der amerikanischen Gesellschaft. Arthur Miller, Zeitkurven. Ein Gesellschafts- und Wirtschaftssystem, das die Leute zu Höchstleistungen anstachelt und sie eiskalt aussortiert, wenn sie müde und krank werden, ist menschenunwürdig. Das erkennt schließlich auch Willy Loman: Regie Leise Musik, darüber: Ich habe vierunddreißig Jahre für die Firma geschuftet, und jetzt kann ich nicht mal meine Versicherung bezahlen. Sie können mich nicht ausquetschen wie eine Zitrone und dann die Schale wegwerfen so kann man mit einem Menschen nicht umgehen! Doch wer im Wettbewerb nicht mithalten kann oder will, wird gnadenlos ausgestoßen. So wie der alt und müde gewordene Willy so wie sein Sohn Biff, der sich nicht anpassen kann. Ich werd' nie eine Führungskraft, Willy, und du auch nicht. Du warst auch nur ein Klinkenputzer wie all die anderen, die sich ihr Leben lang abrackern und dann auf dem Müll landen! Ich bin einen Dollar pro Stunde wert, Willy! In sieben Staaten hab ich's versucht, aber nirgendwo hat man mir mehr bezahlt. Einen Dollar pro Stunde! Begreifst du, was ich damit sagen will? Ich bin ein Nichts, Vater, ein Nichts bin ich! Begreifst du denn das nicht? Misserfolg wird hier als persönliches Versagen begriffen, als eigene Schuld. In diesem System bedeutet Misserfolg zugleich auch Wertlosigkeit. In einer solchen Gesellschaft ist der Mensch, ist ein Menschenleben, kein Wert an sich. Was zählt, ist nur das Geschäft, das Geld. Wie sich einer verhält, ob er moralisch, mitmenschlich oder verantwortlich handelt, zählt nicht. Wahrheit zählt nicht, Gerechtigkeit zählt nicht, Freundschaft zählt nicht. Ist ein Leben unter solchen Bedingungen überhaupt lebenswert? Diese Frage stellen sich die Söhne von Willy Loman. Während der jüngere Bruder Happy sich dem Schönreden des Vaters angleicht, kann Biff seinen inneren Protest nicht zurückhalten. O-Ton 14 (Achilles): Biff ist übrigens auch der einzige Charakter in "Tod eines Handlungsreisenden", der so etwas wie eine Entwicklung durchmacht weg von diesem außen-bezogenen Ich- Ideal, das Willy Loman hat. Er will aus sich heraus sich entwickeln. Auch das hat 8

9 Vorbilder in Amerika, im 19. Jahrhundert. Emerson hat einen Aufsatz geschrieben: "Selbst-Vertrauen", der sehr bedeutsam geworden ist. Dass man aus sich heraus sich entwickelt, ist ja eben auch eine sehr amerikanische Vorstellung. Zu der kehrt Biff am Ende zurück. Ich möchte nur sein, was ich bin, das ist alles. Lässt du mich nun endlich gehen? Und gibst du deine Hirngespinste auf, bevor es zu spät ist? So appelliert Biff an seinen Vater Willy. Man kann Willys "Hirngespinste", seine Tagträume und die illusorischen Pläne, die er für seine Söhne schmiedet, aber auch so sehen wie Klaus H. Schmidt: O-Ton 15 (Schmidt): Willys Hang zu Visionen und Tagträumen ist auch ein Zeichen der Größe und das könnte man vergleichen mit F. Scott Fitzgeralds "The Great Gatsby", dessen Größe ja auch darin besteht, in einer sinnentleerten Welt überhaupt noch zum Träumen in der Lage zu sein, auch wenn die Träume falsch sind oder unerreichbar sind, aber er träumt noch. Willy scheitert auch nicht nur an einer zunehmend entmenschlichten Gesellschaft, sondern er lehnt sich auch dagegen auf, gegen diese neue Gesellschaft, und weigert sich, den Verlust menschlicher Werte zu akzeptieren, wie sein Sohn Biff. Von daher ist er auch irgendwie ein Rebell. Der amerikanische Traum vom "You can make it if you try" erweist sich jedoch am Schluss für Willy Loman als Bumerang. Weil er sein Leben als gescheitert ansieht und er ihm nur noch einen Sinn geben kann, wenn er seiner Familie irgendwie doch noch zu Geld verhilft, begeht der Handelsvertreter Willy Loman am Ende Selbstmord. Er führt absichtlich einen Auto-Unfall herbei und hofft, dass seine Lebensversicherung die Familie von den Schulden befreien und den Söhnen ein Startkapital liefern wird. Er hat nichts dazugelernt. Sein Sohn Biff sagt an seinem Grab: Seine Träume waren falsch. Die waren alle falsch. Er hat nie gewusst, wer er war. Neben der Kritik am Amerikanischen Traum geht es in Arthur Millers Tod eines Handlungsreisenden" um einen Vater-Sohn-Konflikt, ums Altern, die Vergänglichkeit und ums Scheitern. Auch der Autor selbst scheiterte, etwa an seiner zweiten Ehefrau, Marilyn Monroe, die er 1956 geheiratet hatte. Vergeblich kämpfte er gegen ihren Exhibitionismus, ihren Alkoholmissbrauch und ihre Tablettensucht. Hinzu kam Marilyns Hörigkeit gegenüber ihren Ärzten, Psychoanalytikern und Schauspiel- Coaches, die er nicht durchbrechen konnte. Während der Dreharbeiten zu dem Film "The Misfits", dessen Drehbuch er für sie geschrieben hatte, zerbrach die Ehe endgültig. Die dramatischen Erlebnisse mit Marilyn Monroe verarbeitete Arthur Miller später in den Stücken "Nach dem Sündenfall" und "Finishing the Picture". Dafür warfen Kritiker ihm dann selbst Exhibitionismus vor. Es waren immer wieder eigene Lebenserfahrungen, die Miller zum Schreiben anregten: der ökonomische und 9

10 psychische Niedergang seiner Familie nach der Wirtschaftkrise, die Ehedramen mit Marilyn, seine Erfahrungen mit dem Kommunismus und dem Ausschuss für unamerikanische Aktivitäten, vor den er zitiert wurde all diese Erfahrungen flossen in seine Stücke ein. Eines der berühmtesten wurde Hexenjagd von 1953, in dem Miller die McCarthy-Zeit reflektiert. Wie aber gelang es ihm, seine persönlichen Erfahrungen so für die Bühne zu gestalten, dass sie auch heute noch nachempfunden werden können, sogar von Menschen in anderen Ländern und Kulturen? O-Ton 16 (Achilles): "Tod eines Handlungsreisenden" kann man vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise sehen, wenn man das weiß, wenn man das schon mal gelesen hat. Wenn nicht, sieht man einfach eine Verunsicherung durch die Lebensverhältnisse. Und das macht die Stücke von Miller wohl transferierbar. Das ist keine extreme, aufgestylte Avantgardekunst. Seine Handlungen bleiben nachvollziehbar, seine Charaktere verständlich, auch wenn er Zeitebenen miteinander in Beziehung setzt und überblendet. Die schon von Aristoteles im antiken Griechenland beschriebenen Wirkungen der Tragödie Furcht und Mitleid hatte Miller als Autor immer im Blick. Die Furcht der Zuschauer, dass sie ein ähnliches Schicksal ereilen könnte. Das Mitleid der Zuschauer mit den handelnden Charakteren auf der Bühne. Und darum vermutlich funktioniert sein berühmtestes Stück auch in anderen Erdteilen. O-Ton 17 (Achilles): Man muss dazu m. E. aber sagen, dass die Umwelt, das Schicksal, die äußeren Bedingungen bei Miller eben nicht wie in der griechischen Tragödie, ( ) eine total determinierende Rolle spielen. Das Individuum ist nicht nur Opfer. Willy Loman ist einerseits Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse, andererseits hat er aber auch individuelle Schwächen. Miller bringt menschliche und gesellschaftliche Grundprobleme auf die Bühne und stellt die Situation eines Einzelnen so dar, dass sie zum Typischen wird für eine Gesellschaft, aber auch für die Menschheit im Allgemeinen. Dass ihm dies ohne Verflachung gelingt darin besteht eben seine Meisterschaft inszenierte Arthur Miller den "Tod eines Handlungsreisenden" in Beijing. Die Reaktionen des chinesischen Publikums bestätigten ihm: Willy ist repräsentativ für jedes System und für uns alle in der heutigen Zeit. Die Chinesen missbilligten vielleicht seine Lügen, seine Selbsttäuschungen... aber ganz bestimmt erkannten sie sich in ihm wieder und zwar nicht nur als Typ, sondern auch in dem, was er wollte. Er wollte herausragen. Regie: Musik (z.b. Gitarrenklänge aus "No pasarán!" von Rolando Alarcon) 10

11 Wie etliche amerikanische Intellektuelle seiner Zeit hatte der jugendliche Arthur Miller sich vom Marxismus eine Abwehr des Faschismus erhofft. Doch der Ausgang des spanischen Bürgerkriegs und die Moskauer Schauprozesse ab 1936 ernüchterten ihn und viele andere linke Idealisten. Zurück blieb bei Miller zeitlebens eine kritische Haltung zum Kapitalismus und zu allen Ideologien, die ein Machtmonopol für sich beanspruchen. Miller trat immer wieder für Menschenrechte ein am sichtbarsten von 1966 bis 1969 als Präsident der Schriftstellerorganisation PEN. Durch seine Bemühungen um den Ost-West-Dialog wollte er vor allem die Entspannungspolitik fördern und der Zensur von Ostblock-Dissidenten entgegenwirken. Nachdem er in seiner Autobiographie Zeitkurven die Bilanz seines Lebens und seiner Zeit gezogen hatte, gestand Miller 1987 sein erlahmendes Interesse an der zeitgenössischen Literatur: O-Ton 18 (Miller): I am rarely moved by anything any more in literature. I feel there is far more selfconsciousness than I am interested in. I'm not interested in total cynicism, I'm afraid. It sometimes leads to very polished work but it's tiresome, finally. It's like drinking from an empty glass. Zitator 1 (overvoice) In der Literatur bewegt mich nur noch selten etwas. Es ist da sehr viel mehr Selbst- Darstellung vorhanden als mich interessiert. Totaler Zynismus interessiert mich nicht, tut mir leid. Das führt manchmal zu glattpolierten Werken, aber es ist ermüdend, unterm Strich. Das ist wie aus einem leeren Glas zu trinken. In einem Interview für die BBC bekannte sich Miller kurz vor seinem Tod als Atheist. Religionen, so bemerkte der knapp Neunzigjährige damals, würden wieder eine fanatisierende Rolle spielen und er prognostizierte, dass in Zukunft nicht Patriotismus, sondern religiöser Fundamentalismus zu Kriegen führen werde. Arthur Miller starb am 10. Februar Der amerikanische Präsident Bill Clinton würdigte den Autor, der in den USA ehemals unpatriotischer Aktivitäten verdächtigt wurde, mit den Worten: O-Ton 1 (Bill Clinton): Arthur Miller has given our nation some of the finest plays of the century. Arthur Miller hat unserer Nation einige der besten Theaterstücke dieses Jahrhunderts geschenkt. * * * * * 11

12 Literaturangaben: Arthur Miller, "Der Tod des Handlungsreisenden", deutsch von Katrin Janeke, Frankfurt: S. Fischer Verlag 1985/1950 Arthur Miller, "Tod eines Handlungsreisenden", übersetzt von Volker Schlöndorff mit Florian Hopf, Frankfurt: S. Fischer Verlag 2013/1986 Arthur Miller, Zeitkurven. Ein Leben, (Autobiographie, Originaltitel: Timebends) Deutsch von Manfred Ohl und Hans Sartorius, Frankfurt: S. Fischer Verlag, 1987 Weitere Literatur (Auswahl): Rainer Lübbren, Arthur Miller, Velber bei Hannover: Friedrich Verlag 1966 Christopher Bigsby, Arthur Miller. A Critical Study, Cambridge University Press 2005 Jeffrey Meyers, The Genius and the Goddess, Chicago/Urbana: University of Illinois Press 2009 Außerdem interessant: auf youtube: The Atheism Tapes with Jonathan Miller: III. Arthur Miller (Interviews that were left out of "A Rough History of Disbelief", BBC 2004) Link: 12