Krippenbetreuung aus entwicklungspädiatrischer Sicht. Cuxhaven/Lüneburg 23./
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- Petra Brinkerhoff
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1 aus entwicklungspädiatrischer Sicht Cuxhaven/Lüneburg 23./
2 Dr. Rainer Böhm Leitender Arzt Sozialpädiatrisches Zentrum Bielefeld - Bethel
3 SPZ Bielefeld
4 Unsere Kinder - Opfer des Fortschritts SPIEGEL online 2008 Die Internetzeitschrift " Edge" versammelt in einer legendären Serie Beiträge der renommiertesten Wissenschaftler der Welt und stellt ihnen unter anderem die Frage: Was halten Sie für wahr, ohne es beweisen zu können? Der amerikanische Psychologe Daniel Goleman antwortet: Ich glaube, kann jedoch nicht beweisen, dass die heutigen Kinder unfreiwillig zu Opfern des wirtschaftlichen und technischen Fortschritts werden, ihre soziale und emotionale Kompetenz droht auf drastische Weise zu verkümmern
5 Unsere Kinder - Opfer des Fortschritts SPIEGEL online 2008 Die zwingendsten Daten bietet eine nationale Erhebung, die Thomas Achenbach von der Universität Vermont bei mehr als dreitausend amerikanischen Schülern im Alter zwischen sieben und sechzehn Jahren durchgeführt hat. Die erste Befragung fand Anfang der Siebziger Jahre statt, eine zweite fast fünfzehn Jahre später und eine dritte in den späten Neunziger Jahren. Die Ergebnisse offenbaren einen bestürzenden Verfall der sozialen und emotionalen Kompetenz.
6 Unsere Kinder - Opfer des Fortschritts SPIEGEL online 2008 Besonders steil ging es zwischen der ersten und der zweiten Umfrage bergab. Gegenüber den frühen Siebziger Jahren waren amerikanische Kinder Mitte der Achtziger stärker verschlossen, mürrisch, unglücklich, ängstlich, depressiv, aufbrausend, unkonzentriert, fahrig, aggressiv und straffällig. Sie schnitten bei 42 Indikatoren schlechter, aber bei keinem besser ab.
7 Unsere Kinder - Opfer des Fortschritts SPIEGEL online 2008 Der rasante Anstieg des globalen Wettbewerbs hatte zur Folge, dass Eltern etwa seit zwei Jahrzehnten länger arbeiten müssen, um den gewohnten Lebensstandard zu halten. In den USA gibt es heute praktisch nur noch Doppelverdiener, wohingegen es vor 50 Jahren die Regel war, dass ein Elternteil zu Hause blieb. Nicht, dass heutige Eltern ihre Kinder weniger lieben würden sie haben einfach nicht mehr genügend Zeit für ihre Betreuung.
8 In Deutschland ist ein vergleichbarer Trend vorhanden (s. Daten der KiGGS-Studie des Robert-Koch-Instituts): Die neue Morbidität wird zu einem großen Teil von Störungen der Entwicklung, der Emotionalität und des Sozialverhaltens bestimmt. Bei 22% aller Kinder und Jugendlichen bestehen Hinweise auf psychische Auffälligkeiten.
9 2007 Krippenoffensive 2008 Kinderförderungsgesetz (KiFöG) Plan: U3-Plätze bis 2013 Rechtsanspruch ab 12 Monate
10 Die Kinderheilkunde in Deutschland hat sich bisher erstaunlich wenig mit dem Thema Krippen auseinandergesetzt: Dr. W. Hartmann Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte : Als Kinder- und Jugendärzte sind wir nicht der Meinung, dass eine frühe Betreuung von Kleinkindern außerhalb des familiären Umfeldes unweigerlich zu seelischen Schäden und frühen Bindungsstörungen führt.
11 Monatsschrift Kinderheilkunde 2008 Zitat: Es gibt keinen einzigen Artikel, der systematisch Daten zum Thema Krippen und Gesundheit in Deutschland in einer Peer-reviewed-Zeitschrift publiziert hat und eine daten-gestützte Antwort gibt auf die Frage, inwieweit mit der Kinderbetreuung in einer Krippe erhöhte (oder auch verminderte) gesundheitliche Risiken verbunden sind.
12 2008 Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin zu Qualitätskriterien institutioneller Betreuung von Kindern unter 3 Jahren (Krippen) Horacek U, Böhm R, Klein R, Thyen U, Wagner F
13 Erneuter Versuch, den wissenschaftlichen Diskurs zum Thema Krippen anzuregen
14
15 USA: child care wars 80er Jahre Versuch, widersprüchliche Beurteilungen durch eine minutiös geplante Studie auszuräumen NICHD-Studie 1364 Kinder ab 1. Lebensmonat regelmäßige längsschnittliche Erhebungen zu Kindesentwicklung und verhalten, Elterndaten (Bildung, Familienstand, sozioökonomischer Status), Eltern-Kind-Interaktion, Bindungsmustern etc. exakte Betreuungsdaten 0 4 Jahre > 900 Jugendliche 15 LJ. > 300 Publikationen J.Belsky
16 modif. nach J.Belsky 2011
17 a
18 J.Belsky 2011
19 Verhaltensweisen, die bei ehemaligen Krippenkindern im Vorschulalter signifikant häufiger auftreten (NICHD-Studie) Selbstbestimmt: Angeben/aufschneiden, viel Beachtung verlangen, streiten, eifersüchtig, Clown spielen, ständig reden, hänseln/ärgern, ungeduldig, viel schreien, trotzig/frech Ungehorsam/widerständig: Dazwischenreden, ungehorsam, aufsässig, stört andere, stört Klasse, Aggressiv: Schlägereien, gemein/grausam, körperlich angreifen, Wutanfälle, zerstört eigene Sachen Insgesamt 20 / 25 Verhaltensweisen der CBCL-Aggressionsskala
20 NICHD-Studie: Nachuntersuchung 15 Jähriger (Vandell 2010) Signifikant vermehrt impulsives und risikoreiches Verhalten, u.a.: Alkoholkonsum Rauchen Drogenmissbrauch Waffengebrauch Stehlen Vandalismus Verhaltensauffälligkeiten nach früher sind auch noch in der Adoleszenz nachweisbar
21 Effekt von Krippe und Kindergarten auf Verhalten und Lernen in Abhängigkeit von Besuchsdauer und Einrichtungsqualität (nach Rossbach HG ) Sozioemotionale Entwicklung Kognitive Entwicklung Krippe (<3Jahre) Kindergarten (3-6Jahre) Krippe (<3Jahre) Kindergarten (3-6Jahre) Dauer leicht negativ 0 0 positiv Qualität 0 leicht positiv positiv (bis leicht negativ) positiv Roßbach HG (2011): Langfristige Auswirkungen außerfamilialer frühkindlicher Betreuung. In: Kißgen, R. & Heinen, N. (Hrsg.): Familiäre Belastungen in früher Kindheit. Früherkennung, Verlauf, Begleitung, Intervention. Stuttgart: Klett-Cotta.
22 Prozessqualität in deutschen Krippen (KRIPS-R / 2007) (N = 109) Sehr gut / gut 2% mittel ~ 2/3 unzureichend ~ 1/3 Tietze W (2007), zit. aus Maywald J (Hg.) Krippen, Beltz 2008
23
24 Stress
25 Stressverarbeitungssystem Anpassung des Körpers an Kampf und Flucht ( fight and flight ) Hypophyse Nebenniere Immunsystem normaler Tages-Cortisolverlauf Grundprinzip Mobilisierung von Energie Hemmung aller Wachstumsprozesse
26 Übermäßig schwerer oder chronischer Stress ist gesundheitsschädlich, vor allem für das Nervensystem Science 1996 Early stress and trauma seem to have a tremendous power in increasing the risk of various psychiatric disorders many years later Robert M. Sapolsky: Why Zebras don t get Ulcers 2004 Harvard University, working paper 2009
27 Vermehrte frühkindliche Stressepisoden erhöhen nicht nur das Risiko für spätere körperliche und seelische Erkrankungen sondern verändern auch dauerhaft die Fähigkeit zur Stressregulation. Meaney M. Environmental programming of stress responses through DNA methylation 2005 Die Einschränkung der Fähigkeit, Stressbelastung angepasst an Umweltanforderungen regulieren zu können, liegt letztlich allen psychischen Störungen zugrunde. Allan N. Schore: Affect Regulation and the Origin of the Self; 1994
28 Nature 2009 Anm.: Die Ringe markieren besonders stressempfindliche Phasen der Hirnentwicklung
29 Bekannte Stressoren in der Kindheit: Hunger, Kälte, Infektion Misshandlung, Missbrauch, Emotionale Vernachlässigung Nanni V et al., Am J Psychiatry. August 14, 2011 Erhöhtes Risiko für wiederholte und langdauernde depressive Episoden (OR 2,3) Erhöhtes Risiko für schlechtes Ansprechen auf Therapie (OR 1,4)
30 Stressfaktor frühe Trennung von Eltern Zahlreiche Tierversuche an Nagern und Primaten weisen nach, dass frühe Trennung von der Mutter zur Veränderung von Hirnschaltkreisen führt, die Stressverarbeitung, Affekte, und Verhalten steuern, und dass dies zu einer abweichenden Aktivität (Steigerung oder Abschwächung) der Stressregulationsachse (HPA) führt. Audrey R. Tyrka, Biol Psychiatry Die einschneidendste und mit Abstand wichtigste psychosoziale Belastung während der Kindheit ist der Verlust von Sicherheit bietenden Bezugspersonen. Rothenberger und Hüther, Prax Kinderpsychol Kinderpsychiatr 1997 Fehlendes Zeitgefühl in den ersten 2 3 Lebensjahren. Kleinkindern fehlt das Bewusstsein, dass die Eltern wiederkommen. Zwingende Notwendigkeit einer feinfühligen und verfügbaren Ersatz-Bindungsperson. Ob eine Sekundärbindung funktionell wirksam ist, kann an der Fähigkeit zur wirksamen Stressreduktion beim Kleinkind abgelesen werden. Gelingt dies in Krippen?
31 Tout K et al., Child Development 1998 Betroffene Kinder: Daycare center 1: Daycare center 2: 73% (hohe Qualität) 96% (mittlere bis hohe Qualität)
32 C.Bindt 2011
33 Selbst in qualitativ guten Krippen zeigt die Mehrheit der Kinder eine gravierende chronische Stressbelastung! Chronischer Cortisolanstieg im Tagesverlauf Vergleichbar mit höchstbelasteten Führungskräften der NASA Folge chronischen Cortisolanstiegs: Allmähliches Absinken der morgendlichen Cortisolwerte (Erschöpfungssyndrom, attenuation hypothesis) z.b. bei regelmäßig von Müttern getrennten Primaten, nach gravierender frühkindlicher Misshandlung, bei Heimkindern/ Adoptivkindern
34 Cortisol-Erschöpfungssyndrom infolge chronischer Stressbelastung n = 65 Eckstein T. et al. Rumänisches Waisenhaus DGPs-Kongress, Bremen 2010
35 Eckstein T. et al.
36 Weitere Stressbelastungs-assoziierte Symptome in Krippen Immunsuppression (z.b. niedriges IgA im Speichel), Gehäufte Infektionen (1,5 bis 4 fach), Mehr Neurodermitis (1,5 fach), Mehr Kopfschmerzen (1,8 fach), Watamura 2010 Heinrich 2007 Cramer 2011 Gärtner 2010 Emotionale Dysregulation bei/nach Abholen, Ahnert 2000
37 Langzeiteffekte auf Stressregulation?
38 NICHD-Kollektiv: 863 / 1364 Studienteilnehmer (15-jährige) Messung des morgendlichen Speichel-Cortisolwerts und multivariate Analyse Ergebnisse: Signifikant niedrigeres Morgen-Cortisol bei 2 Gruppen : Emotionale Vernachlässigung im Kleinkindalter (insensitive mothering = abweisend, feindselig, intrusiv) in größerem Zeitumfang Effekte gleich stark Effekte additiv (d.h. die Krippe konnte den negativen Effekt eines vernachlässigenden familiären Umfelds nicht kompensieren) Effekte unabhängig von Betreuungsqualität
39 Zusammenfassung verursacht Auffälligkeiten im Sozialverhalten im Vor- und Grundschulalter, unabhängig von der Einrichtungsqualität. Verhaltensauffälligkeiten sind auch noch im Alter von 15 Jahren nachweisbar. führt, weitgehend unabhängig von der Einrichtungsqualität, zu bedenklicher chronischer Stressbelastung bei einem Großteil der Kinder. Diese ist im Ausmaß mit gravierender emotionaler Vernachlässigung vergleichbar. Stress in Krippen führt zu deutlich vermehrter Krankheitsbelastung. Es lassen sich dauerhafte Veränderungen der neurohormonalen Stressverarbeitung nachweisen. Es ist von einem langfristig erhöhten Risiko für psychische Störungen auszugehen, insbesondere prognostisch ungünstige, da schlecht behandelbare Depressionen.
40 Frühkindliche Gruppentagesbetreuung Vorschlag für eine entwicklungsmedizinisch evidenzbasierte Empfehlung 1. Keine Gruppentagesbetreuung unter zwei Jahren 2. Zwischen 2. und 3. Geburtstag maximal halbtägige Betreuung (bis 20 Wochenstunden) 3. Ab drei Jahren halbtägige oder ganztägige Betreuung möglich (je nach individueller Bereitschaft) 4. Grundsätzlich hohe Qualität notwendig
41 Übersichtsarbeit zum Thema R.Böhm (2011), Kinderärztliche Praxis 82 (5),
42 Weiterführende Informationen (u.a. zur DGSPJ-Tagung 2011)
43 Empfehlenswerte Literatur zum Thema
44 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit
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