Der Beginn der Normalität
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- Reinhardt Meyer
- vor 7 Jahren
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1 Der Beginn der Normalität DAS FÜNF-PARTEIEN-SYSTEM ERÖFFNET DER SPD MEHR CHANCEN ALS ZUMUTUNGEN VON WOLFGANG SCHROEDER Soviel Bewegung und Wandel waren selten im deutschen Parteien- I. system, vor allem nicht in so kurzer Zeit. Das hat auch Auswirkungen auf unser strategisches Denken, das sich immer weniger an tradierten Leitbildern und immer mehr an neuen strukturellen Herausforderungen orientieren muss. Gut beraten sind wir deshalb, den Diskurs über die Krise des Parteiensystems und der Volksparteien als beendet zu betrachten. Denn er rekurriert auf normative Grundorientierungen, die so immer weniger anschlussfähig sind und so nicht mehr wiederkehren werden. Wir brauchen einen Perspektivwechsel, wo die mitunter larmoyante Rückschau weder politisch noch intellektuell einen zählbaren Mehrwert oder gestalterische Optionen für die Zukunft bringt. Die SPD als älteste Partei Deutschlands mit ihrer stolzen Tradition sollte diese Herausforderung nicht als Zumutung, sondern als Chance begreifen. Die Parteiendemokratie in ihrem aktuellen Zustand befindet sich in einem strukturell veränderten Kontext, der mit den Begriffen des Fünf-Parteien-Systems und der Transformation der Parteien einhergeht. Wenn das bundesrepublikanische Parteiensystem der Bonner Republik sich ausdifferenziert, führt irgendwann dazu, dass es aufhört zu existieren. Das meint, dass die Situation auf den Wählermärkten und damit die Konkurrenzsituation zwischen den Parteien sich so verändert, dass die Integrations- und Mobilisierungskraft der großen Parteien im Allgemeinen und ihres Verhältnisses zu den mittleren und kleinen Parteien im Besonderen neu zu denken sind. Kein Ausnahmefall Ein wesentlicher Faktor, der die Existenz des gegenwärtig bestehenden Fünf-Parteiensystems verursacht hat, ist die Ausdifferenzierung des linken Lagers in drei Parteien. Ob ein ähnlicher Prozess auf Seiten der rechten Mitte denkbar ist, ist gegenwärtig noch Spekulation. Der Blick auf die Parteiensysteme in den europäischen Nachbarstaaten mit ihren fest etablierten Parteien und Akteuren rechts der Konservativen, aber auch auf die kommu- 27
2 nale Ebene in Deutschland mit ihren kleinen und Kleinst-Gruppierungen jenseits der Volksparteien deuten an, dass die Ausdifferenzierung der deutschen Parteienlandschaft durchaus noch nicht abgeschlossen sein muss. Jedenfalls dürften die 23 Prozent für die SPD vom September 2009 vermutlich kein Ausnahmefall bleiben, sondern sie markieren eher den Beginn einer neuen Normalität. Auch wenn dies keinesfalls bedeutet, dass nicht auch in Zukunft bessere Wahlergebnisse möglich sind und einer SPD-Regierungsbeteiligung nichts grundsätzlich im Wege stehen muss, so geht es doch nicht mehr darum, sich an den westdeutschen Wahlergebnissen der siebziger Jahre zu orientieren, sondern um eine innovative strategische Neupositionierung der SPD im Fünf-Parteiensystem. Dazu bedarf es erstens der Selbstvergewisserung hinsichtlich der eigenen politischen Mission, zweitens eines rationalen, ideologiefreien Blickes auf die sich bietenden machtpolitischen Optionen und drittens mutiger organisationspolitischer Konzepte, um die SPD strukturell zukunftsfähig zu erhalten. Führend im linken Lager Der Ausgangspunkt dieser strategischen Neupositionierung ist es, den Markenkern der SPD so zu positionieren, dass sie als Partei in ihrem Gesellschaftsund Gerechtigkeitsdenken dem Leitbild der solidarischen Arbeitnehmergesellschaft verpflichtet ist. Das heißt im Kern, diese Sozialdemokratie präferiert eine gesellschaftliche Integrationsperspektive durch Erwerbsarbeit. Diese Haltung der erwerbsarbeitsbezogenen Inklusion präferiert eine Integration durch Transferzahlungen bestenfalls als zweitbeste Möglichkeit. Auf dieser Basis beansprucht die SPD sich als hegemoniale Partei im linken Lager zu festigen, ohne ihre Koalitionsfähigkeit zu den Parteien der rechten Mitte einzuschränken. Arbeitnehmerschaft als Kern Dazu gehört auch die Rückgewinnung einer selbstbewussten politischen Körpersprache, die die Deutungshoheit über die Interessen der Arbeitsgesellschaft offensiv für sich in Anspruch nimmt. Denn nicht zuletzt das Spannungsverhältnis zwischen einer ultrarationalen Sachzwangs-Politik einerseits, die die Konsequenzen des demographischen Wandels oder der Globalisierung ohne ein politisches Deutungsangebot an die eigene Klientel durchstellte, und einer gewundenen Politik des schlechten Gewissens andererseits, die getrieben von der Linkspartei das eigene Regierungshandeln sukzessive dementierte, haben maßgeblich zum tiefen Fall der SPD beigetragen. Gefragt ist vielmehr eine Politik, die sich wieder unmittelbar zur Arbeitneh- 28 juli 2010 heft 45
3 wolfgang schroeder der beginn der normalität merschaft als Kern und Magneten einer solidarischen Gesellschaft bekennt und den Zugang zu ihr organisiert, unabhängig von Alter, Herkunft und Geschlecht. Die strategische Chance liegt für die SPD mithin darin, die zentrifugale Entwicklung innerhalb des Parteiensystems, die zur Maximierung des Transfersystems einerseits und radikalem Rückbau des nanny states andererseits tendiert, positiv einzuhegen, um aus dieser Perspektive umgekehrt wieder neue machtpolitische Perspektiven entstehen zu lassen. Denn perspektivisch sind bis auf II. weiteres im Fünf-Parteien-System die wahrscheinlichsten Koalitionsoptionen Dreier-Bündnisse oder die Große Koalition. Minderheitsregierungen wie jetzt in NRW wirken in einer Übergangsphase lediglich als Provisorien und politische Katalysatoren auf dem Weg zu neuen realen Mehrheiten. In diesem neuen Parteiensystem behalten die großen Parteien ihre Dominanz durch ihre relative Größe und die strukturelle Fähigkeit Lager (und perspektivisch Koalitionen) zu bilden und anzuführen. Die alten Volksparteien der Bonner Republik transformieren sich gleichsam zu Führungsparteien im neuen Parteiensystem. Die SPD ist aktuell weder das eine noch das andere: Sie ist einerseits kaum mehr Volkspartei im klassischen Sinne angesichts sinkender Wahlergebnisse sowie Mitgliederzahlen, einer z.t. dramatischen Überalterung der Partei und damit einhergehend der fortschreitenden Erosion der kommunalen Basis. Angesichts dieses Ressourcenschwundes steht die Partei gleichsam vor einem nachholenden Strukturwandel im Bund und in der Fläche, den ihre Milieus (im Westen) oftmals bereits erfahren haben. Vieles deutet darauf hin, dass die Erfahrungen ähnlich schmerzhaft werden. Ein Schlaglicht auf die Herausforderungen werfen die immer größeren Probleme der Gliederungen, kommunale Mandatsträger zu gewinnen sowie die demographischen Realitäten: Von den rund 10 Millionen Wählern, die der SPD im Zeitraum auf Bundesebene abhanden gekommen sind, sind 0,5 Mio. ganz unpolitisch schlicht verstorben. Den Nachteil überwinden Andererseits ist die SPD längst noch nicht strukturell Führungspartei im linken Parteienspektrum angesichts der grassierenden Ausschließeritis. In den vergangenen zehn Jahren endeten nicht weniger als zwei Bundestagswahlen und 15 Landtagswahlen mit einer Mehrheit der linken Parteienfamilie, ohne dass diese durch die SPD in eine Regierungsmehrheit umgesetzt wurde. Aus strategischer Perspektive ergibt sich daraus jenseits aller normativen Begründungszusammenhänge für die 29
4 SPD im Parteienwettbewerb ein struktureller Nachteil. In dieser asymmetrische Lagerstruktur (Raschke/Tils) ist das bürgerliches Lager real und eine machtpolitische Option, das linke Lager jedoch nur in seiner Latenz vorhanden. Selbstbewußt und effizient Die Alternative einer lagerübergreifende Strategie hingegen hat die SPD in den letzten Jahren zwar prominent in Großen Koalitionen realisiert, ohne als Juniorpartner jedoch politisch glücklich zu werden: Die ungeliebte Koalition mit der Union auf Bundesebene war geprägt von einem nachgerade schizophrenen Spannungsverhältnis zur eigenen Regierung, in dem der Dualismus von Kooperation und Konfrontation zu keinem Zeitpunkt konstruktiv aufgelöst wurde. Auch die sozialliberale Koalition und die Ampel existieren heute nicht mehr auf Bundes- oder Landesebene, obwohl sie angesichts der Mehrheiten bei elf Landtagswahlen und zwei Bundestagswahlen rechnerisch möglich gewesen wäre. Für die SPD haben Linkspartei und FDP letztlich einen spiegelbildlichen Effekt: In beiden Fällen ist nur für eine Minderheit innerhalb der SPD eine Koalition überhaupt vorstellbar. Der Rest der Partei lehnt eine Zusammenarbeit ebenso vehement ab. Die Sondierungsgespräche der Parteien in NRW haben deutlich vor Augen geführt, wie stark der politische Entfremdungsprozess im Sinne einer Ideologisierung fortgeschritten ist und durch die Widersprüchlichkeit zwischen Avancen und Affront mittlerweile ein strategisches Kernproblem der SPD darstellt. Gleichwohl verdeutlichen die krisenhaften Entwicklungen innerhalb der schwarz-gelben Regierungsparteien bereits die nächste Veränderung im Parteiensystem an: Es gibt keine Gewissheit mehr und mittlerweile eine immer weiter abnehmende Wahrscheinlichkeit, dass Schwarz-Gelb 2013 einen echten Lager-Wahlkampf führen werden. Vielmehr verdichten sich die Anzeichen, dass sich die FDP angesichts ihrer bisher verheerenden Bilanz innerhalb der bürgerlichen Koalition von der orthodoxen Lagerpartei, quasi der Linkspartei des bürgerlichen Lagers, hin zu einer Scharnierpartei wie den Grünen entwickeln könnte, um ihre Koalitionsoptionen zu maximieren. Für die SPD verschlechtern sich III. die strategischen Perspektiven im neuen Parteiensystem somit nicht zwangsläufig, sofern die Partei Neuaufstellung konsequent im Sinne einer Strategie des Offenlassens fortführt. Wie das gehen kann, zeigt der Blick nach Ostdeutschland. Denn unterhalb der Bundesebene teilt sich das deutsche Parteiensystem nach wie vor in zwei Teile. Das ost- 30 juli 2010 heft 45
5 wolfgang schroeder der beginn der normalität deutsche Sub-System funktioniert auch im Jahr 20 der Deutschen Einheit nach anderen Strukturprinzipien als das westdeutsche, das noch in weit stärkerem Maße auch das Gesamtsystem prägt. Tatsächlich ist Ostdeutschland auch mit Blick auf die Parteienlandschaft Avantgarde wider Willen (Matthias Platzeck) und damit auch für die SPD nolens volens Labor für die Zukunft: Gerade in den ostdeutschen Flächenstaaten sind die großen Parteien nie Volksparteien im westdeutschen Sinne gewesen. Ein wesentlich niedrigerer Organisationsgrad, ein von Beginn an etabliertes Fünf-Parteiensystem mit deutlich nivellierten Mehrheitsverhältnissen und ein funktionsfähiges linkes Lager schaffen für die Ost-SPD grundsätzlich andere Voraussetzungen und strategische Optionen: In der Konsequenz regiert die SPD erfolgreich in vier der fünf neuen Ländern sowohl mit der Linken in Potsdam und Berlin als auch mit der CDU in Erfurt, Magdeburg und Schwerin. In Brandenburg hat die SPD bereits in drei verschiedenen Koalitionen regiert und stellt seit nunmehr 20 Jahren den Ministerpräsidenten. Keine Frage das deutsche Parteiensystem wird ostdeutscher. In den kommenden Jahren wird es für die SPD also darum gehen in einem Fünf-Parteiensystem dies- und jenseits des linken Lagers mehrheits- und regierungsfähig zu werden und zu bleiben. Eine selbstbewusste Verortung als Führungspartei im linken Lager, die strategisch und organisationspolitisch in der Lage ist mit weniger Mitgliedern politisch effizient und partizipatorisch attraktiv zu agieren, wechselnde Koalitionen zu dominieren und zunehmend volatile Wählermärkte anzusprechen, wird dafür die notwendige Bedingung sein. PROF. DR. WOLFGANG SCHROEDER ist Staatssekretär für Arbeit, Soziales, Frauen und Familie des Landes Brandenburg. 31
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