20 Die Pusher-Symptomatik
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- Lukas Schneider
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1 Die Pusher-Symptomatik Hans-Otto Karnath.1 Beschreibung der Störung 7.2 Ursache 8.3 Lokalisation 210 ) ) D ie meisten Patienten, die nach einem Schlaganfall eine Halbseitenlähmung erlitten haben, sind trotz einer gewissen Unsicherheit ihrer Körperbalance wenige Tage nach dem Insult in der Lage, ihre Haltung so zu kontrollieren, dass sie stabil sitzen und (ggf. mit Hilfe) stehen können. Einige Patienten zeigen dagegen bereits beim Aufrichten vom Liegen in den Sitz am Bettrand, Angst zur nichtgelähmten Seite zu fallen. Mit den nichtparetischen Extremitäten drücken sie sich mit aller Kraft zur gelähmten Seite (. Abb..1). Dieses aktive Drücken der Patienten führte zur Bezeichnung des Störungsbildes als sog.»pusher- Syndrom«(Davies 1985; Karnath u. Broetz 03). Ohne Unterstützung durch den Untersucher drücken sich diese Kranken in eine solche laterale Neigung, dass sie zur hemiparetischen Seite fallen. Dem Versuch, die schräge Körperhaltung passiv durch Aufrichten des Körpers zu korrigieren, wird massiver Widerstand entgegengesetzt weil die Patienten das Gefühl haben zur nichtgelähmten Seite zu fallen. Demgegenüber zeigen sie keine Furcht, wenn ihr eigenes Drücken zu einer instabilen, zur Parese geneigten Körperposition führt. a. Abb..1a,b. Pusher-Symptomatik bei einem rechtshemisphärisch geschädigten Patienten mit linksseitiger Hemiparese. Das charakteristische Merkmal der Erkrankung ist, dass sich die Patienten im Sitzen (a) und im Stehen (b) aktiv mit den nichtgelähmten Extremitäten zur Seite der Hemiparese drücken. Dem Versuch die daraus resultierende Schräglage passiv zu korrigieren, wird heftiger Widerstand entgegengesetzt b
2 .1 Beschreibung der Störung 7! Hirngeschädigte Patienten mit»pusher-symptomatik«drücken sich aktiv mit den nichtgelähmten Extremitäten zur Seite der Hemiparese. Dem Versuch, die daraus resultierende Schräglage passiv zu korrigieren, wird heftiger Widerstand entgegengesetzt. Die Pusher-Symptomatik stellt ein eigenständiges Krankheitsbild dar und ist nicht durch eine andere neuropsychologische Störung wie Neglect oder Anosognosie verursacht (Pedersen et al. 1996; Karnath et al. 00c). Das aktive Drücken mit den nichtparetischen Extremitäten (. Abb..1) unterscheidet dieses Krankheitsbild auch deutlich von dem gelegentlich auftretenden Gleichgewichtsverlust bei Patienten mit Hemiparese. Aufgrund der Lähmung kann es bei letzteren Patienten vorkommen, dass sie das Gleichgewicht verlieren und zur gelähmten Seite fallen. Gegenüber Pusher- Patienten bemerken solche Patienten jedoch den Gleichgewichtsverlust, sind aber aufgrund der Parese nicht in der Lage adäquat zu reagieren.! Das pathologische Drücken stellt ein eigenständiges Krankheitsbild dar und wird nicht durch andere neuropsychologische Störungen, wie z. B. Neglect oder Anosognosie, verursacht..1 Beschreibung der Störung Das auffälligste Merkmal von Pusher-Patienten ist ihre spontan eingenommene, zur gelähmten Seite hin geneigte Körperlängsachse. Die Symptomatik kann je nach Schweregrad unterschiedlich stark ausgeprägt sein und sich im Sitzen und Stehen unterschiedlich zeigen. Am schwersten betroffen sind Patienten, bei denen das seitliche Drücken im Sitzen und Stehen dazu führt, dass sie zur gelähmten Seite fallen, wenn sie nicht gestützt werden. Ein weiteres Merkmal der Pusher-Symptomatik ist der aktive Gebrauch der Extremitäten um die pathologische Lateralneigung der Körperlängsachse herbeizuführen. Im Sitzen wird die nichtgelähmte Hand neben dem Körper auf die Unterlage gestützt und der Ellenbogen aktiv gestreckt (. Abb..1a). Bei Bodenkontakt mit den Füßen wird zusätzlich das Bein zur Seite geführt und im Knie- und Hüftgelenk gestreckt. Beide Aktivitäten führen zu einer Verlagerung des Körperschwerpunktes zur gelähmten Seite. Das dritte Merkmal der Pusher-Symptomatik ist das für diese Patienten so charakteristische Verhalten bei passiver Korrektur zur objektiv aufrechten Position. Auf den Versuch, die Körperlängsachse durch Gewichtsverlagerung aufzurichten oder gar das Gewicht auf die nichtgelähmte Seite zu verlagern, reagieren die Kranken mit heftigem Widerstand. Dieser äussert sich dadurch, dass der Krafteinsatz der im nichtgelähmten, ipsiläsionalen Arm und/oder Bein bestehenden Streckung verstärkt wird.! Die 3 Merkmale der Pusher-Symptomatik sind 1. die zur gelähmten Seite hin geneigte Körpe längsachse, 2. die Vergrößerung der Schubkraft durch Abspreizen und Strecken der nichtgelähmten Extremitäten und 3. das Auftreten von heftigem Widerstand mit den nichtgelähmten Extremitäten bei dem Versuch, die Körperlängsachse passiv durch Gewichtsverlagerung aufzurichten. Den Kranken ist nicht bewusst, dass sie diese Schwierigkeiten haben. Fordert man den sitzenden Patienten auf, sich aus der seitlichen Schräglage aufzurichten, korrigiert er diese nicht, da er sich bereits als aufrecht sitzend empfindet. Versucht man, den Arm und/ oder das Bein, mit dem sich der Patient aktiv zur Seite drückt, von der Unterstützungsfläche abzuheben und passiv zu bewegen, reagiert der Patient mit einer Erhöhung des Widerstandes dieser Extremität und verhindert so die passive Bewegung. Bietet man dem Kranken aber ein Ziel an, das er mit der nichtgelähmten Hand z.b. ergreifen soll, kann er für kurze Zeit das pathologische Drücken aufgeben. Ebenso ist die Symptomatik weniger stark ausgeprägt, wenn auf der nichtgelähmten Seite keine feste Fläche zum Aufstützen mit der Hand vorhanden ist und/oder die Patienten ohne Bodenkontakt der Füße sitzen. Verhindert man unter Laborbedingungen jegliche aktive Bewegungsmöglichkeit des Patienten, in dem man ihn auf einem Stuhl so positioniert, dass der Rumpf seitlich abgestützt ist, die Arme auf den Oberschenkeln aufliegen und die Beine frei hängen, ist ein Pusher-Patient in der Lage, über die visuelle Information der Umgebung (Schränke, Personen, Türen) zu erkennen, wann sein zunächst zur Seite gekippter Körper eine erdvertikale Orientierung erreicht (Karnath et al. 00b). Dies zeigt, dass Pusher-Patienten kognitiv in der Lage sind, mit Hilfe visueller Hinweisreize eine objektiv schiefe von einer objektiv aufrechten Position zu unterscheiden. Jedoch kann diese visuelle Information von den Kranken nicht dauerhaft dazu genutzt werden, ihre eigene Körperposition zu kontrollieren.
3 8 Kapitel Die Pusher-Symptomatik.2 Ursache Karnath et al. (00b) untersuchten die Fähigkeit von Pusher-Patienten, ihre eigene Körperposition in eine erdvertikal aufrechte Position zu orientieren. Hierzu wurde eine Sitzvorrichtung benutzt, mit deren Hilfe die Patienten seitlich nach links und nach rechts gekippt werden konnten, ohne dass sie dabei Kontakt zum Boden hatten. Auf diese Weise ließ sich diejenige Orientierung des Körpers bestimmen, die die Patienten subjektiv als»aufrecht«empfanden. Diese empirisch ermittelte Position wird im Folgenden als»subjektive posturale Vertikale (SPV)«bezeichnet. Die Autoren fanden, dass Pusher-Patienten sich mit geschlossenen Augen in Dunkelheit dann als»aufrecht«orientiert empfanden, wenn ihr Körper im Mittel um 18 zur nichtgelähmten Seite gekippt war (. Abb..2a). Dagegen war ihre Fähigkeit ungestört, einen leuchtenden Stab in Dunkelheit genau erdvertikal zu positionieren. Die Wahrnehmung der sog.»subjektiven visuellen Vertikalen«(hierzu Unter der Lupe 7 Kap. 19) war also ungestört. Ebenso waren diese Patienten bei normaler Beleuchtung und geöffneten Augen in der Lage mit Hilfe visueller Konturen der Umgebung (z.b. Schränke, Türen) zu erkennen, wann ihr Körper eine objektiv erdvertikale Orientierung erreichte (. Abb..2b). Die beiden letzteren Befunde zeigen, dass die Erkrankung offensichtlich nicht durch eine Schädigung der bekannten visuell-vestibulären Integrationsprozesse (7 Kap. 19) zur Wahrnehmung der Orientierung der visuellen Welt bedingt ist.! Pusher-Patienten verarbeiten visuelle und vestibuläre Informationen zur Bestimmung der Orientierung der visuellen Welt normal. Die Erkrankung ist demnach nicht durch eine Schädigung der bekannten visuell-vestibulären Integrationsprozesse bedingt. Dennoch empfinden sich die Patienten mit geschlossenen Augen als»aufrecht«sitzend, wenn sie objektiv zur nichtgelähmten Seite (ipsiversiv) geneigt sind. Man kann also sagen, dass dem pathologischen Drücken von Pusher- Patienten eine ipsiversiv verkippte subjektive posturale Vertikale (SPV), d.h. eine gestörte Wahrnehmung der Körperorientierung in Relation zur Gravitation, zugrunde liegt.! Die Pusher-Symptomatik beruht auf einer fehlerhaften Wahrnehmung der eigenen Körperorientierung im Raum. Mit geschlossenen Augen empfinden Pusher-Patienten ihren Körper als»aufrecht«orientiert, wenn er objektiv erheblich zur nichtgelähmten Seite gekippt ist. l l a Abb..2a,b. Schematische Darstellung der von Patienten mit Pusher-Symptomatik subjektiv als»aufrecht«empfundenen Orientierung ihres Körpers (=»subjektive posturale Vertikale [SPV]«). Das weiße Punktmuster markiert die paretische Körperseite der Patienten. Die SPV wurde bestimmt (a) mit geschlossenen Augen und (b) bei b visueller Exploration der strukturierten Umgebung. Der graue Bereich beschreibt den Sektor, in dem sich die Pusher-Patienten als»aufrecht«orientiert empfanden. Die schwarze Linie innerhalb dieses Bereiches markiert die Achse subjektiver Vertikalität. (Nach Karnath et al. 00b)
4 .2 Ursache 9 Patienten mit Pusher-Symptomatik weisen also ein Missverhältnis zwischen der visuell-vestibulären Information über die erdvertikale Orientierung einerseits und der rumpfbezogenen posturalen Information dieser Orientierung andererseits auf (Karnath et al. 00b). Während die visuell-vestibuläre Information über die erdvertikale Orientierung der visuellen Umwelt im Vergleich zu Gesunden ungestört ist, weist die rumpfbezogene posturale Wahrnehmung der Aufrechten eine ipsiversive Verkippung auf. Wie führt nun eine ipsiversiv verkippte SPV zu dem kontraversiven pathologischen Drücken der Patienten? Eine denkbare Möglichkeit, das pathologische Drücken der Patienten zu erklären, ist, dass die Kranken versuchen, dieses Missverhältnis aufzuheben, indem sie ihren Körper aktiv zur gelähmten Seite drücken. Der»Kompensationsversuch«der Patienten führt objektiv dazu, dass ihr Körper kontraversiv, zur gelähmten Seite verkippt wird. Die Kranken nehmen eine zur Seite der Parese geneigte Körperorientierung ein und verlieren das Gleichgewicht. Der Versuch des Untersuchers, den zur Seite geneigten Körper der Patienten aufzurichten, ist diesem Bemühen, das Missverhältnis zwischen posturaler und visuell-vestibulärer Vertikale aufzuheben, scheinbar entgegengerichtet. Er verursacht das Gefühl seitlicher Instabilität und bedingt so den heftigen Widerstand der Patienten gegen diese Korrekturversuche. Ebenso wäre es aber auch denkbar, dass das kontraversive Drücken der Patienten eine sekundäre Reaktion auf die unerwartete Erfahrung darstellt, dass sie das laterale Gleichgewicht verlieren, sobald sie versuchen, sich aufzurichten und aufrecht hinzusetzen. Die rumpfbezogene posturale Wahrnehmung der Aufrechten weist bei diesen Patienten eine Verkippung um ca. 18 zur ipsiläsionalen Seite auf (Karnath et al. 00b). Wenn die Patienten also versuchen, sich»aufzurichten«und sich in diese subjektiv als»aufrecht«empfundene Sitzposition begeben, kommt es zu seitlicher Instabilität, da sie ihren Schwerpunkt zu weit zur ipsiläsionalen Seite verlagern. Das Drücken des Körpers in die entgegengesetzte Richtung (zur kontraläsionalen Seite) könnte die motorische Reaktion auf diese Empfindung darstellen. Die genaue Klärung der Frage wie eine ipsiversiv verkippte SPV zu einem kontraversiven pathologischen Drücken führt, bedarf also noch weiterer Untersuchungen. Bislang klar und eindeutig belegt ist jedoch, dass der Pusher- Symptomatik ein schweres Missempfinden der eigenen Körperorientierung in Bezug zum Gravitationsvektor zugrunde liegt (Karnath et al. 00b). Wie kann man sich nun die Genese einer verkippten SPV bei ungestörten visuell-vestibulären Integrationsleistungen zur Wahrnehmung der Orientierung der visuellen Welt erklären? Pusher-Patienten empfinden ihren Körper ja zur nichtgelähmten Seite gekippt, obwohl visuell-vestibuläre Informationen über die visuelle Vertikale normal verarbeitet werden. Die genau umgekehrte Konstellation findet sich bei Patienten mit akuten, einseitigen Schädigungen des Vestibularisnervs (Bisdorff et al. 1996). Diese doppelte Dissoziation zwischen Patienten mit Läsionen des vestibulären Systems einerseits und Patienten mit Pusher-Symptomatik andererseits weist darauf hin, dass unser Gehirn zur Bestimmung und Kontrolle unserer Körperorientierung im Raum neben dem bekannten visuell-vestibulären System offensichtlich noch ein weiteres gravizeptives System benutzt.! Das Auftreten der Pusher-Symptomatik zeigt, dass unser Gehirn zur Bestimmung und Kontrolle unserer Körperposition im Raum neben dem bekannten visuell-vestibulären System offensichtlich noch ein weiteres System benutzt, um die Richtung des Gravitationsvektors zu bestimmen (Hypothese über ein zweites Gravizeptionssytem des Menschen). Wie muss man sich die Repräsentation von zwei verschiedenen gravizeptiven Systemen in unserem Gehirn vorstellen? Eine Möglichkeit wäre, dass es sich um zwei anatomisch getrennte neuronale Systeme handelt, die denselben visuellen, vestibulären und propriozeptiven Input erhalten, diesen Input aber unterschiedlich verarbeiten. Während das erste System die afferenten Informationen zur Bestimmung der Orientierung der visuellen Welt nutzt, bestimmt das zweite System auf dieser Basis die Orientierung des Körpers bzw. des Rumpfes in Bezug zum Gravitationsvektor. Eine alternative Erklärungsmöglichkeit wäre, dass beide Gravizeptionssysteme Input von (zumindest teilweise) verschiedenen peripheren Rezeptorsystemen erhalten. Letzteres vermutete Mittelstaedt (1992, 1998). Er nahm an, dass wir durch unsere Sinnesorgane im Kopf und im Nacken (Gleichgewichtsorgan, Muskelspindeln etc.) allein die Orientierung der visuellen Welt und die Orientierung unseres Kopfes zur Erdvertikalen bestimmen, während dagegen die Orientierung unseres Rumpfes mit Sensoren wahrgenommen wird, die unabhängig davon im Rumpf lokalisiert sind. Ein solches rumpfbezogenes Gravizeptionssystem wurde bei Tauben tatsächlich nachgewiesen (Biederman-Thorson u. Thorson 1973; Delius u. Vollrath 1973). Auf dem Hintergrund von Untersuchungen an ge-
5 210 Kapitel Die Pusher-Symptomatik sunden Versuchspersonen sowie an querschnittsgelähmten Patienten, vermutete Mittelstaedt (1998) solche Rumpfgravizeptoren auch beim Menschen. Als eine mögliche Informationsquelle dieses Gravizeptionssystems betrachtete er die Trägheit unserer Körpermasse. Das Blut in den großen abdominalen Gefäßen und/oder die Masse der abdominalen Organe könnten nach Auffassung Mittelstaedts das Substrat dieser Informationsquelle darstellen. Unabhängig davon, welche der beiden Erklärungsmöglichkeiten für die bei Pusher-Patienten zu beobachtende Dissoziation zwischen der posturalen und der visuellen Vertikalen als die wahrscheinlichere angesehen wird, zeigen uns diese Patienten, dass es nach Hirnschädigung offensichtlich zu einer selektiven Störung der Wahrnehmung und Kontrolle der Körperorientierung bei gleichzeitig ungestörter Fähigkeit kommen kann, die Orientierung der visuellen Welt korrekt zu bestimmen. Letzteres weist darauf hin, dass wir neben dem bekannten visuell-vestibulären System offensichtlich über ein weiteres Gravizeptionssystem verfügen. Karnath et al. (00b) vermuteten daher, dass die bei Pusher-Patienten geschädigte Hirnstruktur die neuronale Repräsentation dieses zweiten Gravizeptionssystems des Menschen darstellen könnte..3 Lokalisation Die Pusher-Symptomatik tritt etwa gleich häufig nach links- wie nach rechtshemisphärischen Hirnschädigungen (Pedersen et al. 1996) bzw. etwas häufiger nach rechtshemisphärischen Schädigungen (65% gegenüber 35%; Karnath et al. 00c, 05b) auf. An einer größeren Anzahl von Patienten mit schwerer Pusher-Symptomatik und computer- oder kernspintomographisch nachgewiesener Hirnschädigung untersuchten Karnath et al. (00c, 05b), ob der Erkrankung eine gemeinsame Schädigungslokalisation zugrunde liegt. Tatsächlich ergab die Analyse der Läsionslokalisation ein deutliches, eng begrenztes Maximum im Bereich des linken oder des rechten posterioren Thalamus (. Abb..3). Darüber hinaus zeigte die Untersuchung von Patienten mit links- oder mir rechtsseitigen kortikalen Schädigungen ohne Thalamusbeteiligung, dass Teile der Inselregion und des Gyrus postcentralis an der Kontrolle der aufrechten Körperorientierung beteiligt zu sein scheinen (Johannsen et al. 06). Interessant ist, dass die kortikalen mit den thalamischen Strukturen anatomisch direkt in Verbindung stehen. So ergaben anatomische Studien an Affen, dass die Nuclei ventrales posteriores (VPL/VPM) des. Abb..3. Die Analyse der Läsionslokalisationen einer größeren Anzahl von Pusher-Patienten ergab ein deutliches Maximum gemeinsamer Schädigung im Bereich des linksseitigen oder wie hier dargestellt rechtsseitigen posterioren Thalamus (Karnath et al. 00c, 05b). Darüber hinaus zeigte die Untersuchung von Patienten mit links- oder mit rechtsseitigen kortikalen Schädigungen ohne Thalamusbeteiligung, dass Teile der Inselregion und des Gyrus postcentralis an der Kontrolle der aufrechten Körperorientierung beteiligt zu sein scheinen posterioren Thalamus zum primären somatosensorischen Kortex im Gyrus postcentralis (Brodmann-Areale 3a, 3b, 1 und 2), zum sekundären somatosensorischen Kortex im parietalen Operculum sowie zur Insel projizieren.! Pusher-Patienten weisen typischerweise eine Schädigung des linken oder des rechten posterioren Thalamus auf. Darüber hinaus scheinen auch Teile der Inselregion und des Gyrus postcentralis an der Kontrolle der aufrechten Körperposition im Raum beteiligt zu sein. Aufgrund elektrophysiologischer Befunde an Primaten wie auch psychophysischer Beobachtungen beim Menschen ging man bislang davon aus, dass der posterolaterale Thalamus bzw. einige in diesem Bereich gelegene Kerngebiete lediglich als»relais-station«der vestibulären Projektionsbahn (7 Kap. 19) auf dem Weg vom Hirnstamm zum Kortex dient. Die Befunde von Karnath et al. (00b,c, 05b)
6 .3 Lokalisation 211 zeigen jedoch, dass dies nicht die einzige Aufgabe des posterioren Thalamus ist. Vielmehr scheint der posteriore Teil des Thalamus wie auch Teile der Insel und des primären sensomotorischen Kortex wesentlich für die Kontrolle der aufrechten Körperorientierung im Raum zu sein. Während die von Brandt und Mitarbeitern beobachteten Patienten mit Läsionen des multisensorischen (»vestibulären«) Kortex in der posterioren Inselregion (Brandt et al. 1994) und mit Läsionen des Thalamus (Dieterich u. Brandt 1993b) ebenso wie Patienten mit akuten, unilateralen vestibulären Läsionen (Bisdorff et al. 1996) eine Verkippung der visuellen Vertikalen, nicht aber eine Verkippung oder gar einen Verlust der aufrechten Körperposition im Raum aufwiesen, bewirkt die zur Pusher-Symptomatik führende Läsion im posterioren Thalamus genau das umgekehrte Bild. Pusher-Patienten zeigen eine Verkippung der rumpfbezogenen posturalen Wahrnehmung der Aufrechten bei gleichzeitig ungestörter Verarbeitung visuell-vestibulärer Information über die erdvertikale Orientierung der visuellen Welt. Offensichtlich verarbeiten die beiden Gravizeptionssysteme des Menschen die afferente sensorische Information aus der Peripherie unterschiedlich. Zukünftige Untersuchungen der Pusher-Symptomatik haben zu klären, wie unser Gehirn die Informationen aus den beiden Gravizeptionssystemen kombiniert, um unsere aufrechte Körperposition zu kontrollieren. Zusammenfassung Halbseitig gelähmte Patienten mit Pusher-Symptomatik drücken sich im Sitzen oder Stehen mit den nichtgelähmten Extremitäten mit aller Kraft zur paretischen Seite. Ohne Unterstützung durch den Untersucher geraten diese Kranken in eine solche laterale Neigung, dass sie zur hemiparetischen Seite fallen. Dem Versuch, die schräge Körperhaltung passiv durch Aufrichten des Körpers zu korrigieren, wird heftiger Widerstand entgegengesetzt und die Patienten haben das Gefühl zur nichtgelähmten Seite zu fallen. Die Pusher-Symptomatik stellt ein eigenständiges Krankheitsbild dar und ist nicht durch eine andere neuropsychologische Störung verursacht. Sie beruht auf einer fehlerhaften Wahrnehmung der eigenen Körperorientierung im Raum und tritt typischerweise nach einer Schädigung des linken oder des rechten posterioren Thalamus wie auch Teilen der Insel und des primären sensomotorischen Kortex auf. Mit geschlossenen Augen empfinden Pusher-Patienten ihren Körper als»aufrecht«orientiert, wenn er objektiv zur nichtgelähmten Seite gekippt ist. Demgegenüber verarbeiten die Patienten visuelle und vestibuläre Informationen zur Orientierungswahrnehmung der visuellen Welt normal. Die Erkrankung ist also nicht durch eine Schädigung des bekannten visuell-vestibulären Gravizeptionssystems bedingt. Man nimmt daher an, dass unser Gehirn zur Kontrolle unserer Körperposition im Raum neben diesem System noch ein weiteres Gravizeptionssystem benutzt, um unsere Körperorientierung im Raum zu bestimmen. Bei Pusher-Patienten scheint spezifisch das letztere System gestört zu sein. Es wird vermutet, dass der posteriore Thalamus an der neuronalen Repräsentation dieses zweiten Gravizeptionssystems des Menschen wesentlich beteiligt ist.
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