Schlussfolgerungen zu den Materialien Nr. 1-5
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1 Prof. Dr. Wilfried Breyvogel SS 2004 Montag Uhr R11 T00 D05 Vorlesung vom Semesterapparat 132 (miless.uni-essen.de) Schlussfolgerungen zu den Materialien Nr. 1-5
2 1. Die Beispiele jugendlicher Gewalt vom 18. bis zum 20./21. Jahrhundert sollen nicht dazu verleiten, jugendliche Gewalt als natürlich oder wesensbedingt zu betrachten. Statt dessen sollen sie der Einsicht Platz machen, dass heutige, auch in weiten Teilen der Jugend gewaltfreie Umgangsformen erst das Ergebnis eines langwierigen und nicht abgeschlossenen Prozesses der Ächtung, Kontrolle und Erziehung zur Gewaltfreiheit sind. Dieser Prozess der Ächtung und Kontrolle der unmittelbaren körperlichen Gewalt ist in unterschiedlichem Maß von den kulturellen Standards der sozialen Klassen und Schichten mitgeprägt.
3 2. Dieser Prozess der Ächtung, Kontrolle und Erziehung zur Gewaltfreiheit verläuft als sozialer Prozess in Form einer zweifachen, gleichzeitigen Bewegung: Von den Oberschichten zu den Unterschichten und zugleich von Innen nach Außen. Vom Adel zu den Bauern und Knechten, vom Bürgertum zu den Gesellen und Arbeitern, von der Strafe, die sich gegen den Körper richtet (Außen), zu der Selbstkontrolle in der psychischen Instanz des Über-Ichs (Innen).
4 3. Die ersten Formen einer radikalen Mäßigung der Gewaltbereitschaft und die erste Phase ihrer Versportlichung findet sich in der höfischen Form des Turniers ( Jahrhundert). An ihnen knüpfen die studentischen Orden des aufstrebenden Bürgertums an. In der Duellpraxis und in den Fechtkämpfen der schlagenden Verbindungen des 19. Jahrhunderts setzt sich diese Linie eines Gewalt-Agierens bei gleichzeitiger Gewaltkontrolle bis in das 20. Jahrhundert fort. Einen Einschnitt und eine Weiterentwicklung zur Gewaltkontrolle zeigt sich am Beginn des 20. Jahrhunderts in der Kritik der schlagenden Verbindungen in Teilen der Jugendbewegung (Wandervogel, Bündische Jugend ) und der Reformpädagogik.
5 4. Parallel entsteht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein weiterer Regulator der männlichen jugendlichen Gewalt in den unteren sozialen Schichten und der Arbeiterschaft: die Arbeiterbewegung (SPD/Zentrum/Gewerkschaften). Der Rauflust der jungen Männer wird mit kultureller Bildung und Erziehung begegnet. In der frühen Arbeiterbewegung ( ) ist der Bildungsgedanke an den Idealen der deutschen Klassik orientiert (Herder, Schiller, Goethe, Beethoven).
6 Diese Ächtung der Gewalt greift besonders bei den aufstiegs- und bildungsorientierten Jugendlichen der Lehrberufe und der Facharbeiter. Beispielhafte Organisationen sind die Sozialistische Arbeiterjugend (SAJ) und die linkssozialistische Organisation der Kinderfreunde (Kurt Löwenstein, geb. 1885, gestorben 1939), die zwischen SPD und KPD sich besonders der Kindererziehung und der Erziehung zur Demokratie zuwandte.
7 5. Allerdings ist die Stabilität dieser Gewalt-Ächtung noch sehr gering und brüchig wie eine nur leicht gefrorene Eisdecke auf einem See im ersten Novemberfrost. Im Interesse der Verteidigung des Nationalstaats ( , ) und in sozialen und politischen Krisen bricht diese Ächtung zusammen und es existiert eine, bis auf wenige Ausnahmen uneingeschränkte Gewaltbereitschaft gegen den Feind sowohl im Innern wie nach Außen.
8 6. Der Nationalsozialismus ist in dieser geschichtlichen Linie ein mehrfacher Zivilisationsbruch. Das gilt für die Gewalt nach Außen und Innen, gegen die politischen Gegner im Land, das gilt aber auch für die Ausgrenzung und Vernichtung des jüdischen Teils der eigenen Bevölkerung, das gilt für die kriegerische Gewalt gegen Ost und West, Süd und Nord, Europa und die USA. Es gilt aber auch für die Mobilisierungsfähigkeit der Gewalt in allen sozialen Schichten. Von unten betrachtet gilt es besonders für die Gewaltmobilisierung in der SA (Anfang 1933 ca. 1 Millionen Mitglieder i.d.r. bewaffnet ). Von oben betrachtet in der Bereitschaft zum Aufbau der Rüstungsindustrie in Heer, Marine und Luftwaffe.
9 Der Nationalsozialismus wirbelt das zivilisationsgeschichtlich Erreichte durcheinander und ist eine extreme Steigerung der Gewalt in allen sozialen Lagen und Schichten, er ist zugleich ein Höhepunkt ihrer industrialisierten Anwendung von Menschen gegen Menschen. Der Zusammenbruch, die vollständige Niederlage der Deutschen von 1945, ist im Gegenbild eine noch nie dagewesene Form der Niedergeschmettertheit mit Hilfe einer so noch nicht konzentrierten Gegengewalt.
10 7. Gewaltfreiheit, Gewaltverzicht, Gewaltächtung sind daher die absoluten und nicht hinterfragbaren Grundlagen des Selbstverständnisses der Bundesrepublik. Aber ist das schon alles? Der Ost-West-Konflikt, die Re-Militarisierung, die Integration in das westliche Bündnis, die Politik der USA in Korea, Vietnam, der und zuletzt der Krieg gegen den Irak. (Nicht zu vergessen die indirekte Beteiligung der BRD im Jugoslawien-Krieg und die direkte Beteiligung in Afghanistan.)
11 8. Mit anderen Worten, die Zivilisationsgeschichte der Ächtung der Gewalt tritt nach 1945 in eine Geschichte einer neuen, zweiten Ordnung ein. Dabei sind neue theoretische Herausforderungen zu bewältigen: 1.) Die Entwicklung vom industriellen Nationalstaat zur Weltstaaten-Ordnung 2.) Die Entwicklung von der Industriegesellschaft zur postindustriell globalisierten Einwanderungsgesellschaft 3.) Die Entwicklung von der Mehrheitsgesellschaft der Jungen zur Rentnergesellschaft der Alten. Aus meiner Sicht befinden wir uns in der Zeit des Übergangs. Wir sind nicht mehr das eine und auch noch nicht das andere.
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