Zwischen Gemeindepsychiatrie und Psychiatriegemeinde. Die Versorgung chronisch psychisch kranker Menschen
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- Maria Althaus
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1 Zwischen Gemeindepsychiatrie und Psychiatriegemeinde Die Versorgung chronisch psychisch kranker Menschen Dirk Richter LWL-Klinik Münster Gemeindepsychiatrie und soziale Integration "Gemeindepsychiatrie bedeutet (...) idealtypisch eine psychiatrische 'Intervention' im Lebenskontext, unter Berücksichtigung von sozialen Faktoren und unter Benutzung von sozialen Beziehungen, und mit der Perspektive der sozialen Eingliederung in das Alltagsleben einer Gemeinschaft." Rudolf Forster: Psychiatriereformen zwischen Medikalisierung und Gemeindeorientierung: Eine kritische Bilanz. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 22 1
2 Kumuliertes Berentungsalter wegen einer schizophrenen Störung (2003) Männer Frauen % 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% Rohm S, Richter D: Frühberentung wegen einer psychischen Störung: Welche Rolle spielt das Geschlecht der Versicherten?, in: Deutsche Rentenversicherung Bund (Hrsg.): Erfahrungen und Perspektiven. Bericht vom Dritten Workshop des Forschungsdatenzentrums der Rentenversicherung. Berlin: DRV 2006, S
3 Integration in die Gemeinde? Leben in der 'Gemeinde' ist nicht gleichbedeutend mit verwirklichter sozialer Teilhabe "Gemeindepsychiatrie" kann heute am besten als Hilfesystem und Ersatzgemeinde verstanden werden, welche die Ausschließung psychisch Kranker aus vielen Teilbereichen der modernen Gesellschaft nicht kompensieren kann rehabilitative Ansätze setzen häufig zu spät an, d.h. im Chronifizierungsprozess, und sind nicht alltagsnah genug konzipiert Gemeindepsychiatrie oder Psychiatriegemeinde psychiatrische Hilfsangebote konzentrierten sich überwiegend an Orten mit hohem Anteil enthospitalisierter Personen Betroffene suchen sich oftmals ein Netzwerk sicherer Anlaufstellen ("safe havens") aus Hilfseinrichtungen und Ko-Betroffenen soziale Unterstützung und Kontakte diskriminierungsfreie Umgebung Nachteil ist die Tendenz zur Ghettoisierung und die Vermeidung 'normaler' Sozialkontakte Rogers A, Pilgrim D: Mental Health and Inequality. Basingstoke: Palgrave Macmillan
4 Exklusion psychisch kranker Menschen (LWL-Klinik Münster, Sommer 2007) F10 F2X F3X MA p keine Berufsausbildung/Studium % 19,6 31,8 23,7 1,9 0,000 aktuelle Partnerschaft % 44,6 34,1 53,3 82,4 0,000 Wohnen mit Partn./eig. Fam.% 37,9 20,5 46,8 66,7 0,001 Voll-/Teilzeitarbeit % 35,1 24,4 41,7 94,3 0,000 Monatseinkommen unter 500 % 25,9 42,9 22,4 4,3 0,000 kein Internetzugang % 44,4 41,2 33,3 5,9 0,005 keine EC-Karte % 26,8 32,5 15,0 5,7 0,003 keine Vertrauenspersonen % 10,7 15,9 13,1 0,0 0,000 Freizeit überwiegend allein % 34,7 30,6 17,6 2,0 0,000 Münsteraner Sozial-Inklusionsindex (D Richter, Th Reker); N = 220 Anteil Personen ohne Vertrauenspersonen (%) 30 29, ,5 5 0 Leben im betreuten Wohnen nicht im betr. Wohn. 0 Mitarbeiter Münsteraner Sozial-Inklusionsindex (D Richter, Th Reker); N = 220 4
5 Anteil Personen, welche die Freizeit überwiegend allein verbringen (%) , , Leben im betreuten Wohnen nicht im betr. Wohn. 2 Mitarbeiter Münsteraner Sozial-Inklusionsindex (D Richter, Th Reker); N = 220 Keine EC-Karte (%) ,5 Leben im betreuten Wohnen 16,7 nicht im betr. Wohn. 5,7 Mitarbeiter Münsteraner Sozial-Inklusionsindex (D Richter, Th Reker); N = 220 5
6 Soziale In-/Exklusion und Behandlungs(miss)erfolg (exzessives Trinken/Entzugsbehandlung) Item Sign. OR 95%-KI zwei und mehr Entzüge letzte 6 Mon. 0,015 2,05 1,14-3,65 Promille Atemalkohol bei Aufnahme 0,038 1,26 1,01-1,59 Socrates Action Taking Aufnahme niedrig (bis 21) 0,033 2,12 1,06-4,23 mittel (21-27) 0,014 2,24 1,17-4,28 hoch (über 27) 1 GAF bei Aufnahme 0,03 0,98 0,96-0,99 Anzahl Vertrauenspersonen post keine 0,047 2,7 1,01-7,21 bis 3 Personen 0,025 1,88 1,08-1,59 mehr als 3 1 Freizeit mit (post) Freunde/Angeh. mit Alkoholproblemen 0,018 2,37 1,16-4,84 alleine 0,025 2,04 1,09-3,80 Freunde/Angeh. ohne Alkoholprobleme 1 Behandlungsdauer bis 7 Tage 0,015 2,91 1,23-6, Tage 0,195 1,62 0,78-3, Tage 0,044 2,19 1,02-4,67 16 und mehr Tage 1 Reker T, Richter D et al.: Kurzfristige Effekte der stationären Akutbehandlung alkoholabhängiger Patienten - eine prospektive, multizentrische Evaluationsstudie. Nervenarzt 75 (2004), Das zentrale Problem......besteht in der deutlich geringer ausgeprägten Adaptionsfähigkeit psychisch kranker Menschen an die Anforderungen der Teilsysteme der Gesellschaft, bedingt durch Behinderungen kognitive Inflexibilität Ausbildungsdefizite biografische Defizite (unbewältigte Lebensaufgaben) z.t. inadäquates Sozialverhalten (Aussehen, Zeitmanagement, Suchtmittelkonsum etc.) Motivationsmangel und soziale Ängste soziale Diskriminierung und Stigmatisierung 6
7 Worauf basiert ein 'erfolgreiches' Leben in der modernen Gesellschaft? "In der individualisierten Gesellschaft muss der Einzelne (...) bei Strafe seiner permanenten Benachteiligung lernen, sich selbst als Handlungszentrum, als Planungsbüro in bezug auf seinen eigenen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu begreifen." Beck U: Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986, S. 217 Lebens-Karriere und Selbst- bzw. Fremdselektion eine 'gelungene' Lebens-Karriere besteht soziologisch aus adäquaten Selbstselektionen des Individuums und Fremdselektionen der sozialen Umwelt: adäquate Angebote an potenzielle Partner, Arbeitgeber etc. (Selbstselektion) Auswahl durch Partner, Arbeitgeber etc. die auf der Attraktivität des Angebots für diese beruht (Fremdselektion) über die tatsächliche Inklusion entscheidet die Anschlussfähigkeit des Angebots! Richter D: Psychisches System und soziale Umwelt: Soziologie psychischer Störungen in der Ära der Biowissenschaften. Bonn 2003: Psychiatrie-Verlag 7
8 Unser Vorschlag Lebensberatung als Empowerment erfolgreiche Arbeitsrehabilitationsprogramme platzieren die Klienten im ersten Arbeitsmarkt und lassen sie durch einen sog. Job Coach betreuen (Supported Empoyment; place and train) Lebensberatung (Life-Coaching) geht über Job-Coaching hinaus: ein LC könnte bspw. KlientInnen zu einem frühen Krankheitsstadium betreuen, um soziale Fertigkeiten zu erhalten und die soziale Exklusion zu verhindern bzw. zu verlangsamen Ziel ist die Befähigung zur Herstellung von Anschlussfähigkeit für soziale Kontakte/Anforderungen Aufgaben eines Lebensberaters I Erlernen von Alltagstechniken: Umgang mit Kritik von Anderen Aufschiebeverhalten vermeiden Durchsetzungsvermögen entwickeln effektiveres Zeitmanagement Frustrationstoleranz aufbauen Unsicherheit aushalten effektiveres Problemlösen... Neenan M, Dryden W: Life Coaching A Cognitive-Behavioural Approach. London: Routledge
9 Aufgaben eines Lebensberaters II Konkrete Fertigkeiten entwickeln und trainieren: Kontaktaufbau zu potenziellen PartnerInnen Überwindung von Schüchternheit Fertigkeiten im Bereich Intimität und Sexualität adäquates Tempo am Arbeitsplatz Umgang mit Lob/Kritik von Vorgesetzten Umgang mit zu hohen/zu niedrigen Anforderungen sportliche Betätigungen mit anderen Menschen aufnehmen... Nelson-Jones R: Life Coaching Skills: How to Develop Skilled Clients. London: Sage 2007 Gegenargumente jeder Mensch sucht sich Gleichgesinnte zur psychosozialen Stabilisierung stimmt, aber viele psychisch kranke Menschen sind einsam bzw. erleben keine Stützung durch ihre sozialen Beziehungen der Ansatz ist normativ, man kann auch ohne Arbeit, ohne Intimbeziehung und ohne soziales Netz glücklich sein normativ stimmt, aber viele psychisch Kranke haben die gleichen normativen Erwartungen; Glück ohne Arbeit, Partnerschaft und sozialem Netz ist eher unwahrscheinlich Psychiatriegemeinde ist Schutz vor der Überforderung stimmt bei einigen Betroffenen, aber wir können vielen mehr zutrauen als wir es momentan machen 9
10 RCT: Individual Supported Employment in verschiedenen europäischen Ländern Burns T et al: The effectiveness of supported employment for people with severe mental illness: A randomised controlled trial. Lancet 370 (2007), Schlussfolgerungen Leben in der 'Gemeinde' ist nicht gleichbedeutend mit sozialer Inklusion wichtige Inklusionsbereiche, Arbeit und Partnerschaft, werden von der Psychiatrie entweder ignoriert oder aber faktisch nicht erreicht rehabilitative Ansätze setzen häufig zu spät an, d.h. mit der Chronifizierung, und sind nicht alltagsnah genug konzipiert Menschen mit Inklusionsbedarf müssen angeleitet, trainiert und unterstützt werden, z.b. durch einen Lebensberater 10
11 Mein Wunsch Projekte zur Prävention sozialer Exklusion und Chronifizierung (z.b. Life Coaching nach Ersthospitalisierungen von Menschen mit Psychosen) gemeinsame Anstrengungen von allen Kostenträgern im psychiatrischen Versorgungssystem (KV, RV, SH) Herzlichen Dank Kontakt: PD Dr. Dirk Richter LWL-Klinik Münster Tel
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