Olivier M. darf noch nicht sterben
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- Willi Lorenz
- vor 6 Jahren
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1 Olivier M. darf noch nicht sterben Ein 83-jähriger Genfer will mit der Sterbehilfeorganisation Exit aus dem Leben scheiden. Zwei Brüder haben gegen Exit geklagt. Gestern trafen sich die Parteien vor Gericht. Wie autonom ist der Mensch bei der Sterbehilfe? Philippe Reichen Korrespondent, Tages-Anzeiger Olivier M. will sterben. Ginge es nach seinem Willen, wäre er schon seit Tagen tot. Auf den 19. Oktober bestellte der Genfer die Sterbehilfeorganisation, der er seit 1995 als Mitglied angehört, zu sich nach Hause. Wenige Tage vor seinem 83. Geburtstag. Am 1. Oktober schickte Olivier M. seinen sechs noch lebenden Brüdern und Schwestern einen Brief. Er werde nun aus dem Leben scheiden, liess er sie -wissen. Die Brüder Claude und Bernard M. waren erschüttert. Sie weinten vor Trauer. Und sie bebten vor Wut. Natürlich kannten sie die Altersbeschwerden ihres Bruders. Eine Arthrose erschwert Olivier M. das Gehen. Seine Augen sind schwach geworden. Seine Blase bereitet Probleme. Er befürchtet den Verlust seiner Autonomie. Und den Tod seiner Frau vor drei Jahren hat er nicht verwunden. Doch er begleitet die Brüder nach wie vor auf Wanderungen. Und mit seinem zweijährigen Enkel fährt er noch immer Ski. «Ist ein solches Leben denn nicht mehr lebenswert?», fragten sich Claude und Bernard M. «Sind wir nicht alle von Altersbeschwerden betroffen? Ist unser Bruder Olivier nicht einfach lebensmüde, depressiv und damit nicht entscheidfähig? Müsste er sich nicht eher einer Psychotherapie unterziehen?» Vor allem aber zürnten die Brüder gegen Exit: «Was gibt Exit das Recht, dem geliebten Bruder zum Suizid zu verhelfen?» Bruder als Zeuge aufgeboten In ihrer Wut und Verzweiflung wandten sich die Brüder an den Anwalt François Membrez. Dieser reagierte sofort. Membrez reichte in Genf eine Zivilklage gegen Exit ein. Er forderte das Gericht auf, Exit in einer superprovisorischen Verfügung zu verbieten, Olivier M. das todbringende Medikament Natrium-pentobarbital zu besorgen. Das Gericht schützte Membrez Begehren. In der Folge bekam Olivier M. vom Gericht eine Einladung, im Zivilprozess der Brüder gegen Exit als Zeuge auszusagen. Gestern trafen sich die Parteien vor Gericht. Die Einzelrichterin befragte die Parteien während rund eineinhalb Stunden unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die zahlreich anwesenden Journalisten waren erst zu den Plädoyers zugelassen. Ein Beobachter sagte: «Olivier M. wiederholte und bekräftige vor Gericht seinen Sterbewunsch. Er blieb stur und und
2 sagte, niemand könne an seiner Stelle über seine Lebensqualität urteilen. Claude und Bernard M. begründeten ihre Zivilklage mit der Liebe zu ihrem Bruder.» Der Beobachter sprach von einer «Tragödie». Als die Plädoyers der Anwälte anstanden, verliess die -Familie den Saal. François Membrez bezeichnete die -medizinischen Abklärungen im Fall -Olivier M. als «unausgereift» und «unzureichend». Den Gesundheitszustand des 83-Jährigen habe lediglich ein Allgemeinpraktiker aber kein Psychologe und Psychiater abgeklärt. Was Exit da tue, sei eine «unerlaubte Handlung», so Membrez. Diese widerspreche den Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften, welche die Vereinigung für die Therapiemöglichkeiten am Lebensende ausgegeben habe. Darüber hinaus seien Ärzte gemäss Artikel 11 des Betäubungsmittelgesetzes verpflichtet, «Betäubungsmittel nur in dem Umfange zu verwenden, abzugeben und zu verordnen, wie dies nach den anerkannten Regeln der medizinischen Wissenschaften notwendig ist.» Anwalt Membrez forderte die Einzelrichterin auf, gemäss Artikel 28 Ziffer 1 des Schweizerischen Zivilgesetz-buches, «eine drohende Verletzung zu verbieten». Der Neuenburger Anwalt und Exit-Vertreter Yves Grandjean hingegen betonte, Olivier M. leide altersbedingt an mehreren Krankheiten. Er habe das Recht zu sterben und sei mit dem Vorgehen einverstanden. Seine Brüder dürften sich nicht einmischen. Sowieso handle es sich bei den Klägern nicht um direkte Opfer, sagte Grandjean. Die Einzelrichterin wird sich Zeit -lassen und einen Entscheid erst in den nächsten Tagen oder Wochen fällen. Bis dahin bleibt die superprovisorische Verfügung bestehen. Unbesehen davon, wie der Entscheid ausfällt, ist nach der gestrigen Anhörung kaum davon auszugehen, dass Olivier M. von seinem Sterbewunsch ablässt. Pierre Beck, Vizepräsident von Exit Westschweiz, verstand schon im Vorfeld die Aufregung um den Fall nicht. Über die superprovisorische Verfügung sagte Beck: «Einen solchen Entscheid hat es in der Geschichte unserer Vereinigung -bislang nie gegeben. Die Gericht wird uns recht geben.» (Tages-Anzeiger) Erstellt: , 22:23 Uhr 2
3 3 Exit und die Suizidhilfe im Alter Er möchte die Sache zu Ende bringen doch seine Brüder können den Sterbewunsch nicht akzeptieren von Andrea Kucera, Lausanne , NZZ Am Samstag diskutiert Exit über einen erleichterten Zugang zur Suizidhilfe für Betagte. Zwei Genfer Rentnern geht schon die heutige Praxis zu weit. Sie versuchten umsonst, den Suizid des Bruders zu verhindern. Sollen Betagte selber entscheiden dürfen, wann sie gehen? Der 1. Oktober 2016 hat sich den zwei Genfer Geschwistern in schmerzlicher Erinnerung eingebrannt. An jenem Herbsttag erhalten sie einen Brief ihres älteren Bruders. Er werde demnächst mithilfe von Exit aus dem Leben scheiden, schreibt der 82-Jährige, nennen wir ihn André. «Ich weiss, dass euch diese Zeilen schmerzen, aber mein Entscheid steht fest.» Zwei der sieben Geschwister von André können den Sterbewunsch nicht akzeptieren. Sie sind gläubige Christen und entscheiden, die Sterbehilfeorganisation zu verklagen. Weil das Genfer Zivilgericht Ende Oktober eine superprovisorische Massnahme anordnet, muss die Freitodbegleitung suspendiert werden. André ist verzweifelt: Wiederholt ruft er in den Tagen darauf den Anwalt von Exit Westschweiz an und fragt, ob das Gericht endlich entschieden habe. Er möchte die Sache zu Ende bringen. «Er ist nicht urteilsfähig» Die beiden Brüder, 70- und 81-jährig, sind überzeugt, dass Exit gegen das Gesetz verstösst, weil André keine Alternative zum Suizid geboten worden sei. Die Anklage der Brüder basiert auf Artikel 128 des Strafgesetzbuches: Unterlassung der Nothilfe. André sei abgesehen von für sein Alter üblichen Gebrechen gesund, sagen sie der Zeitung «Tribune de Genève». Er leide an einer temporären Depression, weil er vor zwei Jahren seine Lebenspartnerin verloren habe. «Er ist verzweifelt. Er ist nicht urteilsfähig.» Für den Präsidenten von Exit Westschweiz, Jérôme Sobel, ist die Sterbehilfe im Fall von André hingegen vertretbar, weil der Mann unter einer Kombination verschiedener, sich verschlechternder Beschwerden leide. Er sehe immer schlechter, leide unter zunehmenden Gelenkschmerzen sowie Inkontinenz. Und er sei seit 1995 Exit-Mitglied, handle also nicht aus einer vorübergehenden Laune heraus. «Er hat das Recht, über den Zeitpunkt seines Todes zu entscheiden.» Der sogenannte Altersfreitod beschäftigt diesen Samstag auch die
4 4 Mitglieder von Exit Deutsche Schweiz. Exit Deutsche Schweiz und Exit Romandie sind voneinander unabhängige Vereine, die sich aber für dasselbe Anliegen, nämlich selbstbestimmtes Sterben, einsetzen. Gemäss Statuten ermöglicht die Organisation nur dann eine Freitodbegleitung, wenn die Person unter einer hoffnungslosen Diagnose, unerträglichen Beschwerden oder einer unzumutbaren Behinderung leidet. Zudem braucht es eine ärztliche Begleitung. Antragsteller Klaus Hotz fordert nun aber an der kommenden Generalversammlung eine Liberalisierung der Praxis für Betagte, nämlich den Zugang zum Sterbemittel Natrium-Pentobarbital (NaP) für Personen über 80 auch ohne ärztliche Diagnose. «Sterbehilfe für Betagte muss weniger bürokratisch werden», sagte er der «Sonntags- Zeitung». Hotz' Antrag sorgte bereits im Vorfeld der GV für Aufsehen. Freitodbegleitungen für gesunde Alte, das gehe zu weit, kommentierte der «Tages-Anzeiger». Die Zeitung zitierte den Ethiker Markus Zimmermann mit der Befürchtung, die Bedingungen würden Schritt für Schritt weiter ausgeweitet. «Bald wird die Begleitung dementer Menschen diskutiert, dann reicht die Lebensmüdigkeit als Kriterium.» Auf der Vereins-Website definiert Exit Deutsche Schweiz den Altersfreitod wie folgt: Die Organisation verstehe darunter den Sterbewunsch betagter Personen, die an einer «Vielzahl an Gebresten und Gebrechen, die für sich alleine gesehen zwar nicht tödlich sind, aber in ihrer Gesamtheit für die betroffene Person die Lebensqualität unzumutbar beeinträchtigen» litten. André gehört in diese Kategorie. Kein Recht auf Sterbemittel Mit seinem Antrag stösst Hotz in eine rechtliche Grauzone vor. Suizidhilfe ist in der Schweiz legal, sofern die sterbewillige Person urteilsfähig ist und der Sterbewunsch beständig. Strafbar macht sich nur, wer selbstsüchtig handelt (siehe Zusatz). Hingegen besteht kein Anspruch, ein schmerzfreies tödliches Mittel ohne ärztliche Begleitung zu erhalten. Dies geht aus einem vielbeachteten Bundesgerichtsurteil aus dem Jahr 2006 hervor. Die Abgabe bedinge eine eingehende, sorgfältige medizinische Untersuchung und Diagnosestellung, schrieb damals das Bundesgericht. Exit kann also nicht eigenständig über weitergehende Liberalisierungsschritte entscheiden; der Gesetzgeber müsste mit einbezogen werden. Das weiss auch Exit. Der erleichterte Zugang zu NaP für Betagte sei ein langfristiges Ziel, sagt Exit-Sprecher Jürg Wiler auf Anfrage. Es gehe zunächst darum, den Altersfreitod zu enttabuisieren. Für die beiden gläubigen Genfer Geschwister ist dieser Tabubruch inakzeptabel. Sie stellen sich auf den Standpunkt, ihr Bruder sei von der Sterbehilfeorganisation für deren politische Ziele eingespannt und zum
5 5 Suizid gedrängt worden. Exit Westschweiz widerspricht: Dem Sterbewunsch sei bei der ersten Kontaktaufnahme im Jahr 2014 nicht stattgegeben worden, sagte Vizepräsident Pierre Beck im letzten Oktober der Zeitschrift «Illustré». Dem Mann seien damals zwei Ärzte zur Seite gestellt worden. «Jetzt will er, dass man ihn in Frieden lässt.» Vor Gericht abgewiesen Die Wahrscheinlichkeit, dass die Brüder mit ihrem Argument der unterlassenen Nothilfe durchdringen, ist gering. Die Genfer Staatsanwaltschaft entschied am 16. Mai, nicht auf die Strafanzeige gegen Exit einzugehen und kein Verfahren zu eröffnen. Dagegen legten die zwei Brüder Ende Mai beim Obergericht Rekurs ein. Sie sind bereit, bis vor Bundesgericht zu gehen auch wenn ihr Bruder längst tot ist. André hat seine Drohung bereits im letzten November wahr gemacht und ist ohne Beihilfe von Exit aus dem Leben geschieden.
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