2. Verzerrungszustand Ein Körper, der belastet wird, verformt sich. Dabei ändern die Punkte des Körpers ihre Lage. Die Lageänderung der Punkte des Körpers wird als Verschiebung bezeichnet. Ist die Verschiebung für benachbarte Punkte unterschiedlich, so wird der Körper verzerrt: Der Abstand von zwei Punkten ändert sich. Der Winkel zwischen drei Punkten ändert sich. 1.2-1
2. Verzerrungszustand 2.1 Verformungen 2.2 Verzerrungen 2.3 Verzerrungstensor 2.4 Verträglichkeitsbedingungen 1.2-2
2.1 Verformungen Definitionen: P Q rdλ K u(p 0 ) K' Q' z x(p 0 ) x'(p 0 ) P' y x 1.2-3
2.1 Verformungen Der unverformte Körper nimmt das Raumgebiet K ein. Der materielle Punkt P 0 des Körpers liegt auf dem Raumpunkt P und hat die Koordinaten x(p 0 ). Der verformte Körper nimmt das Raumgebiet K' ein. Der materielle Punkt P 0 wird auf den Raumpunkt P' abgebildet. Der Raumpunkt P' hat die Koordinaten. x' P 0 =x ' x Der Verschiebungsvektor ist die Differenz der beiden Ortsvektoren: u P 0 =u x =x ' x x 1.2-4
2.1 Verformungen Verformungsgradient und Verschiebungsgradient: Bei Starrkörperbewegungen (Translation und Rotation) ändern sich die Abstände von materiellen Punkten nicht. Starrkörperbewegungen führen zu keinen Verzerrungen. Um die Verzerrungen zu untersuchen, wird ein materieller Punkt Q 0 in der Nachbarschaft von Punkt P 0 betrachtet. Für seinen Ortsvektor gilt: x Q 0 =x P 0 r d Dabei ist r ein beliebiger Vektor und dλ eine infinitesimal kleine reelle Zahl. 1.2-5
2.1 Verformungen Für den Ortsvektor des Raumpunktes Q' gilt: x' Q 0 = x Q 0 u Q 0 = x r d u x r d Der Vektor PQ wird auf den Vektor P ' Q' abgebildet, für den gilt: P ' Q'=x' Q 0 x ' P 0 =x r d u x r d x u x =r d u x r d u x In Komponenten lautet diese Gleichung: [ x ' Q0 x ' P 0 x u x r d u y' Q 0 y ' P 0 r y v x r d v z ' Q 0 z ' P 0 ]=[r r z]d [ w x r d w x ] 1.2-6
2.1 Verformungen Da dλ als klein vorausgesetzt wird, können die Verschiebungskomponenten u, v und w um den Punkt x linearisiert werden: u x r d =u x r x d, y r y d,z r z d u x, y, z u x r x u y r y u z r z d v x r d v x, y, z v x r x v y r y v z r z d w x r d w x, y, z w x r x w y r y w z r z d 1.2-7
2.1 Verformungen Damit gilt: [ x ' Q ß x ' P 0 y' Q 0 y ' P 0 z ' Q 0 z ' P 0 ]= [1 0 0 0 1 0 0 0 1] [ u x v x w x u y v y w y ] u z v z w z x r y r z [r ]d [ P ' Q ' ]= [ I ] [ H ] [ PQ ]=[ F ] [ PQ ] 1.2-8
Die Matrix ]=[ [ H 2.1 Verformungen u x v x w x u y v y w y u ] z v z w z heißt Verschiebungsgradient und die Matrix Verformungsgradient. [ F ]=[ I ] [ H ] 1.2-9
2.1 Verformungen Der Verformungsgradient bildet den Vektor PQ auf den Vektor P ' Q' ab: [ P ' Q' ]=[ F ] [ PQ ] Der Verschiebungsgradient bildet den Vektor PQ auf den Differenzenvektor ab: [ P ' Q' ] [ PQ ]=[ H ] [ PQ ] PQ H PQ F PQ In der Tensoranalysis wird gezeigt, dass der Verformungsgradient und der Verschiebungsgradient Tensoren sind. 1.2-10
2.2 Verzerrungen Additive Zerlegung des Verschiebungsgradienten: Für eine Starrkörpertranslation ist der Verschiebungsgradient null, nicht aber für eine Starrkörperrotation. Am Verschiebungsgradienten kann nicht unmittelbar abgelesen werden, ob durch die Verformung Verzerrungen auftreten. Aufspalten des Verschiebungsgradienten in einen antimetrischen und einen symmetrischen Anteil ergibt: [ H ]= 1 2 [ H ] [ H ] T 1 2 [ H ] [ H ] T [ ] [ ] 1.2-11
2.2 Verzerrungen Antimetrischer Anteil: Für den antimetrischen Anteil gilt: [ ]= 1 2 [ H ] [ H ] T = 1 2 [ H ] T [ H ] = [ ] T Seine Komponenten sind: [ u 0 y v x [ ]= 1 v 2 x u 0 y w x u w z y v z u z w ]=[ x v z w 0 xy xz ] y xy 0 yz xz yz 0 0 1.2-12
2.2 Verzerrungen Multiplikation mit einem Vektor ergibt: ]=[ 0 xy xz x xyr y xzrz [ ] [ r r y xy r x yz r z r z]=[ y] xz r x yz r ][r xy 0 yz xz yz 0 =[ yz xz x r y xy] [r r z]=[ ] [ r ] Der Bildvektor Ω r steht senkrecht auf dem Vektor r und auf dem Vektor ω. 1.2-13
2.2 Verzerrungen Der antimetrische Anteil beschreibt eine linearisierte Drehung um die durch den Vektor ω beschriebene Achse. Die Linearisierung ist nur für kleine Drehwinkel zulässig. ω Ω r (I + Ω) r r 1.2-14
2.2 Verzerrungen Symmetrischer Anteil: Für den symmetrischen Anteil gilt: [ ]= 1 2 [ H ] [ H ] T =[ ] T ]=[ Seine Komponenten sind: u x 1 [ v 2 x u y 1 u 2 y v 1 u x 2 z w v y 1 w 2 x u 1 w z 2 y v z x y 1 v 2 z w w z x xy xz xy y yz ]=[ xz yz z ] 1.2-15
2.2 Verzerrungen Die Komponenten des symmetrischen Anteils sind die Verzerrungen: x = u x y = v y z = w z xy = 1 u 2 y v x yz = 1 y 2 z w y xz = 1 u 2 z w x 1.2-16
2.3 Verzerrungstensor Der symmetrische Anteil des Verschiebungsgradienten wird als linearisierter Verzerrungstensor bezeichnet. Wenn die Verzerrungen klein sind, werden Längen- und Winkeländerungen durch den linearisierten Verzerrungstensor beschrieben. Längenänderung: Betrachtet wird ein kleines Linienelement, das parallel zur x- Achse orientiert ist. Es wird durch den Vektor λe x beschrieben und hat die Länge λ. 1.2-17
2.3 Verzerrungstensor Das zugehörige verformte Linienelement hat die Länge F e x = I e x ' 2 = 2 [e x ] T [ F ] T [ F ] [e x ]= 2 [e x ] T [ I ] [ ] [ ] T [ I ] [ ] [ ] [e x ] = 2 [ e x ] T [ I ] [ ] T [ ] [ ] T [ ] [e x ] 2 [ e x ] T [ ] T [ ] [ ] T [ ] [ ] T [ ] [ ] T [ ] [e x ] Unter der Voraussetzung, dass die Elemente des Verschiebungsgradienten klein sind, kann der zweite Summand vernachlässigt werden. 1.2-18
2.3 Verzerrungstensor Dann gilt: ' 2 2 [ e x ] T [ I ] [ ] T [ ] [ ] T [ ] [e x ]= 2 [e x ] T [ I ] 2 [ ] [e x ] Ausrechnen ergibt: ' 2 = 2 1 2 x Für x 1 gilt: ' 1 x x = ' Die Diagonalelemente des linearisierten Verzerrungstensors sind die Dehnungen. Ist n ein beliebiger Einheitsvektor, dann gilt für die Dehnung in Richtung von n: n =[ n ] T [ ] [n ] 1.2-19
2.3 Verzerrungstensor Winkeländerung: Es wird beispielhaft untersucht, wie sich der Winkel zwischen den Vektoren λ x e x und λ y e y ändert, die im unverformten Zustand senkrecht aufeinander stehen. Für das Skalarprodukt der Bildvektoren gilt: x y [e y ] T [ F ] T [ F ] [e x ]= x y [e y ] T [ I ] 2 [ ] [ e x ]=2 x y [e y ] T [ ] [ e x ] =2 x y xy Mit der Scherung γ xy gilt für den geänderten Winkel α xy : xy = 2 xy, xy sin xy =cos 2 xy =cos xy 1.2-20
2.3 Verzerrungstensor Mit cos xy = [e y ] T [ F ] T [ F ] [ e x ] [ e y ] T [ F ] T [ F ] [e y ] [e x ] T [ F ] T [ F ] [e x ] λ y e y α xy folgt: xy = 2 xy 1 x 1 y λ x e x Mit x 1 und y 1 folgt: xy =2 xy Die Außerdiagonalelemente des linearisierten Verzerrungstensors entsprechen den halben Scherungen. Bei Verwendung der Scherungen spricht man von Ingenieurdehnungen im Gegensatz zu den Tensordehnungen. 1.2-21
2.3 Verzerrungstensor Eigenschaften des Verzerrungstensors: Der Verzerrungstensor ist wie der Spannungstensor ein symmetrischer Tensor. Es gibt daher drei Hauptdehnungen mit zugehörigen Hauptdehnungsrichtungen, die auf die gleiche Weise wie die Hauptspannungen ermittelt werden können. Die Hauptdehnungsrichtungen definieren ein Hauptachsensystem. Im Hauptachsensystem wird der Dehnungstensor durch eine Diagonalmatrix dargestellt. 1.2-22
2.3 Verzerrungstensor Volumenänderung: Das Volumen eines infinitesimalen Quaders mit achsenparallelen Kanten berechnet sich zu V = x y z Das Volumen des verformten Quaders ist V '= 1 x x 1 y y 1 z z 1 x y z x y z Für die auf das Ausgangsvolumen bezogene Volumenänderung (Dilatation) gilt: v = V ' V V = x y z =sp 1.2-23
2.3 Verzerrungstensor Gültigkeit: Für die additive Zerlegung wurde vorausgesetzt, dass die Drehungen klein sind. Im Weiteren wurde zusätzlich vorausgesetzt, dass Produkte von Elementen des Verschiebungsgradienten vernachlässigt werden können. Damit liegen der linearisierten Theorie folgende Annahmen zugrunde: Die Drehungen sind klein. Die Verzerrungen, d.h. die Dehnungen und die Scherungen, sind klein. 1.2-24
2.3 Verzerrungstensor Wenn die Drehungen nicht klein sind, tritt an die Stelle der additiven Zerlegung die polare Zerlegung des Verformungsgradienten: F= R U=V R Dabei beschreibt der Tensor R die Drehung und die Tensoren U bzw. V die Verzerrung. Die Tensoren U bzw. V sind symmetrisch. In vielen Anwendungen sind zwar die Drehungen groß, die Verzerrungen jedoch klein. Dieser Fall wird als geometrische Nichtlinearität bezeichnet. Große Drehungen oder große Verzerrungen führen zu nichtlinearen Theorien. 1.2-25
2.4 Verträglichkeitsbedingungen Problem: Wenn die Verschiebungen gegeben sind, lassen sich die Verzerrungen leicht durch Differenziation berechnen. Wenn die Verzerrungen gegeben sind, dann müssen die drei Verschiebungsfunktionen u, v und w die folgenden sechs partiellen Differenzialgleichungen erfüllen: x = u x, y= v y, z= w z 2 xy = u y v x, 2 yz= v z w y, 2 xz= w x u z 1.2-26
2.4 Verträglichkeitsbedingungen Damit drei stetig differenzierbare Funktionen u, v und w existieren, die diese Gleichungen erfüllen, müssen die Verzerrungen sogenannte Verträglichkeitsbedingungen erfüllen. Die Verzerrungen können daher nicht beliebig vorgegeben werden. Wenn die Verschiebungen stetig differenzierbar sind, dann können keine Klaffungen, Überlappungen oder Knicke auftreten. 1.2-27
2.4 Verträglichkeitsbedingungen Verträglichkeitsbedingungen: Aus der Vertauschbarkeit der Reihenfolge der partiellen Ableitungen folgen die Saint-Venantschen Verträglichkeitsbedingungen: 2 y 2 xy 2 x y 2 x 2 2 x y =0 2 y z 2 z 2 y 2 2 yz 2 y z =0 2 z x 2 x 2 z 2 2 xz 2 x z =0 2 xy x z 2 xz x y 2 yz x 2 x 2 y z =0 2 yz x y 2 xy y z 2 xz y 2 y 2 x z =0 2 xz y z 2 yz x z 2 xy z 2 2 z x y =0 1.2-28
2.4 Verträglichkeitsbedingungen Beweis der ersten Bedingung: 2 y 2 xy 2 x y 2 x 2 2 x y = u 2 y 2 x v 2 x 2 y = 3 u y 2 x 3 u x y 3 v 2 x 2 y 3 v x 2 y =0 u 2 x y y v x Auf die gleiche Weise lassen sich auch die übrigen Bedingungen beweisen. 1.2-29