Befunde und Einschätzungen zum deutschen Kinderschutzsystem -

Ähnliche Dokumente
Gelingende Kooperation im Kinderschutz. - Aus Fehlern lernen -

Dürfen Fehler in der Jugendhilfe vorkommen Betrachtung aus der Sicht eines systemischen Risikomanagement

Die insoweit erfahrene Fachkraft nach SGB VIII auch für uns?

AKTUELLE HERAUSFORDERUNGEN & STOLPERSTEINE IN DER KOOPERATION

Lernen aus problematischen Kinderschutzverläufen

Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit zwischen Fachkräften der Gesundheits- und der Jugendhilfe

DIE BEDEUTUNG VON PROFESSIONALITÄT IM KINDERSCHUTZ

WARUM SICH FREIWILLIGKEIT UND ZWANG NICHT ZWISCHEN JUGENDÄMTERN UND ANBIETERN VON HILFEN AUFTEILEN LÄSST

Kinder- und Jugendschutz

Ungeplante Beendigungen in der Heimerziehung. Georg Ritter, Soziale Dienste, Universitätsstadt Siegen,

Leitbild für flexible Erziehungshilfen

Bedeutung der sozialpädagogischen Diagnostik. Sara Graute Marco Cabreira da Benta

Fachliche Weiterentwicklung und finanzielle Steuerung der Hilfen zur Erziehung

Kooperation und Vernetzung im Kinderschutz

Die Erziehungs- und Bildungsressourcen der Pflegefamilie stärken

Good practice vor Ort. Aufbau von Beratungsnetzwerken für junge Familien am Beispiel der Netzwerke Frühe Hilfen

Aus Fehlern lernen. Qualitätsmanagement im Kinderschutz

Qualitätszirkel Offene Ganztagsschulen im Kreis Borken 2

Forum: Jugendwohlgefährdung oder Kindeswohlgefährdung bei Jugendlichen

Kernbefunde aus dem Projekt Migrationssensibler Kinderschutz

Jeder ASD ist irgendwie anders!

Inhalt. Teil I Grundlagen. Einführung 11

Kinderschutz als gemeinsame Aufgabe von Jugendhilfe und Gesundheit Zur Rolle der Jugendhilfe im Fallmanagement und gesetzliche Mindeststandards

Unterstützungsmöglichkeiten im Rahmen einer Familienhilfe. Bezirksamt Spandau von Berlin Abteilung Jugend, Bildung, Kultur und Sport

PROFESSIONELLER KINDERSCHUTZ HANDELN IM SINNE DER VERANTWORTUNGSGEMEINSCHAFT

leistungsleitlinien bundesstiftung frühe hilfen zur Umsetzung des fonds frühe hilfen

Grundsätze und Maßstäbe zur Bewertung der Qualität einer insoweit erfahrenen Fachkraft - Orientierungshilfe für Jugendämter

Die Sicht der Jugendhilfe

Qualifizierte Rückführung

Leistungsbeschreibung für das Angebot Erziehungsbeistand / Betreuungshelfer

Bundeskinderschutzgesetz Entwicklungsperspektiven für die Frühen Hilfen

Verdacht und Verdachtsarbeit als Analysefolie aktueller Kinderschutzherausforderungen

Schnittstellen zur Sozialhilfe und Neuerungen im Kindesschutz

Kreis Warendorf Hebammen im Rahmen Frühe Hilfen und HZE. Fachtag Krefeld

Frühe Hilfen eine erfolgreiche Strategie zur Prävention von Kindeswohlgefährdung?

3. Fachtag Kinderschutz Teltow-Fläming Schutzauftrag in Kindertagesstätten. Bundeskinderschutzgesetz BKiSchG

Bundeskinderschutzgesetz

Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Gesundheitswesen in den Frühen Hilfen

Die Weitervermittlung an das Jugendamt

Kinderschutz im Dialog

Kinderschutzteam Olgahospital eine Kooperation zwischen Jugendamt Stuttgart und Klinikum Stuttgart

Leitfaden zur Risikoeinschätzung im Kontext von Kindeswohlgefährdung. ( 8a SGB VIII)

Gute Schule in Spandau

LVR-Landesjugendamt. Junge Kinder in den Angeboten der stationären Erziehungshilfe

Kinderschutz an der Schnittstelle von Jugendhilfe und Schule

Care Leaver Armut nach staatlicher Hilfe. Dr. Hans-Ullrich Krause IGFH ASH berlin Kronberger Kreis f. dialogische QE

NETZWERKARBEIT IM KINDERSCHUTZ MÖGLICHKEITEN DER ZUSAMMENARBEIT DER INSOWEIT ERFAHRENEN FACHKRÄFTE

Partizipation von Kindern und Jugendlichen: Rechtliche, fachliche und soziale Dimension Rechtliche Dimension: VN-Kinderrechtskonvention Grundgesetz

HANDLUNGSSCHRITTE IN DEN FRÜHEN HILFEN BEI GEWICHTIGEN ANHALTSPUNKTEN FÜR EINE KINDESWOHLGEFÄHRDUNG

CM in der Jugendhilfe

Rechtliche Aspekte der Kooperation und notwendiges Handeln bei Betreuungskrisen von Jugendlichen (Deutschland)

Das Leistungsspektrum der erzieherischen Hilfen und der Inobhutnahmen als Reaktion auf Gefährdungslagen

Inhalt. Rechtsgrundlagen im SGV VIII Perspektivenplanung in der Hilfeplanung Die Herkunftsfamilie Die Pflegefamilie

Teil 1: Institut für soziale Arbeit. Projektgruppe I - Kindeswohl(-gefährdung) - Was heißt das? Workshop 2 Mittwoch,

Beteiligung von Kindern und Eltern im Kinderschutz. Prof. Dr. Ulrike Urban-Stahl FU Berlin

Beobachten- Einschätzen- Handeln. Die Handlungsschritte des ASD im Spannungsfeld zwischen Normalität und Kindeswohlgefährdung

Erkennen von und professioneller Umgang mit sexuellem Missbrauch

Jugend-RS Nr. 1 /2014 Insoweit erfahrene Fachkraft ( 8a, 8b Abs. 1 SGBVIII und 4 Abs. 2 KKG)

Kinderschutz im Bezirk Pankow (Neuentwicklung Vernetzung und Frühe Hilfen)

Die Rückkehr einer autoritären Jugendhilfe? Kontrolle und Strafe unter dem Deckmantel von Schutz und Fürsorge

Wege und Grundlagen zu einer Kooperationsvereinbarung zwischen Jugendhilfe und Schule. Ute Buggenthin / Christian Lang

Landkreis Cloppenburg 51.4 Jugendamt Bundeskinderschutzgesetz: Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG)

REGIONALKONFERENZ IN SCHLESWIG-HOLSTEIN SICHERE ORTE SCHAFFEN PRÄVENTION VON SEXUELLEM KINDESMISSBRAUCH

4. Statement: Pflegekinder mit Behinderung

Magistrat der Universitätsstadt Marburg, Jugendamt. Thesen zum Thema

Die Ersetzung der Einwilligung in die Adoption

Landratsamt Karlsruhe Fachbereich III - Jugendamt

Inhalt. Einleitung 11. Teil I Grundlagen 15

Kinderschutz und frühe Hilfen für Familien

Freiheitsentziehende Maßnahmen: Sackgasse oder Chance?

Kinderschutz im Alltag von Kinderbetreuungseinrichtungen

Rückkehr als Option. 1. Ein kurzer Rückblick auf die Entstehung des Modellprojektes.

Stand: Kinder- und Jugendhilfe in der 19. LP

Pflichten, Rechte und Grenzen der Heimaufsicht. Pflichten, Rechte und Grenzen der Heimaufsicht. Inhalt: 1.

TAGESGRUPPE. Die ganz besondere Hilfeform

LVR-Landesjugendamt Rheinland. Köln. 16 November 2011

Die Verwendung des Begriffs Kindeswohlgefährdung in der Medizin

Geschwisterinzest aus der Sicht der öffentlichen Jugendhilfe

Fachstelle Kinderschutz im im November Februar

Der Allgemeine Sozialdienst

Zusammenarbeit des ASD mit der Trägern der Suchthilfe im Kinderschutz

Wie wirksam ist die Jugendhilfe?

Kooperation im Kinderschutz Schnittstelle oder Schwachstelle? NZFH Fachgespräch Kinderschutz Dr. Thomas Meysen 15./16. März 2018 in München

Schutzauftrag und Betriebserlaubnis

Erfahrungen des MDK zur Umsetzung des Strukturmodells

KINDERSCHUTZ ZWISCHEN PRÄVENTION UND INTERVENTION

Ministerium für Arbeit, Soziales und Gesundheit Schleswig-Holstein Haus des Sports, Kiel

Zur Bedeutung einer professionellen Zusammenarbeit der verschiedensten Ebenen im Kinder-und Jugendschutzdienst

Fachtag Starke Eltern Starke Kinder im DKSB Landesverband Niedersachsen Elternkurse im Netzwerk Frühe Hilfen

Zertifikatskurs Insoweit erfahrene Fachkraft im Kinderschutz

Erfolgsmodell Erziehungsstelle historischer Kontext, Qualitätsentwicklung und Forschungsaspekte

1) Was versteht man unter dem Begriff Kindeswohl? 2) Was sind Frühe Hilfen? 3) Die Insoweit erfahrene Fachkraft

Zwang und Kontrolle in der Kinder- und Jugendhilfe - Zentrale Aussagen der AGJ-Expertise

Zertifikatskurs Insoweit erfahrene Fachkraft im Kinderschutz

Zertifikatskurs Insoweit erfahrene Fachkraft im Kinderschutz

Die Arbeit in Mutter-Kind-Einrichtungen: Eine fachliche und persönliche Herausforderung

Gesund und glücklich aufwachsen Mehrseitig ganzheitlich ansetzen dialogisch arbeiten Ressourcen bündeln von Anfang an. Prof. Dr.

Geschwister in der stationären Erziehungshilfe

Anmerkungen zu Idee und Rahmenkonzeption der Jugendhilfeinspektion Hamburg aus professioneller Perspektive

Transkript:

Befunde und Einschätzungen zum deutschen Kinderschutzsystem - 500 Tage Bundeskinderschutzgesetz Erfolge und Potentiale Berlin, 5. Juni 2013 Christine Gerber NZFH/DJI, München Lernen aus problematischen Kinderschutzverläufen Beiträgen zur Qualitätsentwicklung im Kinderschutz Potentiale im Sinne von noch nicht ausgeschöpften Möglichkeiten im Kinderschutz ( 79a SGB VIII) 1

Die systemorientierte Perspektive: In der gleichen Situation verhalten sich unterschiedliche Menschen gleich/resp. ähnlich! Menschen haben nicht immer die freie Wahl wie sie sich verhalten! Nicht nur der Mensch, sondern auch das organisatorische Design beeinflussen das Ergebnis! Fachkräfte sind Teil eines Systems ihr Handeln wird maßgeblich durch die äußeren Rahmenbedingungen beeinflusst! Im Mittelpunkt stehen die verursachenden Faktoren/Hintergründen, nicht die Handlungen Einzelner und die Suche nach dem Schuldigen Ziel: Verbesserung des Systems (Verfahren, Abläufe, Rahmenbedingungen, Konzepte, Fachlichkeit) Menschliche Fehler u.a. ein Symptom von Schwierigkeiten innerhalb des Systems/der Organisation Projekte: - Der ASD im Wandel ein Praxisvergleich Prof. Dr. Gissel-Palkovich, FH Kiel; Prof. Dr. Schubert, FH Köln - Migrationssensibler Kinderschutz ism, Dr. Birgit Jagusch, Ursula Teupe & IGfH, Britta Sievers, - QE für den Kinderschutz in Jugendämtern in Rheinland-Pfalz Prof. Dr. Schrapper, Uni Koblenz - Familiale Gewalt - Brüche & Unsicherheiten in der sozpäd. Praxis Prof. Dr. Thole, Alexandra Retkowski, Barabara Schäuble, Uni Kassel - Aus Fehlern lernen Qualitätsmanagement im Kinderschutz Prof. Dr. Wolff, Kronberger Kreis für QE & Prof. Dr. Flick, ASH, Berlin - Organisationsstruktur & prof. Handeln in der Jugendhilfe insb. bei der Bearbeitung von Fällen einer Kindeswohlgefährdung durch Soziale Dienste ; Prof. Dr. Hildenbrand, Uni Jena - Systemorientiert Analyse von Einzelfällen, Christine Gerber, Susanna Lillig; NZFH/DJI 2

1. Die Fallarbeit beeinflussen/beeinträchtigen (unbewusste) Faktoren 2. Risikoeinschätzung & Hilfeplanung 3. Strukturelle & organisatorische Faktoren 4. Fazit 1. Die Fallarbeit beeinflussen/beeinträchtigen (unbewusste) Faktoren Institutionelle Logik - möglichst schnelle Weitervermittlung des Falles qualifizierte Anamnese/Diagnose & Fallverstehen - möglichst schnell, möglichst praktikable Lösungen Kontakt- und Beziehungsaufbau zu den Familien - Beendigung der Fälle in überschaubarer Zeit Familien, die langfristig Begleitung brauchen Praxismuster - Dominanz von übernehmend, extern steuernd & weniger beziehungsförmig; v.a. aufgrund hohen Zeit-, Entscheidungs- & Bearbeitungsdruck im Kinderschutz - Falldeutung & -bearbeitung stark durch Praxismuster geprägt und wenig fallspezifisch ausgerichtet 3

Weitere unbewusste Denk- und Handlungs- und Erklärungsmuster - Fokus liegt auf der Arbeit mit Sorgeberechtigten familiäre Zusammenhänge, Verwandte und Freunde geraten als Risiken und Ressourcen aus dem Blick - Kooperationsbereitschaft als Kriterium für Ressourcenorientierung oder Defizitorientierung - Kontakt & Beziehung zu den Eltern als hohes Gut Verzicht auf Konfrontation und Akzeptanz ungeeigneter Kompromisse 2. Risikoeinschätzung & Hilfeplanung - Fokus v.a. auf äußerlich beobachtbaren und einfach zu erhebenden Faktoren (Zustand Wohnung, Interaktionsbeobachtung) komplexere Faktoren werden weniger differenziert erhoben: z.b. elterliche Modelle der Erziehung, Entwicklungsgeschichte der Eltern, Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit der Eltern, etc. - Familien mit Migrationshintergrund: häufiger Unsicherheiten bei Gefährdungseinschätzung (Zurückhaltung bei der Vermittlung von Hilfe & zu schlechterer Beurteilung des Erfolgs) - Falldeutungen werden an andere Disziplinen delegiert eine souveräne eigenständige sozialpädagogische Expertise fehlt 4

3. Strukturelle & organisatorische (Risiko-)Faktoren - sehr junges Personal, hoher Anteil an Berufsanfängern, hohe Personalfluktuation - ASDs: Komplexität steigt, neu zu bewältigende Aufgaben - Tendenz zur Verregelung von Vorgängen (Standardisierung) - Schaffung von Spezialdiensten führt zu mehr Schnittstellen und damit zu mehr Schwachstellen; fehlende Beziehungskontinuität zu den Familien - häufige Umorganisationsprozesse, wechselnde Aufgabenzuschnitte erschweren den Aufbau stabiler und verlässlicher Kooperationsbeziehungen - erprobte Modelle & Methoden des Kulturmittlers fehlen Fazit - Fachkräfte, die sich sicher & abgesichert an Grenzen bewegen können; professioneller Umgang mit Unsicherheit statt der Suche nach Handlungssicherheit (inkl. der Suche nach Irritation und alternativen Hypothesen) - Risikomanagement & Fehlerkultur: lernen mit Risiken und Fehlern zu leben; -Zeit, strukturell gesicherte Orte und Konzepte für Fallreflexion & Fallverstehen, verbindliche & regelmäßige Supervision -Schulung beraterischer Kompetenzen & Fortbildungen (Konzepte zu Widerstand, Motivation, Veränderung, etc.) -Professionalisierung, Entwicklung einer selbstbewussten sozialpädagogischen Expertenschaft durch Unterstützung und Stärkung der Fachkräfte Die Fachkräfte sind die zentrale Ressource (nicht das zentrale Risiko) im System, die es zu stärken und zu fördern gilt! 5

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! 6