Zur Bestätigung wissenschaftlicher Theorien
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- Bernt Thomas
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1 Zur Bestätigung wissenschaftlicher Theorien 1082
2 1083
3 Explanans allgemeine Gesetzmäßigkeiten Wie müssen Explanans und Explanandum aufeinander bezogen sein, damit man von einer erfolgreichen Erklärung sprechen kann? Explanandum das, was die Theorie erklärt 1084
4 Explanans Welt allgemeine Gesetzmäßigkeiten In welchem Verhältnis müssen das Explanans und die Welt stehen, damit es empirisch signifikant und wahr ist? 1085
5 Wie lassen sich Verallgemeinerungen (Theorien) bestätigen, deren Wahrheit wir nicht direkt durch Beobachtung feststellen können? 1086
6 Verifikationismus Falsifikationismus Holismus Konventionalismus Anything Goes Paradigmen und Revolutionen 1087
7 Verifikationismus Die Hypothetisch-Deduktive Methode 1088
8 Eine Hypothese wird durch ihre beobachtbaren Konsequenzen bestätigt bzw. widerlegt. Wenn die beobachtbaren Konsequenzen eintreffen, dann gilt eine Hypothese als (teilweise) bestätigt; sonst als widerlegt. 1089
9 Boyles Gasgesetz P x V = konst. (T = konst.) 1090
10 Boyles Gesetz: Der Druck eines Gases ist bei konstanter Temperatur umgekehrt proportional zu seinem Volumen. Versuchsbedingungen: Das Anfangsvolumen des beobachteten Gases ist 1 Liter. Der Anfangsdruck ist 1 atm. Der Druck wird auf 2 atm erhöht. Die Temperatur bleibt konstant. Beobachtung: Das Volumen verringert sich auf 0,5 Liter. 1091
11 Testschema (H-D Modell) H (Hypothese) A (beobachtbare Testbedingungen) K (beobachtbare Konsequenz) 1092
12 Problem Temperaturen und Drücke lassen sich nicht direkt beobachten. Wir brauchen Thermometer, Druckmesser, eine zuverlässige Gaskammer usw. 1093
13 Jedes reale H-D-Modell benötigt weitere Hilfshypothesen, die die Beobachtbarkeit der Testbedingungen betreffen. 1094
14 Erweitertes Testschema H (Hypothese) A (beobachtbare Testbedingungen) HH (Hilfshypothesen) K (beobachtbare Konsequenz) 1095
15 Das Problem der Alternativhypothesen 1096
16 Jede beliebige (aber endliche) Anzahl von Versuchen kann durch unendlich viele alternative Kurven erklärt werden. Und jede dieser möglichen Hypothesen wäre angesichts der gemachten Versuche gleich gut bestätigt! 1097
17 Immer wenn ein beobachtbares Resultat eines H-D- Tests eine gegebene Hypothese bestätigt, bestätigt dieser Test ebenso unendlich viele andere Hypothesen, die mit der gegebenen Hypothese inkompatibel sind. 1098
18 Wie können wir sicher sein, dass ein Test als Bestätigung für eine bestimmte Hypothese gilt, wenn dieser Test viele weitere, inkompatible Hypothesen bestätigen würde? 1099
19 Das Problem der statistischen Hypothesen 1100
20 Angenommen, wir möchten die Hypothese testen, dass der Gang zur Psychotherapie die Wahrscheinlichkeit der Genesung im Falle einer Depression erhöht. 1101
21 Angenommen, Bruce Brown leidet an Depressionen. Er geht zur Psychotherapie (Randbedingungen) und er gesundet (beobachtbare Konsequenz). 1102
22 Bestätigt dies unsere Hypothese? 1103
23 Ausnahmen bestätigen die Regel! Aus einer statistischen Hypothese kann man nicht ableiten, was tatsächlich passieren wird. Statistische Gesetzmäßigkeiten lassen sich in einem H-D-Modell nicht (so einfach) testen! 1104
24 Das Rabenparadox 1105
25 H-D-Modell Hypothesen werden durch ihre positive Instanzen bestätigt. 1106
26 Äquivalenzbedingung Die Bestätigung einer Hypothese hängt nicht von ihrer Formulierung ab. 1107
27 Kontraposition (P Q) ( Q P) 1108
28 Alle Raben sind schwarz. Alle nichtschwarzen Dinge sind keine Raben. 1109
29 Konsequenz Die Hypothese Alle Raben sind schwarz und die Hypothese Alle nichtschwarzen Dinge sind keine Raben werden durch dieselben Daten bestätigt. 1110
30 Alle Raben sind schwarz. Wir müssen nicht in den Regen hinaus, um Vogelkunde zu betreiben. 1111
31 Reaktionen 1112
32 Hempel: Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass Raben schwarz sind, wird durch die Beobachtung von nichtschwarzen Nicht-Raben tatsächlich erhöht. Jede Beobachtung, die einer Allaussage nicht widerspricht, bestätigt sie. 1113
33 Karl Popper: Hypothesen lassen sich gar nicht bestätigen, allenfalls falsifizieren. Unser Bestreben muss es sein, Hypothesen durch negative Beispiele zu Fall zu bringen. 1114
34 J. L. Mackie: Die Wahrscheinlichkeit für ein beliebiges Objekt, ein schwarzer Rabe zu sein, ist bei weitem geringer als ein nicht-schwarzer Nicht-Rabe zu sein. Deshalb bestätigt die Beobachtung eines schwarzen Raben die Hypothese stärker als die Beobachtung von nicht-schwarzen Nicht-Raben. Die Hypothese wird nur sehr schwach bestätigt. 1115
35 W. V. O. Quine: Gesetze handeln von natürlichen Arten. Nicht-Raben" jedoch stellen ein allenfalls ein buntes Sammelsurium, aber keine natürliche Art dar. Hypothesen, in denen von Nicht-Raben die Rede ist, stellen keine Naturgesetze dar, für die es eine Bestätigung geben könnte. 1116
36 Goodmans neues Rätsel der Induktion 1117
37 Nelson Goodman ( ) Goodman ist ein führender Vertreter der analytischen Philosophie. Er arbeitete zu erkenntnistheoretischen, wissenschaftstheoretischen, sprachphilosophischen und ästhetischen Themenstellungen. The Structure of Appearance (1951); Fact, Fiction, and Forecast (1955); Languages of Art (1968); Ways of Worldmaking (1976) 1118
38 Juli 2013 grün Wir definieren das Prädikat grot, welches eine Eigenschaft bezeichnen soll, die ein Ding besitzt, wenn es vor Juli 2013 grün ist und danach rot. Juli 2013 grot 1119
39 Jetzt untersuchen wir dir folgenden beiden Hypothesen: 1120
40 (1) Alle Smaragde sind grün. (2) Alle Smaragde sind grot. 1121
41 Beide Hypothesen werden bis Juli 2013 durch genau dieselben Evidenzen gestützt grüne bzw. grote Smaragde. 1122
42 Das Auffinden grüner Smaragde bestätigt beide Hypothesen gleichermaßen; das Auffinden andersfarbiger Smaragde würde beide gleichermaßen widerlegen! 1123
43 Alle bisher gefundenen Smaragde waren grün bzw. grot! Beide Hypothesen werden exakt gleich gut bestätigt. 1124
44 Ein im August 2013 gefundenes grünes Ding ist grün; ein grotes ist rot. Grün und grot sind zwei inkompatible Prädikate. Es kann nicht sein, dass beide Hypothesen wahr sind. 1125
45 Jetzt definieren wir das Prädikat Smarose, welches ein Ding bezeichnen soll, das vor Juli 2013 ein Smaragd ist und danach eine Rose. 1126
46 Wir untersuchen dir folgende Hypothese: Jede Smarose ist grot. 1127
47 Jeder bisher gefundene grüne Smaragd stützt diese Hypothese, ebenso wie die Voraussage, dass jede nach Juli 2013 gefundene Rose rot sein wird. 1128
48 Fazit Alles bestätigt alles. Der Begriff der Bestätigung ist daher nutzlos. 1129
49 Goodmans Lösung: entrenchment (Verankerung) 1133
50 Problemstellung Unter allen Verallgemeinerungen, die mit den bisherigen Daten im Einklang stehen, betrachten wir einige (z.b. Jeder Smaragd ist grün. ) als gutartig, und andere (z.b. Jede Smarose ist grot. ) als inakzeptabel. Warum betrachten wir manche Hypothesen als inakzeptabel? 1134
51 Goodmans These Gutartig sind solche Prädikate, die in unserer wissenschaftlichen Praxis verankert sind. 1135
52 Entrenchment Ein Prädikat gilt in unserer wissenschaftlichen Praxis als verankert, wenn es häufig verwendet wurde. Plausibel? 1136
53 Fazit Das H-D-Modell der Bestätigung von Hypothesen hat mit einer Reihe von Paradoxien zu kämpfen. Gelingt es dem Verifikationismus, die Bestätigungs- Beziehung angemessen zu charakterisieren? 1137
54 Falsifikationismus 1138
55 Karl Popper ( ) Popper gilt als einer der einflussreichsten Autoren auf den Gebieten der Wissenschaftstheorie sowie der politischen Philosophie. Er kritisierte den Logischen Empirismus und dessen Sichtweise der wissenschaftlichen Methode. In die politische Theorie ist er als wichtiger Kritiker des Marxismus eingegangen. Popper wurde 1965 von der Queen Elizabeth II geadelt. Logik der Forschung (1934); The Open Society and Its Enemies (1945); Conjectures and Refutations (1965); Objective Knowledge (1972); The Self and Its Brain (1977) 1139
56 Deduktion vs. Induktion 1140
57 Deduktion Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist ein Mensch. Induktion Dieser Rabe ist schwarz. Jener Rabe ist schwarz. Sokrates ist sterblich. Alle Raben sind schwarz. 1141
58 Deduktive Argument sind nicht erkenntniserweiternd: Wir lernen nichts Neues hinzu. notwendig wahrheitserhaltend: Wenn die Prämissen wahr sind, dann muss die Konklusion ebenfalls wahr sein. erosionsbeständig: Zusatzinformationen verändern nicht die Gültigkeit eines deduktiven Arguments. absolut: Die Gültigkeit eines deduktiven Arguments kennt keine Grade. Induktive Argumente sind erkenntniserweiternd: Wir lernen etwas Neues hinzu. nicht notwendig wahrheitserhaltend: Ein induktives Argument kann trotz wahrer Prämissen eine falsche Konklusion besitzen. nicht erosionsbeständig: Neue Prämissen können die Gültigkeit eines induktiven Arguments unterminieren. graduell: Die Prämissen können die Konklusion in unterschiedlicher Stärke stützen. 1142
59 Das klassische Bild Hypothesenbildung und Bestätigung 1143
60 Hypothesenbildung Dieser beobachtete Rabe ist schwarz. Jener beobachtete Rabe ist schwarz. Alle Raben sind schwarz. Bestätigung Alle Raben sind schwarz. Dies ist ein Rabe. Er ist schwarz. Das Aufstellen von Hypothesen geschieht über induktive Verallgemeinerungen, die unsere Beobachtungen zusammenfassen. Wissenschaftliche Hypothesen werden anhand ihrer beobachtbaren Konsequenzen (graduell) bestätigt. 1144
61 Probleme Entdeckungszusammenhang Probleme Rechtfertigungszusammenhang Humes Induktionsskepsis: Es gibt keinerlei Rechtfertigung für induktive Schlüsse. Goodmans neues Rätsel der Induktion: Jede Bestätigung einer Hypothese gilt auch als eine Bestätigung vieler anderer inkompatibler Hypothesen. Das Problem der alternativen Hypothesen: Ein und dieselben Beobachtungen rechtfertigen eine Vielzahl inkompatibler Hypothesen. Hempels Rabenparadox: Hypothesen scheinen sich auch durch irrelevante Beobachtungen stützen zu lassen. 1145
62 Poppers Falsifikationismus Vermutungen und Widerlegungen 1146
63 The work of the scientist consists in putting forward and testing theories. The initial stage, the act of conceiving or inventing a theory, seems to me neither to call for logical analysis nor to be susceptible of it. The question how it happens that a new idea occurs to a man... may be of great interest to empirical psychology; but it is irrelevant to the logical analysis of scientific knowledge. Popper, Logic of Inquiry 1147
64 Hypothesenbildung Entdeckungszusammenhang Wissenschaft beginnt nie mit Beobachtungen (induktiv), sondern immer mit Vermutungen (deduktiv). 1148
65 Bestätigung Rechtfertigungszusammenhang Beobachtungen können zwar nie die Wahrheit wissenschaftlicher Hypothesen begründen (Verifikation), wohl aber ihre Falschheit (Falsifikation). Die Beobachtung eines schwarzen Schwans falsifiziert die Hypothese ein für alle mal, dass alle Schwäne weiß sind. 1149
66 Die Keplerschen Gesetze 1150
67 Kepler entdeckte, dass sich der Mars in einer elliptischen Bahn um die Sonne bewegt. Er stellte die Vermutung an, dass die Bewegung der Planeten entweder zirkulär oder zusammengesetzt aus wenigen zirkulären Bewegungen ist. und bildete drei Hypothesen. 1151
68 1 Der Orbit des Mars ist ein Kreis um ein Zentrum C, welches sich ein wenig von der Sonne entfernt befindet. 2 Der Orbit des Mars setzt sich aus zwei Kreisen zusammen, deren zusammengesetzte Form eiförmig ist, wobei das spitze Ende den sonnennächsten Punkt des Mars bildet. 3 Der Orbit des Mars ist eine Ellipse mit der Sonne in einem der Zentren. 1152
69 Jede der Hypothesen hat er daraufhin sorgfältig mit den empirischen Daten verglichen. 1153
70 Die ersten beiden Vermutungen musste er aufgrund ihrer Nichtübereinstimmung mit den verfügbaren Daten verwerfen; nur die dritte Hypothese widerstand allen ihm verfügbaren Kenntnissen über die Bewegung des Mars. 1154
71 Diese ist als das Keplersche Gesetz in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen. 1155
72 Kepler hat einfache Vermutungen angestellt. Er hat diese mit dem beobachteten Daten verglichen. Er hat diejenigen Hypothesen verworfen, deren Konsequenzen nicht mit den beobachteten Daten im Einklang standen. Hypothesenbildung ist kreativ. Bestätigung ist falsifikatorisch. 1156
73 Probleme 1157
74 Das ist Dr. E. 1158
75 Dr. E. stellt zum Zeitpunkt t 1 eine Theorie T auf. Zu t 1 gibt es noch keine Evidenzen für T, so dass es sich um eine reine Vermutung handelt. 1159
76 Zwischen t 1 und t 2 jedoch haben Dr. E und seine Kollegen gezeigt, dass sich mit T eine ganze Reihe von Beobachtungen erklären lassen. Außerdem haben sie vielen Experimente angestellt, um T zu testen, von denen sich jedes einzelne als Erfolg herausgestellt hat. 1160
77 Intuition Für T hat es zu t 1 keine Rechtfertigung durch Evidenzen gegeben, aber zu t 2 liegen starke empirische Evidenzen für T vor, die uns rechtfertigen, T als eine gute Theorie in der Wissenschaftspraxis weiter zu verwenden. 1161
78 Aus Poppers These folgt, dass sich am Status der Theorie nichts geändert hat. Wenn nur Widerlegungen eine Rolle spielen, dann ist T zu t 2 nur eine Vermutung genauso wie zu t 1. Das ist kontraintuitiv. 1162
79 Bewährungsgrad Je häufiger eine Theorie dem Versuch der Widerlegung widerstanden hat, desto höher ist ihr Bewährungsgrad. 1163
80 Der Begriff des Bewährungsgrades entspricht unserem alten Begriff der (graduellen) Bestätigung einer Theorie (Hypothese), wodurch wir uns genau die Probleme wieder einhandeln, die Popper vermeiden wollte! 1164
81 Verifikation und Falsifikation sitzen im selben Boot! 1165
82 Alle Raben sind schwarz. Es gibt weiße Raben. Diese Aussage lässt sich durch die Beobachtung von schwarzen Raben nur graduell bestätigen. Diese Aussage lässt sich durch die Beobachtung von schwarzen Raben nur graduell falsifizieren. Sie lässt sich jedoch durch die Beobachtung eines einzigen nichtschwarzen Raben ein für alle Mal falsifizieren. Sie lässt sich jedoch durch die Beobachtung eines einzigen weißen Raben ein für alle Mal verifizieren. 1166
83 Fazit Ob sich eine Hypothese absolut oder nur graduell bestätigen bzw. falsifizieren lässt, hängt von ihrer logischen Form und nicht von der angewandten Methode ab. 1167
84 Holismus 1168
85 Pierre Duhem ( ) Duhem war ein bedeutender französischer Physiker und Mathematiker. Er lieferte es sich einen heftigen Disput mit seinem Kollegen Poincaré. Seine Entdeckung, dass bei der Bestätigung einer Hypothese stets ein Gefüge weiterer Annahmen vorausgesetzt werden muss, ist als Duhem-Quine These in die Geschichte eingegangen. The Aim and Structure of Physical Theory (1904/05); The Value of Science (1904/05); Physics of a Believer (1905); To Save the Phaenomena (1908) 1169
86 Kein Experiment ist in der Lage, eine einzelne Hypothese zu falsifizieren. Was auf dem Prüfstand der Erfahrung steht, ist immer eine ganze Theorie, bzw. eine Theorie zusammen mit einem ganzen Netz von Zusatzannahmen. 1170
87 H-D-Testmodell (H & A1 & A2 & A2) O H... Hypothese, die überprüft werden soll A1, A2, A2... Zusatzannahmen und Randbedingungen O... Beobachtungssatz 1171
88 Angenommen, O tritt nicht ein. Dann gilt nicht-o und das impliziert: nicht (H & A1 & A2 & A2) 1172
89 und das ist äquivalent mit: Nicht-H oder Nicht-A1 oder Nicht-A2 oder Nicht-A3 1173
90 Was hat der fehlgeschlagene Test gezeigt? Konnten wir damit die Hypothese tatsächlich falsifizieren? 1174
91 Fazit Wir können aus dem Fehlschlagen eines empirischen Tests nur schließen, dass entweder unsere Hypothese oder eine oder mehrere Zusatzannahmen falsch sind. Weder die Beobachtung noch die Logik kann uns zeigen, welche der Annahmen wir verwerfen sollen! Es steht uns frei zu entscheiden, an welcher Stelle wir Veränderungen vornehmen. 1175
92 Poincarés Konventionalismus 1176
93 Henry Poincaré ( ) Poincaré ist ein bedeutender Mathematiker, Physiker und Wissenschaftstheoretiker, welcher in Paris lehrte. Er interessierte sich für nicht- Euklidische Geometrie, entdeckte einen Vorläufer der speziellen Relativitätstheorie und formulierte wichtige Gesetze in der Chaostheorie. In wissenschaftstheoretischer Perspektive gilt er als Begründer des Konventionalismus. Science and Hypothesis (1902); The Value of Science (1905); Science and Method (1908) 1177
94 Welchen Status haben die Axiome der Geometrie? 1178
95 Kant betrachtete die Axiome der Euklidischen Geometrie als synthetische Urteile a priori (d.h. als Urteile, die vor aller Erfahrung liegen und gleichzeitig als die Bedingung der Möglichkeit der räumlichen Erfahrung gelten). 1179
96 Hilbert und Lobachevsky haben die Geometrie weiterentwickelt und gezeigt, dass sich alternative Geometrien entwickeln lassen, die dieselbe logische und mathematische Legitimität wie die Euklidische Geometrie besitzen. 1180
97 Die geometrischen Axiome sind... weder synthetische Urteile a priori noch experimentelle Tatsachen. Es sind auf Übereinkommen beruhende Festsetzungen; unter allen möglichen Festsetzungen wird unsere Wahl von experimentellen Tatsachen geleitet; aber sie bleibt frei und ist nur durch die Notwendigkeit begrenzt, jeden Widerspruch zu vermeiden... Mit anderen Worten: die geometrischen Axiome... sind nur verkleidete Definitionen. Poincaré, Science and Hypothesis 1181
98 Poincaré stellte verschiedene geometrische Axiomensysteme und deren Anwendungen vor und bezeichnet sie als verschiedene Sprachen. unsere Geometrie ist nicht wahr, sondern sie ist vorteilhaft 1182
99 Welchen Status haben wissenschaftliche Hypothesen? 1183
100 1184
101 Wenn wir ein mathematisches Gesetz finden möchten, das eine gegebene Serie von Beobachtungen beschreiben soll, dann interpolieren wir üblicherweise die einfachste Linie eines gegeben Graphen von Punkten. Diese Entscheidung beruht nicht in der Natur der Sache selbst, sondern sie geschieht rein konventionell. 1185
102 Die tatsächliche Kurve, die wir in unserer Theorie mit mathematischen Mitteln konstruieren, hängt sowohl von der Erfahrung als auch von der Einfachheit der Kurve ab je einfacher die Kurve, desto mehr Punkte werden außerhalb dieser liegen. Einfach aber ungenau, oder kompliziert und genau? Wie entscheiden wir uns? 1186
103 Die interpolierte Kurve das angenommene Gesetz ist keine direkte Generalisierung aus der Erfahrung. Sie korrigiert die Erfahrung! Welche Linie wir wählen (welche Theorie wir favorisieren), hängt von unseren Entscheidungen ab! Obwohl wissenschaftliche Theorien auf Erfahrung beruhen, so sind sie doch weder verifizier- noch falsifizierbar durch die Erfahrung allein! 1187
104 Anything goes 1188
105 Paul Feyerabend ( ) Der österreichische Philosoph Paul Feyerabend beschäftigte sich vorwiegend mit der Wissenschaftstheorie, und den sozialen Folgen der Wissenschaft. In Wider den Methodenzwang behauptete er, dass der Wissenschaftsfortschritt hauptsächlich durch Irrtümer, Irrationalitäten und abgelehnte Theorien zustande gekommen ist. Wider den Methodenzwang (1974); Science in Free Society (1978); Wissenschaft als Kunst (1984) 1189
106 Der Gedanke, die Wissenschaft könne und sollte nach festen und allgemeinen Regeln betrieben werden, ist sowohl wirklichkeitsfern als auch schädlich. Er ist wirklichkeitsfern, weil er sich die Fähigkeiten des Menschen und die Bedingungen ihrer Entwicklung zu einfach vorstellt. Und er ist schädlich, weil der Versuch, die Regeln durchzusetzen, zur Erhöhung der fachlichen Fähigkeiten auf Kosten unserer Menschlichkeit führen muss. Außerdem ist der Gedanke für die Wissenschaft selbst von Nachteil, denn er vernachlässigt die komplizierten physikalischen und historischen Bedingungen des Fortschritts.... Alle Methodologien haben ihre Grenzen, und die einzige Regel, die übrigbleibt, lautet Anything goes. Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang 1190
107 Inkommensurabilität 1191
108 In einigen Fällen können sich die Prinzipien zweier rivalisierender Theorien so radikal voneinander unterscheiden, dass beide Theorien keine einzige Beobachtungsaussage gemeinsam haben! Dann ist es nicht möglich, die beiden Theorien sinnvoll miteinander zu vergleichen. Sie sind daher inkommensurabel. 1192
109 Klassische Mechanik Physikalische Objekte besitzen eine Form, eine Masse und ein Volumen, und diese Eigenschaften können nur durch physikalische Wechselwirkungen verändert werden. 1193
110 Relativitätstheorie Eigenschaften wie Form, Masse oder Volumen existieren nicht als solche. Sie sind abhängig von einem Bezugsrahmen und können daher ohne eine physikalische Wechselwirkung verändert werden, einfach indem man von einem Bezugsrahmen zu einem anderen wechselt. 1194
111 Jeder Beobachtungsaussage über Gegenstände in der klassischen Mechanik kommt eine grundsätzlich andere Bedeutung zu als einer ähnlichen Beobachtungsaussage innerhalb der Relativitätstheorie! Die beiden Theorien sind zueinander inkommensurabel. Wissenschaftlicher Fortschritt ist disruptiv und nicht graduell. 1195
112 Paradigmen und Revolutionen 1196
113 Thomas Kuhn ( ) Kuhn gilt als einer der wichtigsten amerikanischen Wissenschaftstheoretiker. Er lehrte in Berkeley und später am MIT Philosophie und Wissenschaftsgeschichte. Sein wichtigstes Werk Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen schrieb er schon als Student. Er gilt als einer der wichtigsten Kritiker des Falsifikationismus. The Structure of Scientific Revolutions (1962) 1197
114 Wissenschaftlicher Fortschritt geschieht nicht graduell, sondern disruptiv. Er geschieht nicht durch die Anwendung einer bestimmten Methode, sondern durch den Niedergang und Zerfall von Paradigmen. Paradigmen und Revolutionen statt anything goes. 1198
115 Vor-Wissenschaft (keine Prinzipien, keine Methoden) Normalwissenschaft (Prinzipien, Methoden, Schwierigkeiten) Krise (Schwierigkeiten nehmen überhand) Revolution (neue Prinzipien, neue Methoden) Normalwissenschaft (Prinzipien, Methoden, Schwierigkeiten) 1199
116 Paradigmen und Normalwissenschaft 1200
117 Die Probleme und Rätsel eines Paradigmas sind entweder theoretischer Natur (Beispiel: Berechnung der Planetenbewegungen) oder instrumenteller Natur (Beispiel: Präzisierung teleskopischer Betrachtungen). 1201
118 Das Scheitern bei der Lösung paradigmatischer Probleme wird als Scheitern des Wissenschaftlers und nicht als Scheitern des Paradigmas gewertet. 1202
119 Ein Wissenschaftler steht dem Paradigma, in welchem er arbeitet, unkritisch gegenüber. 1203
120 Die Ausbildung eines Wissenschaftlers innerhalb eines Paradigmas besteht im Lösen von Standardproblemen, der Anwendung der Theorie auf Standardsituationen, sowie dem Ausführen von Standardexperimenten, die ihn mit den Methoden und Techniken des Paradigmas vertraut machen. 1204
121 Probleme, die sich einer Lösung widersetzen, werden eher als Anomalien im Paradigma statt als Falsifikationen des Paradigmas betrachtet. 1205
122 Die Normalwissenschaft orientiert sich vorwiegend an Paradigmen, welche die zentralen Fragestellungen, Methoden, sowie zulässigen Lösungswege vorgeben. Probleme, die sich einer Lösung widersetzen, werden in der Regel als Anomalien statt als Falsifikationen des Paradigmas betrachtet. 1206
123 Zu einer Krise kommt es, wenn: eine Anomalie die Grundlagen eines Paradigmas bedroht, sich eine Anomalie nicht länger bagatellisieren lässt, es zu viele Anomalien gibt, die Zeitspanne der Resistenz einer Anomalie zu groß wird, oder sich ein rivalisierendes Paradigma einstellt. 1207
124 Ein neues Paradigma bringt gewöhnlich ganz andere Fragestellungen mit sich. Die Problemstellungen des alten Paradigmas werden als obsolet oder müßig betrachtet. Rivalisierende Paradigmen erachten unterschiedliche Fragen als legitim oder bedeutsam! 1208
125 Die Inkommensurabilität von wissenschaftlichen Paradigmen 1209
126 Weil die Fragen, die Problemstellungen und die Ansicht, was die zu erklärenden die Phänomene sind, für rivalisierende Paradigmen unterschiedlich sind, kann es kein logisches oder empirisches Argument geben, das die Überlegenheit des einen über das andere Paradigma beweist, oder das einen Wissenschaftler zwingen könnte, den Wandel zu vollziehen. Anhänger rivalisierender Paradigmen leben in verschiedenen Welten. 1210
127 Wenn zwei Paradigmen keine wissenschaftlichen Standards miteinander teilen, dann gibt es keine gemeinsamen Voraussetzungen, vor welchen sich stringente Argumentationen für und wider eine Theorie überhaupt entwickeln lassen. Rivalisierende Paradigmen sind einander inkommensurabel! 1211
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