Gestaltungs- und Finanzierungsprobleme der Sozialen Sicherung bei alternder Bevölkerung



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Transkript:

Gestaltungs- und Finanzierungsprobleme der Sozialen Sicherung bei alternder Bevölkerung Das Beispiel der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in Deutschland von Prof. Dr. Dieter Cassel, Duisburg Inhalt 1. Grundpfeiler und Prinzipien des Systems der Sozialen Sicherung in Deutschland 2. Sozialpolitische Konsequenzen des demographischen Wandels 2.1 Merkmale des demographischen Wandels 2.2 Demographisch bedingte Finanzierungsprobleme 3. Intergenerative Solidarität und Generationenvertrag in der GKV 3.1 GKV als Generationenvertrag und die demographische Finanzierungsfalle 3.2 Wege aus der demographischen Finanzierungsfalle 4. Leitlinien für den Aufbau eines neuen Systems der Sozialen Sicherung Literatur Erscheint in: Helmut Braun und Nikola ~ piri~ (Hg.), Soziale Sicherungssysteme: Analysen sowie erste Empfehlungen für Bosnien und Herzegowina und seine Entitäten. Symposium an der~üniversität von Banja Luka (BiH) vom 6. April 2006, Regensburgweiden 2006

1. Grundpfeiler und Prinzipien des Systems der Sozialen Sicherung in Deutschland Für Transformationsländer, die sich um den Neuaufbau eines geeigneten Systems der Sozialen Sicherung bemühen, sind Erfahrungen aus Ländern mit einer ungleich längeren marktwirtschaftlichen Tradition von großem Wert: So könnten deren erfolgreiche Sicherungssysteme als Modell dienen, um den Zeitbedarf und die Risiken eines Neuaufbaus zu begrenzen, während weniger erfolgreiche Sicherungskonzepte die Chance bieten, aus Konstruktionsfehlern zu lernen und kostenspielige Fehlentwicklungen im eigenen Land zu vermeiden. Dementsprechend hat die nachfolgende kritische Analyse des über mehr als 120 Jahre gewachsenen Systems der Sozialen Sicherung in Deutschland zum Ziel, seine Stärken und Schwächen sowie seinen dringendsten Reformbedarf herauszuarbeiten. Dabei soll am Beispiel der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) insbesondere gezeigt werden, welche Gefahren der sich in nahezu allen Ländern abzeichnende demographische Wandel für die Leistungsfähigkeit der Sicherungssysteme birgt, wenn sie ohne ausreichende Kapitaldeckung, d. h. ganz oder überwiegend nach dem Umlageverfahren finanziert sind. Hieraus lassen sich dann für ein Land im Aufbruch wie Bosnien-Herzegowina Lehren hinsichtlich der Eignung alternativer Konstruktionsprinzipien für den Aufbau eines leistungsfähigen, marktwirtschaftskonformen und demographiefesten Systems der Sozialen Sicherung ziehen. In der freien Marktwirtschaft gilt für die Daseinsvorsorge bei Unfall, Krankheit, Pflegebedürftigkeit und Arbeitslosigkeit sowie im Alter generell das,,lndividualprinzip". Hiernach obliegt es dem Einzelnen, freiwillig durch Sparen bzw. Vermögensbildung oder den Abschluss einer privaten Versicheri.ing für unvorhergesehene Einkommensausfälle oder Ausgaben sowie für die altersbedingte Erwerbsunfähigkeit vorzusorgen. Vielfach sind die Individuen jedoch finanziell nicht in der Lage, einen ausreichenden Kapitalstock zu bilden oder sich gegen die Lebensrisiken hinreichend zu versichern. Auch neigen sie häufig dazu, die mitunter weit in der Zukunft liegenden Risiken zugunsten des Gegenwartskonsums zu unterschätzen. Schließlich körinen asymmetrische Informationen und externe Effekte zum Versagen von Versicherungsund Kreditmärkten führen, so dass die Bürger ihr Bedürfnis nach freiwilliger individueller Vorsorge marktwirtschaftlich gar nicht oder nur unzureichend zu befriedigen vermögen (ZweifellEisen 2000, S. 382 ff.; Ott 2003, S. 501 ff.). Deshalb sieht sich der Staat selbst in liberalen Marktwirtschaften verpflichtet, die Daseinsvorsorge nicht ausschließlich seinen Bürgern zu überlassen, sondern sie ergänzend oder gar überwiegend gesetzlich zu verfügen. Neben die individuelle Vorsorge tritt damit die kollektive Vorsorge nach dem,,sozialprinzip", d. h. die vom Staat organisierte gesellschaftliche Absicherung individueller Risiken (Cassel2000, S. 126). Sie konkretisiert sich vor allem in den verschiedenen Sparten der Sozialversicherung wie der Gesetzlichen Unfall-, Kranken-, Pflege-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung. Als Pflichtversicherung sind sie dem,,solidarprinzipu entsprechend ausgestaltet. Dies bedeutet, dass sie Versicherurigs- bzw. Versorgungsleistungen grundsätzlich nach dem individuellen Bedarf gewähren, während ihre Finanzierung kollektiv entweder über Steuern - wie im englischen BeveridgeSystem - oder über Beiträge erfolgt, die

sich nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Steuer- bzw. Beitragszahler richtet - wie in dem auf Bismarck zurückgehenden deutschen System. Ergänzend dazu besteht meist auch noch ein Auffangnetz für sozial Schwache in Form der Staatlichen Fürsorge bzw. Sozialhilfe, die eine steuerfinanzierte Existenzsicherung nach individueller Bedürftigkeit gewährt. Diese Grundprinzipien sozialer Sicherung lassen kaum Schlüsse auf die konkrete Ausgestaltung des Sicherungssystems eines Landes zu. Diese ist vielmehr von den jeweiligen wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten abhängig und bringt den jeweils vorhandenen sozialpolitischen Gestaltungswillen, vor allem aber auch die politischen Kräfteverhältnisse zum Ausdruck. Die Genese der existierenden sozialen Sicherungssysteme ist desha.lb von Land zu Land sehr unterschiedlich und meist nur aus dem historischen Kontext heraus verständlich (Grossekettler 2002). So wurden die ersten drei Sparten der Sozialversicherung in Deutschland schon im ausgehenden 19. Jahrhundert unter dem damaligen Reichskanzler Otto von Bismarck eingeführt: die Krankenversicherung der Arbeiter (1883), die betriebliche Unfallversicherung (1884) und die Invaliditäts- und Alterssicherung (1889). Sie waren eine richtungweisende sozialpolitische Antwort auf die damals katastrophale wirtschaftliche Lage der Arbeiterschaft und die damit verbundene,,soziale Frageii. Denn alle drei Sicherungseinrichtungen hatten primär Einkommensersatzfunktion, indeni sie für die Masse der Arbeiter den bei Unfall und Krankheit vorübergehenden und bei Invalidität und Alter dauerhaften Ausfall des Erwerbseinkommens rechtsverbindlich kompensierten. Dadurch sollte verhindert werden, dass die häufig vielköpfige Faniilie bei unfall-, krarikheits- oder altersbedingtem Ausfall ihres,,ernährersu in das soziale Elend abstürzte. Von Bismarck als sozialpolitisches Instrument gegen die fortschreitende Radikalisierung des entstandenen lndustrieproletariats konzipiert, bestehen die drei Sozialversicherungszweige mit ihren wesentlichen Konstruktionsprinzipien noch heute fort, obwohl sich die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen inzwischen radikal gewandelt haben (Grossekettler 2002, S. 60 ff.; Haft 2002, S. 34 ff.; JacobslSchellschmidt 2002, S. 1 5 ff.). Sieht man von der betrieblichen Unfallversicherung einmal ab, die insofern eine Sonderstellung einnirrimt, als sie von,,berufsgenossenschaften" getragen wird, die sich zu 100 Prozent aus Beiträgen ihrer zwangsweise zugewiesenen Mitgliedsfirmen finanzieren und sie nach der Höhe der Lohn- und Gehaltssumme sowie des Unfallrisikos zur Beitragszahlung heranziehen, beruht die soziale Sicherheit heute in Deutschland auf vier Grundpfeilern (Abbildung 1): der Gesetzlichen Renten- (GRV), Kranken- (GKV), Arbeitslosen- (ALV) und Pflegeversicherung (GPflV). Während die Rentenund Krankenversicherung ihren Ursprung in1 ausgehenden 19. Jahrhundert haben, wurden die Arbeitslosen- und Pflegeversicherung erst 1927 bzw. 1995 eingeführt. Dennoch basieren alle vier Sparten im Wesentlichen auf den gleichen, schon in den Bismarckschen Sozialgesetzen angelegten Konstruktionsprinzipien.

Abbildung 1 : Sparten der deutschen Sozialversicherung Arbeitnehmen/ersicherung: Versicherungspflichtig waren ursprünglich nur Arbeiter, später auch Angestellte. Die Versicherungspflicht der Arbeitnehmer endet jedoch bei einem bestimmten Arbeitseinkommen, der Versichen~ngspflichtgrenze", die nach Sparten unterschiedlich ist und jährlich der Lohn- und Gehaltsentwicklung entsprechend angepasst wird. Arbeitnehmer, deren Einkommen die Versicherungspflichtgrenze übersteigt, sind nicht mehr versicherungspflichtig, können sich aber freiwillig in der Sozialversicherung weiterversichern. Auch Selbständige und Beamte unterliegen keiner Versicherungspflicht. Pflichtversicherung: Mit Ausnahme der zuletzt eingeführten GPflV, die auch von den Privater) Krankenversicherungen angeboten wird, haben Sozialversicherungspflichtige keine Möglichkeit, zwischen Versicherungen in privater oder öffentlicher Trägerschaft zu wählen. Sie müssen vielmehr ihrer Versicherungspflicht durch Mitgliedschaft in einer Rentenversicherungsanstalt, einer Kranken- und Pflegekasse sowie der Bundesagentur für Arbeit als öffentlich-rechtliche Körperschaften nachkommen, haben aber teilweise - wie in der GKV und GPfIV - freie Kassenwahl. Beitragsfinanzierung: I m Gegensatz zum steuerfinanzie rten BeveridgeSystem finanzieren sich alle Sozialversicherungssparten im Wesentlichen aus Beiträgen der Versicherten bzw. Mitglieder und der Arbeitgeber. Aufgrund verschiedener sozialpolitischer Weichenstellungen ist jedoch auch in Deutschland der steuerfinanzierte Anteil der Sozialversicherungsausgaben seit den 1990er Jahren ständig gestiegen (Abbildung 2): Im Jahr 2002 wurden in der GRV schon 30 % und in der ALV 9,9 % der Ausgaben aus Steuermitteln finanziert. Dahinter steht vor allem auch die Absicht der Sozialpolitik, die Beitragssätze (siehe weiter unten) trotz der anhaltenden Ausgabendynamik stabil zu halten.

Abbildung 2: Beitragssatzentwicklung in der deutschen Sozialversicherung Umlageverfahren: In allen vier Sozialversicherungssparten werden nach dem Prinzip der Kollektiväquivalenz" von Beiträgen und Risiken der jeweiligen Versichertengemeinschaft die laufenden Ausgaben einer Periode durch die Beitragseinnahmen derselben Periode finanziert. Im Gegensatz zum Kapitaldeckungsverfahren werden die Ausgaben also weder vollständig noch teilweise durch Erträge oder die Auflösung eines vorhandenen Kapitalstocks bzw. Vermögensbestandes gedeckt, so dass die Soziale Sicherung - mit Ausnahme der ALV - angesichts des demographischen Wandels nicht nachhaltig finanzierbar erscheint (siehe 2.2). Indem die periodisierten Gesamtausgaben eines Sozialversicherungsträgers durch jene Größe dividiert wird, nach der sich der Beitrag bemessen soll (,,Beitragsbemessungsgrundlage"), lässt sich der jeweils erhobene,,beitragssatz" berechnen. Lohnbezogene Finanzierung: Grundsätzlich werden in der deutschen Sozialversicherung nur die Bruttolöhne und -gehälter, nicht aber auch die Vermögenseinkünfte - wie Zinsen, Dividenden, Mieten oder Pachten - als Beitragsbemessungsgrundlage herangezogen. In Verbindung mit dem Umlageverfahren und unter dem Verbot dauerhafter Kreditfinanzierung hat dies zur Folge, dass die Beitragssätze angehoben werden müssen, wenn sich die Löhne und Gehälter unterproportional zu den Ausgaben entwickeln - wie dies seit den 1970er Jahren in allen vier Sparten der Fall war (Abbildung 2). Darüber hinaus macht der Lohribezug die Finanzierung des Sicherungssystems ausgesprochen korijunkturanfällig. Arbeitgeberbeiträge: Von Anfang an waren die einzelnen Sozialversicherungszweige so konzipiert, dass die Beiträge jeweils zur Hälfte vom Arbeitnehmer und Arbeitgeber getragen werden. Damit sollten die Arbeitgeber einerseits einen Teil der So-

ziallasten aus ihren Gewinnen tragen und andererseits motiviert werden, für weniger gesundheitsschädliche und krisenanfällige Arbeitsplätze zu sorgen. Schließlicli folgte daraus auch der Anspruch, sich - zusammen mit den Gewerkschaften als Arbeitnehmervertreter - an der Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger zu beteiligen. Alle drei Argumente zugunsten von Arbeitgeberbeiträgen werden heute aber zu Recht in Frage gestellt. Stattdessen wird vielfach ihre Abschaffung gefordert, weil sie bei steigenden Beitragssätzen automatisch die Lohnzusatzkosten erhöhen und dadurch arbeitsmarktpolitisch kontraproduktiv wirken. Einkommensumverteilung: Einkommensproportionale Beiträge sind rnit dem Prinzip der,,lndividualäquivalenz" vereinbar, werin sie dem Risiko bzw. der im Schadensfall zu erwartenden Versicherungsleistung des Versicherten entsprechen. Dies war anfänglich in der GRV mit ihrer nach der Höhe der Beiträge gestaffelten Rentenanwartschaft der Fall, aber auch in der GKV, die im Jahr 1885 fast ausschließlich Erwerbstätige versicherte und über 55 % ihrer Gesamtausgaben als Lohnersatzleistungen in Form eines nach der Beitragshöhe bemessenen Krankengeldes auszahlte. Heute haben noch nicht einmal 40 % der GKV-Versicherten Anspruch auf Krankengeld, und sein Anteil an den Gesamtausgaben liegt bei nur noch 4,6 % (2004), so dass sich einkommensproportionale Beiträge in der GKV allenfalls mit dem sozialpolitischen Ziel der Eirikorrimensumverteilung rechtfertigen lassen. Dagegen besteht die Äquivalenz von Beitrag und Leistungsanspruch in der GRV fort, weringleich in einer durch vielfältige sozialpolitische Eingriffe - wie z. B. die großzügige Arirechnung beitragcfreier Zeiten - deutlich abgeschwächten Form (Ott 2003, S. 52 1 ff.). Belastungsgrenzen: Wenngleich die Sozialversicherung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend in den Dienst der Einkommensumverteilung gestellt wurde, hat sich in der,,beitragsbemessungsgrenze" doch ein Konstruktionsprinzip erhalten, das die Umverteilung von den Besserverdienenden zu den Geringverdienern begrenzt. Darunter versteht man jene Höhe des Bruttoarbeitsentgelts, ab der zusätzliche Verdienste nicht mehr der Beitragspflicht unterworfen sind. Die Beitragsbemessungsgrenze lag 2005 in den westlichen Bundesländern für die GRV und ALV bei 5.200 Euro und für die GKV und GPflV bei 3.525 Euro pro Monat. Hieraus ergeben sich durch Multiplikation mit den - in 2004 und 2005 konstant gebliebenen - Beitragssätzen aus Abbildung 1 Höchstbeiträge für die einzelnen Sozialversicherungszweige, die sich in 2005 in der Summe auf 1.905,43 Euro pro Monat beliefen. Da Arbeitsentgelte oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze nicht beitragspflichtig sind, wirkt sie bei Besserverdienenden regressiv und gerät damit in Widerspruch zur geltenden Einkommensbesteuerung, die eine derartige Grenze nicht kennt und außerdem einen progressiven Tarif aufweist. Wenngleich die Grundpfeiler der sozialen Sicherheit in Deutschland nach einheitlichen Konstruktionsprinzipien aufgebaut sind, ist ihre gesamtwirtschaftliche Bedeutung an den Ausgaben gemessen doch recht unterschiedlich (Abbildung 1): So betrug 2004 der Anteil der GRV an den Gesamtausgaben der vier Sparten in Höhe von 447,6 Mrd. Euro 52,6 %, während die GPI'IV gerade einmal auf rd. 4 % kam. Das unterschiedliche Gewicht der Sparten wird schließlich auch durch die Unterschiede in der Höhe der Bei-

tragssätze reflektiert. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass GRV und ALV praktisch nur Einkommenstransfers leisten, während GKV und GPflV darüber hinaus auch Sachleistungen erbringen, an deren Erstellung 4,1 Mio. Beschäftigte beteiligt sind. Dies erklärt den ungleich größeren sozialpolitischen Steuerungsbedarf dieser beiden Sparten, zugleich aber auch die gesteigerte Aufmerksamkeit, die ihre Gestaltl~ng, Funktionsweise und Ergebnisse in der Öffentlichkeit auf sich ziehen (Breyer 2000; Oberender et al. 2002; Sundmacher 2005; Straubhaar et al. 2006). Gleichwohl steht in der anhaltenden Reformdiskussion die Frage nach einer weniger konjunkturanfälligen, beschäftigungsfreundlicheren, verteilungsgerechteren und vor allem nachhaltigeren Finanzierung der sozialen Sicherheit im Vordergrund (Paraskewopoulos 1998; CassellPostler 2003; Breyer et al. 2004). Dabei entzündet sich die Debatte vor allem am anscheinend ungebremsten Anstieg der Beitragssätze sowie an ihrer inzwischen erreichten Höhe. Wie Abbildung 2 zeigt, lag die Summe der Beitragssätze zur GRV, GKV und ALV in der unmittelbaren Nachkriegszeit trotz der damaligen dramatischen Flüchtlings-, Wohnungs- und Beschäftigungsprobleme bei nur 20 % (1950). Seitdem sind die Beitragssätze tendenziell arlgestiegen und erreichten im Jahr 2003 mit 42 % ihr bisheriges Maximum. Gerade weil die Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung vielfach als eine zusätzliche Steuer auf das Arbeitseinkommen betrachtet werden, ist mit Verhaltensreaktionen der,,steuerdestinatareu auf diese Entwicklung zu rechnen, die mit Blick auf Wachstum, Beschäftigung und Zukunftsvorsorge nicht gerade positiv wirken d~~rften. Besonders die Arbeitgeber, die derzeit - ohne die betriebliche Unfallversicherung - knapp 21 % der Lohn- und Geha.ltssumme an Sozialbeiträgen aufzubringen haben, argumentieren angesichts der bevorstehenden EU-Erweiterungen und der fortschreitenden Globalisierung mit einer virulenten Gefährdi-ing des Forschungs- und Produktionsstandorts Deutschland. Sie plädieren deshalb vehement für eine merkliche Entlastung bei den Lohnzusatzkosten (siehe hierzu kritisch: Häussler et al. 2006). Ungeachtet dessen ist es politischer Konsens in Deutschland, dass die Beitragssätze der Sozialversicherung möglichst unter die 40 %-Marke gedrückt werden, auf keinen Fall aber weiter steigen sollten. Um dieses Ziel zu erreichen, kann man reformpolitisch auf der Einnahmen- oder Ausgabenseite ansetzen. Einnahmeseitig müsste die Beitragsbemessungsgrundlage vergrößert werden, indem Arbeitslosigkeit und Schwarzarbeit verringert, das Renteneintrittsalter heraufgesetzt, Beitragsbefreiinngen und -ermäßigungen zurückgenommen, Vermögenseinkünfte einbezogen und Beitragsbemessungsgrenzen aufgehoben oder angehoben werden. Außerdem wäre es erforderlich, die Einkommensumverteilung vollständig aus der Sozialversicherung herauszunehmen und in das Steuersystem zu verlagern, was z. B. im Fall der GKV und GPflV erfordern würde, die bisherige Finanzierung durch einkommensproportionale Beiträge auf,,kopfpauschalen" bzw.,,kopfprämienu umzustellen (Wasem et al. 2003; Henke et al. 2004; SVR 2004, S. 530 ff. ; Cassel 2005a, S. 247 ff.). Ausgabenseitig wäre es dringlich, erstens die Sozialversicherung von versicherungsfremden Leistungen zu entlasten, die ihr im Laufe der Jahre als,,verschiebebahnhof" aus anderen Politikbereichen - insbesondere der Familien- und Um-

verteilungspolitik - zugeschoben wurden, und zweitens den Leistungsmissbrauch einzuschränken, der insbesondere in der ALV beträchtlich zu sein scheint (Schäfer 2006). Drittens müssten in der GKV und GPflV die Wirtschaftlichkeitspotenziale erschlossen werden, die sich durch den administrativen,,steuerungswirrwarr" bzw. aufgrund unzureichenden Wettbewerbs irr1 Bereich der Leistungserbringung gebildet haben. Und viertens schließlich ist es unumgänglich, das Leistungsniveau wieder auf jenes Maß abzusenken, das mit dem Sozialstaatsprinzip der,,subsidiarität" verein bar ist (OberenderlOkruch 1 998; Breyer et al. 2004; Sundmacherlsundmacher 2004; Cassel et al. 2006; Zweifel 2006). Wie sich aus dieser Skizze notwendiger Reformschritte unschwer erkennen lässt, geht es im Wesentlichen dar[-im, Fehlkonstruktionen und Fehlentwicklungen des sozialen Sicherungssystems zu korrigieren bzw. rückgängig zu machen, welche die Politik, insbesondere die Sozialpolitik in Deutschland selbst zu verantworten hat. So ist es in der Nachkriegszeit unter keiner Regierung gelungen, die in der wirtschaftspolitischen Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft angelegte Balance zwischen,,sozialem Ausgleich" und,,ökonomischer Effizienz" herzustellen. Stattdessen wurde wie im Lehrbuch der Neuen Politischen Ökonomie (NPÖ) mit Blick auf Stimmenmehrheiten noch immer versucht, den vorhandenen Zielkonflikt zu Lasten der ökonomischen Effizienz zu lösen (Casselßauhut 1998). Herausgekommen ist dabei ein ausgeuferter Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaat, der zu keinem Zeitpunkt die Kraft aufgebracht hat, die Geburtsfehler der deutschen Sozialversicherung zu beheben. Im Gegenteil, das defekte System wurde zur,,volksversicherung" ausgebaut und mit immer neuen Leistungsansprüchen befrachtet, ohne es mit durchgreifenden Strukturreformen auf diese Aufgaben vorzubereiten (Grossekettler 2002, S. 70 ff.). So erklärt es sich, dass das System der Sozialen Sicherung in Deutschland ziemlich unvorbereitet einer der größten Herausforderungen dieses Jahrhunderts gegenübersteht: dem globalen demographischen Wandel mit seiner rapide fortschreitenden Alterung der Bevölkerung in fast allen Ländern der Erde. 2. Sozialpolitische Konsequenzen des demographischen Wandels 2.2 Merkmale des demographischen Wandels Der absehbare demographische Wandel soll kurz am Beispiel Deutschlands erläutert werden. Wie Abbildung 3 im Vergleich der Altersstrukturen für die Jahre 1999 und 2050 zeigt, vollzieht er sich in einem doppelten Alterungsprozess: Zum einen wachsen nur schwach besetzte Jahrgänge nach (,,Alterung von unten"), weil die Geburtenhäufigkeit seit Jahrzehnten auf einem historisch niedrigen Niveau verharrt. Hierdurch mutiert die ursprüngliche,,bevölkerungspyramide" (vorübergehend) zu einem Pilzu, bei dem die älteren Kohorten zahlenmäßig stärker besetzt sind als die jüngeren. Hinzu kommt, dass die (Rest-)Lebenserwartung immer noch kontinuierlich zunehmen wird ( Alterung von oben"). Dies zeigt sich in Abbildung 3 darin, dass die,,bevölkerungspyramide" bzw. der,,pilz" in 2050 merklich höher sein wird als in 1999.

Abbildung 3: Bevölkerungsentwicklung in Deutschland nach Alterskohorten Beide Effekte zusammengenommen wirken sich dahingehend aus, dass die Gesamtbevölkerung in Deutschland trotz des unterstellten Zuwanderungssaldos von 200 Tsd. Personen pro Jahr progressiv abnimmt, während die Zahl der Betagten (65 Jahre und älter) bis zum Jahr 2040 progressiv - und danach leicht degressiv - zunimmt (Abbildung 4). So wird die Bevölkerung in Deutschland bis Mitte dieses Jahrhunderts um 7,4 Mio. Personen - von 82,5 Mio. (2002) auf 75,1 Mio. (2050) - schrumpfen, was mit einer deutlichen Veränderung der Bevölkerungsstruktur zu Gunsten der 60-Jährigen und Älteren und zu Lasten der unter 20-Jährigen eirihergeht (Abbildung 5): Von 2002 bis zum Jahr 2050 wird der Anteil der unter 20- Jährigen von 20,7 % auf 16,1 % fallen und der Anteil der 60-Jährigen und Älteren von 24,4 % auf 36,8 % steigen. Noch weitaus dramatischer wird sich jedoch der,,alterslastquotient" - d. h. hier: der Anteil der Personen mit 60 Jahren oder älter an den Personen im Alter von 20 Jahren oder darunter - entwickeln, der einen ersten Eindruck von der voraussichtlichen Belastung der Personen im erwerbsfähigen Alter vermittelt: Er wird im genannten Zeitraum von 44,4 % auf 78 % steigen und sich damit fast verdoppeln. Diese Entwicklung lässt die Befürchtung nicht ganz unbegründet erscheinen, dass sich Deutschland auf dem,,weg zum Seniorenheim" befindet und dabei das bestehende Netz der Sozialen Sicherung zum Zerreißen bringt (Enquete- Kommission Demographischer Wandel 2002).

Abbildung 4: Veränderung der Gesamtbevölkerung und der über 65-Jährigen in Deutschland 82,O M., dingm iherbwme: 13,3 Milt,, Abbildung 5: Entwicklung der Bevölkerungsstruktur in Deutsc

2.2 Demographisch bedingte Finanzierungsprobleme Es ist unmittelbar einsichtig, dass eine derartige Veränderung der Bevölkerungsstruktur ceteris paribus nicht spurlos an der umlagefinanzierten Sozialversicherung vorbeigehen kann, sondern merkliche Erhöhung der Beitragssätze, wenn nicht gar eine,,beitragssatzexplosion" in der GRV, GKV und GPflV nach sich ziehen muss; denn der voraussichtliche Anstieg des Alterslastquotienten wird mit einer deutlichen Zunahme der Rentner und Morbiden in den oberen Alterskohorten einhergehen, so dass einerseits die lohnbezogene Beitragsbemessungsgrundlage der Sozialversicherung erodiert und andererseits ihre Ausgaben für Rentenzahlungen sowie Gesundheits- und Pflegeleistungen expandieren. Wie stark diese Effekte z. B. in der GRV zum Tragen kommen, lässt sich aus der Status-quo-Prognose des Verhältnisses von Beitragszahlern zu Rentnern ermessen (Abbildung 6): Hiernach werden im Jahr 2050 nur noch 2,2 Beitragszahler zur Finanzierung eines Rentners zur Verfügung stehen, während die Zahl der Beitragszahler pro Rentner gegenwärtig mit 4,13 (2000) noch fast doppelt so hoch liegt. Der daraus ersichtliche Anstieg der von den Erwerbstätigen zu tragenden,,rentnerlastu muss nach dem Umlageverfahren unter sonst gleichbleibenden Umständen zwangsläufig zu einer höheren Beitragsbelastung in der GRV führen, weil jeder Rentner mit seiner Rente zu den Ausgaben beiträgt, aber als Beitragszahler ausfällt. Wie aus Abbildung 7 hervorgeht, ist je nach Szenario, die der Status-quo-Prognose zugrunde gelegt wird, schon im Jahr 2030 mit einem Beitragssatz zwischen 24 und 30 % zu rechnen. Abbildung 6: Entwicklung der Rentnerlast in der GRV Anzahl der Beitragszahler, die für einen Rentner aufkommen

Abbildung 7: Künftige Beitragssatzentwicklung in der deutschen Sozialversicherung Rentenversicherung (GRV) Krankenversicherung (GKV) Pflegeversicherung (GPfiV) Arbeitslosenversicherung (ALV) Insgesamt 2001 19,l % 13,7 % 1,7 % 6,5 % 41,O % 2030 24-30 % 18-24 % 3-4 % 3-5 % 48-63 % Im Vergleich zur GRV sind die Folgen des demographischen Wandels für die Beitragssatzentwicklung in der GKV und GPflV weniger leicht abzuschätzen, weil hier der Finanzieruiigs- und Ausgabeneffekt korriplexer - und zugleich gesundheitsökonomisch umstrittener - sind (Cassel2001; Enquete-Kommission Demographischer Wandel 2002, S. 409 ff.; Schmäh1 2002): Finanzierungseffekt Nimmt die Rentnerlast zu, werden die Erwerbstätigen stärker zur Finanzierung der Gesundheits- und Pflegeleistungen der Betagten herangezogen, weil deren beitragspflichtige Einkommen (Rente) im Durchschnitt deutlich [.inter denen der Aktiven liegen. Jedes Mitglied der GKV und GPflV, das beim derzeitigen Finanzierungsverfahren in Rente geht, trägt nämlich wegen des deutlich unter dem Erwerbseinkommen liegenden Rentenniveaus zur Erosion der Beitragsbemessungsgrundlage bei. Ausgabeneffekt Nach der,,medikalisierungsthese" nimmt die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen mit dem Alter stark zu; sie wird zudem durch den bei Alterskrankheiten und Krankheiten im Alter besonders relevanten medizinischtechnischen Fortschritt noch verstärkt, so dass die altersspezifischen Ausgabenprofile im Laufe der Zeit immer steiler werden. Steigende Lebenserwartung und Rentnerlast gehen deshalb mit progressiv wachsenden Gesundheitsausgaben einher. Dagegen gehen die Vertreter der,,kompressionsthese" davon aus, dass die Morbidität im höheren Alter dank einer immer leistungsfähigeren Medizin und Prävention nur noch geringfügig zunimmt und die Leistungsausgaben allenfalls kurz vor dem Tode stärker ansteigen. Dementsprechend schätzen sie die Ausgabendynamik weit geringer ein. Ungeachtet des Disputs um das Ausmaß des demographischen Ausgabeneffekts in der GKV kommen Status-quo-Prognosen bei unterschiedlicher Berücksichtigung der Wirkungsweise des medizinisch-technischen Fortschritts übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass etwa vom Jahr 201 0 an merklich steigende Beitragssätze erforderlich sein werden, um die alterungs- und fortschrittsbedingt wachsende Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben in der GKV und GPflV schließen zu können. Hiernach ist damit zu rechnen, dass sich die Beitragssätze in der GKV und GPflV bis zum Jahr

2030 im Schnitt in etwa verdoppelt haben werden - bei einer Streubreite zwischen 18 und 24 % bzw. 3 und 4 % (Abbildung 7). Insgesamt gesehen würden sich unter Einschluss der ALV in 2030 Beitragssätze zur Sozialversicherung ergeben, die zwischen 48 und 63 % liegen. Diese höchst beunruhigende Perspektive macht deutlich, wie wenig demographiefest das deutsche Sozialversicherungssystem und wie groß - und zugleich dringlich - der sozialpolitische Handlungsbedarf sind. 3. Intergenerative Solidarität und Generationenvertrag in der GKV 3.1 GKV als Generationenvertrag und die demographische Finanzierungsfalle Um zu verstehen, warum das System der Sozialen Sicherung in Deutschland nicht demographiefest ist und künftig insbesondere in der GKV eine regelrechte Beitragssatzexplosion" droht, muss man sich den in Bismarckscher Tradition nach dem Umlageverfahren konstruierten Finanzierungsmechanismus z. B. der GRV genauer ansehen: Er besteht darin, dass die laufenden Ausgaben für Rentenzal-ilungen durch Beiträge gedeckt werden, die aus den laufenden Arbeitseirikommen der Erwerbstätigen - genauer: der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten - aufzubringen sind, d. h. die Ausgaben einer Periode werden auf die beitragspflichtigen Einkünfte derselben Periode umgelegt. In diesem Umlageverfahren konkretisiert sich der so genannte,,generationenvertragu, nach dem sich die jeweilige Erwerbstätigengeneration verpflichtet, die gleichzeitig lebende Rentnergeneration zu versorgen - und dies im Vertrauen darauf, dass die nachwachsende Generation Entsprechendes tut, wenn die jetzige Erwerbstätigengeneration in die Rentner-Phase eintritt. Dies gilt in reiner Form für die GRV, prägt aber auch die GKV: Die Überdeckung der Gesundheitsausgaben in der Erwerbs- und die Unterdeckung in der Rentner-Phase sind ebenso ein Beleg dafür, wie die,,subventionierung" der Rentner- durch die Erwerbstätigen-Krankenversicherung, die schon jetzt fast 2 % des Bruttoinlandsprodukts beträgt und sich bis zum Jahr 2050 im ungünstigsten Fall mehr als verdreifachen wird (Cassel 2005b, S. 20 ff.). Schließlich werden die jeweils zur Hälfte von den Rentnern i.ind der GRV gezahlten Beiträge zur GKV ebenfalls durch die Erwerbstätigen über die Rentenversicherungsbeiträge aufgebracht, so dass der Generationenvertrag so gesehen ohne Einschränkung auch auf die GKV zutrifft. Angesichts des schon jetzt erforderlichen hohen Subventionsbedarfs der Krankenversicherung der Rentner stellt sich jedoch die Frage, ob der Generationenvertrag in der GKV noch intakt ist, oder ob er nicht schon längst gebrochen wurde - mit der unausweichlichen Folge, dass die nachhaltige Finanzierung im Urrilageverfahren riicht mehr gesichert wäre. Die Antwort hierauf erfordert einen kurzen Blick auf die Gesetzmäßigkeiten der intergenerativen Kapitalbildung; denn jede Gesellschaft hat nur zwei Möglichkeiten, für das Alter vorzusorgen: Entweder müssen ihre jungen, im erwerbsfähigen Alter stehenden Jahrgänge Humankapital bilden, indem sie Kinder in die Welt setzen, großziehen und möglichst gut ausbilden, oder sie müssen sparen und gesamtwirtschaft-

lich Realkapital in Form sachlicher Produktionsmittel bilden - am besten aber beides, weil Arbeit und Kapital im einkommensschaffenden Produktionsprozess korriplementär, zumindest aber nicht vollständig substituierbar sind (Abbildung 8): Die,,Generation 1" ist also als Erwerbstätige im Rahmen des Generationenvertrages gezwungen, zum einen die Generation 0" ihrer Eltern aus ihrem Arbeitseinkommen als den kollektiven Erträgen aus Humankapital zu versorgen, zum anderen aber zugleich Investitionen in Humankapital und Realkapital zu tätigen. Wird aufgrund individueller Investitionsentscheidungen ein privater Realkapitalstock gebildet, können die Investoren später, wenn die Generation 1" in die Rentner-Phase eiritritt, aus den daraus fließenden privaten Erträgen oder seinem Verzehr leben. Entscheiden sich Angehörige der Generation I", Humankapital zu bilden, tragen sie als Mitglieder der Sozialversicherung zwar die privaten Kosten dieser Investition, profitieren später aber nur kollektiv an den Beitragszahlungen ihrer Kinder, wenn diese als Generation 2" in die Erwerbs-Phase eintreten (Cassel2005b1 S. 16 ff.). Abbildung 8: Private Kapitalbildung und intergenerative Transfers in der GKV Investitionen Kollektive Erträge aus Humankapital (UV) Kollektive Wäge aus Humankapital Die Altersvorsorge erfordert somit unter allen Umständen eine,,kapitaldeckung" - sei es als Real- oder Humankapitalstock; und die landläufige Unterscheidung in Umlageund Kapitaldeckungsverfahren erscheint von daher in hohem Maße irreführend (Apolte 1998). Sicherlich ist die vielzitierte Mackenroth-These, nach der aller Sozialaufwand immer aus dem Nationaleirikorrimen der laufenden Periode gedeckt werden muss, plausibel, weil Zahlungsströme, die von einer Generation zur anderen fließen, sich eben nicht,,speichernv lassen. Daraus hat Mackenroth (1952, S. 43) gefolgert, dass es volkswirtschaftlich immer nur ein Umlageverfahren gäbe. Tatsächlich hängen die Einkommen, aus denen die Einkommenstransfers an die Rentner zu leisten sind, in beträchtlichem Maße vom jeweils gegenwärtigen Bestand an Arbeit und Kapital und ihrem Einsatz im Produktionsprozess ab. Demnach sind zur Alterssicherung immer

zugleich Real- und Humankapitalbildung - d. h. also: eine,,kapitaldeckungu - erforderlich (Postler 2002, S. 22 ff. und 34 ff.). Derinoch soll wie bisher üblich das Humankapitaldeckungsverfahren weiterhin als Umlageverfahren (UV) und die Bildung eines Realkapitalstocks als Kapitaldeckungsverfahren (W) bezeichnet werden (Abbildung 8). Durch den bevorstehenden demographischen Wandel ist jedoch die nachhaltige Finanzierung der GKV im Umlageverfahren ernsthaft gefährdet. Der Grund dafür liegt darin, dass die derzeitige Generation 1 als Erwerbstätige" den Generationenvertrag durch ihre geringe Bereitschaft, in Humankapital zu investieren, also Kinder zu bekommen, großzuziehen und auszubilden, aufgekündigt hat: Die Nettoreproduktionsrate liegt in Deutschland seit 1991 unter 0,65, d. h. eine Frauengeneration im gebärfähigen Alter,,reproduziertu sich noch nicht einmal zu 65 %. Von Zuwanderungen aus dem Ausland einmal abgesehen, sind damit Schrumpfung und Alterung der Bevölkerung vorprogrammiert (siehe 2.1). Dies wäre für sich genommen noch relativ unproblematisch, wenn statt Humankapital in ausreichendem Maße Realkapital gebildet würde; denn nur eine Generation, die weder Human- noch Realkapital bildet, muss im Alter hungern" (Sinn 2003). Dem steht jedoch hinsichtlich der Gesundheitsversorgung im Alter das Versprechen der GKV entgegen, allen Versicherten einen,,rundumschutz" im Krarikheitsfall zu gewähren. Wer jedoch darauf vertraut, bei Krankheit in jeder Lebensphase bedarfsgerecht, ausreichend und dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechend mit dem medizinisch Notwendigen versorgt zu werden (55 12 (1) und 70 (1) Sozialgesetzbuch - SGB V), hat keinerlei Anlass, durch private Ersparnisbildung und Investition in Realkapital dafür vorzusorgen. Das hat zur Folge, dass die Generation 1 als Rentner" (Abbildung 8) zur ausreichenden Versorgung mit den notwendigen Gesundheitsleistungen in der GKV ganz und gar auf das Umlageverfahren angewiesen ist, das sie jedoch selbst mit ihrer mangelnden Fertilität in der Erwerbs-Phase unterminiert hat. So lässt sich mit Hilfe der Methode der Generationenbilanzierung zeigen, dass inzwischen fast alle lebenden Generationen,,Nettoleistungsempfänger" der GKV sind und praktisch keiner mehr auch nur annähernd den Barwert seiner voraussichtlichen Leistungsinanspruchnahme durch Beiträge aufbringt. Fetzerlßaffelhüschen (2002, S. 9 ff.) errechnen eine bereits jetzt aufgelaufene implizite und statistisch nicht dokumentierte Verschuldung" der GKV in Höhe von 4,1 Billionen Euro, das sind beachtliche 203,8 % des Bruttoinlandsprodukts. Dieses Ergebnis der Generationenbilanzierung ist die Kehrseite der von den Autoren unter Status-quo-Bedingungen prognostizierten Beitragssatzexplosion auf 25,7 % in 2050. Schon frühzeitig haben von der SchulenburglKleindorfer (1986) im Rahmen eines Modells überlappender Generationen gezeigt, dass das,,gkv-immanente Generationenvertragselement" bei sich ändernder Bevölkerungsund Kostenstruktur zu erheblicher,,intergenerativer Ungleichbehandlung" führt. Ihre Simulationsrechnungen ließen bereits Mitte der 1980er Jahre vermuten,... dass ab 1980 alle Generationen zu den Nettozahlern gehören..." (S. 431). Wenn aber alle Generationen nur noch Leistungen empfangen, für die sie nicht voll aufkommen, ist der Generationenvertrag längst gebrochen und zu einem allgemeinen Bereiche-

rungsabkommen zu Lasten künftiger Generationen" (Fetzen'ßaffelhüschen 2002, S. 11) mutiert. Es zeigt sich nämlich, dass die Rentner künftig nicht nur einen immer größeren Anteil des Bruttoinlandsprodukts für ihre Gesundheitsversorgung absorbieren, sondern dass auch ein immer größerer Anteil zu ihrer Subventionierung herangezogen werden muss. Zugleich machen diese Berechnungen deutlich, dass die viel diskutierte Ausdehnung der Beitragsbemessungsgrundlage auf andere Einkunftsarten - so wünschenswert sie unter Solidar- und Gerechtigkeitsaspekten auch sein mag - keine Lösung des intergenerativen Finanzierungsproblems verheißt: Aus welchen Einkommen die GKV auch irrimer finanziert wird, dies ändert i'iichts daran, dass die ständig wachsenden Finanzierungsdefizite der Krarikenversicherung der Reritner von den jeweiligen Erwerbstätigen aufzubringen sind. Die jetzige Erwerbstätigengeneration sitzt also in einer demographischen Finanzierungsfalle" - und der künftige Generationenkonflikt" ist damit vorprogrammiert. 3.2 Wege aus der demographischen Finanzierungsfalle Um das Umlageverfahren wieder funktionsfähig zu machen und die nachhaltige Finanzierbarkeit der GKV sicherzustellen, gibt es grundsätzlich vier Möglichkeiten: Erstens könnte man versuchen, den demographischen Wandel aufzuhalten, zumindest aber zu verlangsamen. Dazu wäre eine beträchtliche Erhöhung der Fertilität wie der Zuwanderung erforderlich (Enquete-Kommission Demographischer Wandel 2002, S. 57 ff.). Diese Politikoption dürfte nur schwerlich - und vor allem nicht rasch genug - gegen die Interessen der Bevölkerung und insbesondere der jüngeren Generation zu realisieren sein; außerdem käme sie für eine merkliche Entlastung der GKV zu spät und würde auch nur dann etwas bringen, wenn die zusätzlich geborenen und eingewanderten Kinder auch deutlich besser ausgebildet werden, d. h. wenn mit einem deutlichen Zuwachs des Humankapitals zu rechnen wäre. Zweitens ließe sich der Aufbau eines privaten Realkapitalstocks forcieren. Dies würde freilich zwingend voraussetzen, dass der GKV-Leistungskatalog drastisch gekürzt und eine kapitalgedeckte Versicherung gegen die herausgefallenen Risiken zur Pflicht gemacht wird. Auch müssten dann sozial Schwache Transfers aus Steuermitteln erhalten, um sich diese Versicherung leisten zu können. In diese Richtung geht ansatzweise die wiederholte Forderung, in der GKV nur noch,,grundleistungen" abzudecken und z. B. Zahnarzt- und Zahnersatzleistungen privat zu versichern (Fetzen'ßaffelhüschen 2002). Ein solcher Schritt würde bedeuten, dass die GKV künftig auch nicht annähernd mehr eine notwendige und ausreichende" Versorgung im Krankheitsfall gewährleisten würde. Drittens wäre daran zu denken, die bestehende Trennung zwischen GKV und PKV ganz aufzuheben und zu einer kapitalgedeckten Finanzierung durch geschlechtsund altersgleiche Kopfpauschalen (Henke et al. 2002; KnappelArnold 2002) oder

aktuarisch kalkulierte Risikoprämien (Breuen'Zweifel 2002; Fetzer et al. 2003) überzugehen. Die erwünschte Kapitaldeckurig wäre in diesen Modellen allerdings mit einem kompletten Systemwechsel unter Einschluss eines neuen steuerlichen Transfersystems zu ihrer sozialen Ausgestaltung verbunden, was an der politischen Realisierbarkeit zweifeln lässt, zumal die Kapitaldeckung das erforderliche Transfervolumen zusätzlich erhöhen würde. Viertens schließlich könnte das Umlageverfahren der GKV durch ein Verfahren zur kollektiven Bildung von Realkapital in Form einer GKV-spezifischen,,Solidarischen Alterungsreserve (SAR)" ergänzt und mit einer höheren Beitragsbelastung der künftigen Rentner verbunden werden (gepunktete Linien in Abbildung 9). Hierdurch würde die Finanzierung der Krankenversicherung der Rentner künftig auf drei Säulen ruhen: wie schon bisher auf den kollektiven Erträgen aus Humankapital, auf den kollektiven Erträgen oder dem Verzehr des kollektiv gebildeten Kapitalstocks sowie zusätzlich auf einer höheren Eigenleistung der Rentner. Diese Reformoption hätte den unschätzbaren politischen Vorteil, dass sie mit den Grundprinzipien des gewachsenen GKV-Systems vereinbar und kurzfristig ohne die Belastungen durch einen Systemwechsel realisierbar wäre (CasseUOberdieck 2002, S. 21; Cassel2003, S. 251 ff.). Abbildung 9: Private und kollektive Kapitalbildung und intergenerative Transfers in der GKV.... Private. ~/ Kollektive Investitionen ).... "..Y Koiiektive Erträge aus Humankapital 0 1 = Höhere Beitrilge Die Idee einer ergänzenden Kapitaldeckung in der GKV ist eine Analogie zur Privaten Krankenversicherung (PKV) mit ihrer Bildung von Alterungsrückstellungen nach dem Anwartschaftsdeckungsverfahren (Terhorst 2000, S. 67 ff.): Um die mit dem Alter steigende Inanspruchnahme von Gesundheitsleisti.ingen auszugleichen und keine altersbedingten Prämienerhöhungen vornehmen zu müssen, führen die privaten Krankenversicherungen einen Teil der Prämieneinnahmen ihrer jüngeren Versicherten einer zu verzinsenden Alterungsrückstellung zu, aus der Deckungsbeiträge zuge-

setzt werden, sobald die mit dem Alter zunehmenden Pro-Kopf-Ausgaben die altersabhängig nicht steigenden Prämien dieser Versicherten überschreiten. Analog dazu könnten in der GKV die Beitragssätze in den nächsten Jahren um jeweils kasseneinheitliche,,beitragssatzaufschiäge" angehoben werden, um aus den daraus zu erzielenden Mehreinnahmen einen Kapitalstock als Alterungs- bzw. Demographiereserve zu bilden. Diese wäre wie die Alterungsrückstellungen in der PKV verzinslich anzulegen und den Beitragseinnahmen der GKV wieder zuzusetzen, sobald die ausgabendeckenderi Beitragssätze demographisch bedingt steigen und eine gesundheitspolitisch zu setzende Toleranzschwelle überschreiten. In einer an der Universität Duisburg-Essen durchgeführten Simulationsrechnung bis zum Jahr 2050 wurde z. B. für ein Best-case-Szenario" ermittelt, dass hierzu eine SAR von maximal 742,2 Mrd. Euro ausreichen würde, die durch eine sofortige Anhebung des GKVdurchschnittlichen Beitragssatzes um 4,2 Prozentpunkte und die marktübliche Verzinsung des entstehenden Kapitalstocks zu bilden wäre (Postler2003). Mit dem Konzept der SAR wird vordergründig betrachtet die Absicht verfolgt, zur nachhaltigen Wahrung der Beitragssatzstabilität in der GKV beizutragen, indem der alterungsbedingte Finanzierungs- und Ausgabeneffekt nach Ablauf der derzeit noch anhaltenden,,demographischen Schön-Wetter-Periode" durch Rückgriff auf einen zuvor gebildeter) Kapitalstock kompensiert werden könnte. Die eigentliche Zielsetzung ist jedoch, die jetzige Erwerbstätigen-Generation, die den Generationenvertrag gebrochen hat und ihren Kindern künftig eine immense Altenlast aufzubürden im Begriff ist, mit den Folgen ihres Verhaltens zu belasten und die nachwachsende Generation zu entlasten. Dies würde freilich auch dann der Fall sein, wenn den Rentnern künftig deutlich höhere Beiträge zur GKV abverlangt würden als den Erwerbstätigen: Anders als im Status quo, in dem Rentner und Erwerbstätige mit dem gleichen Beitragssatz belastet werden, müssten die Rentner zum Ausgleich des demographischen Finanzierungseffekts einen merklich höheren Beitragssatz leisten, während die Erwerbstätigen mit einem niedrigeren Beitragssatz rechnen könnten (Cassel2003, S. 255 ff.). 4. Leitlinien für den Aufbau eines neuen Systems der Sozialen Sicherung Steht ein Transformationsland wie Bosnien-Herzegowina vor der Frage, wie es sein soziales Sicherungssystem gestalten sollte, damit es leistungsfähig, marktwirtschaftskonform und demographiefest ist, kann es aus den Vor- und Nachteilen des deutschen Systems der Sozialen Sicherung in vielfacher Hinsicht lernen. Unter theoretischen Gesichtspunkten ist dabei beachtenswert, dass die freiwillige Vorsorge der Bürger nach dem lndividualprinzip" notwendigerweise durch eine gesetzlich verfügte Vorsorge nach dem Kollektivprinzip" ergänzt werden muss. Denn einerseits sollten die Bürger beim Aufbau ihres Versicherungsschutzes nicht ausschließlich auf Versicherungsmärkte angewiesen sein, die möglicherweise versagen können (,,Marktversagens-Argument"), und andererseits sollte die Allgemeinheit vor den Folgen der Nicht- bzw. Unterversicherung wirtschaftlich schwacher oder zu risikofreudiger Mitglieder der Gesellschaft geschützt werden (,,Meritorik-Argument"). Das Verhältnis von

individueller und kollektiver Vorsorge müsste jedoch strikter als es in Deutschland der Fall ist dem,,subsidiaritätsprinzip" unterworfen werden, weil sonst die Gefahr besteht, dass die Sozialpolitik mit Blick auf Wählerstimmen die Kollektiwersorgur~g sukzessive zu Lasten der Individualvorsorge ausdehnt und schließlich einen mit marktwirtschaftlichen Prinzipien nicht zu vereinbarenden kollektivistisch geprägten Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaat errichtet. Dieser Vorbehalt verweist unter pragmatischen Gesichtspunkten auf eine weitere Lehre aus der Entwicklung des sozialen Sicherungssystems in Deutschland: närrilich Konstruktionsfehler beim Neuaufbau unter allen Umständen zu vermeiden. Dies in erster Linie deshalb, weil die unter veränderten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen im Laufe der Zeit notwendigen Reformen in hohem Maße,,pfadabhängigU sind, d. h. ein beim Neuaufbau verwendetes Konstruktionsprinzip - wie das Umlageverfahren - wird so gut wie nie zugunsten eines anderen - selbst nachweislich besseren - aufgegeben. Wenn auch die Pfadabhängigkeit im Bereich der Sozialen Sicherung mit hohen Transformationskosten oder einem demokratiebedingten Beharrungsvermögen der Sozialpolitik begründbar ist, so werden doch einmal gemachte Konstruktionsfehler perpetuiert und die Sicherungssysteme dadurch - trotz unzähliger,,strukturreformenu, die sie an sich ändernde Rahmenbedingurigen anpassen sollen - Schritt für Schritt in die Insuffizienz getrieben. Vor diesem Hintergrund lassen sich die Erfahrungen mit der Sozialen Sicherung in Deutschland sowie die Einsichten aus der aktuellen Reformdiskussion zu einigen Leitlinien zusammenfassen, die beim Neuaufbau handlungsleitend sein sollten (siehe hierzu im Einzelnen Breyer et al. 2004; Cassel2005a; Oberender et al. 2006): So wäre im Interesse der Effektivität und Transparenz anzuraten, die Soziale Sicherung auf drei Säulen zu stellen: eine Rentenversicherung, die Alters-, Erwerbsunfähigkeits- und Waisenrenten einschließt, eine Krankenversicherung, die zugleich das Pflegerisiko mit abdeckt, und eine Arbeitslosenversicherung, die mit der Sozialhilfe koordiniert ist. Zur Wahrung der Subsidiarität sollte die kollektive Vorsorge grundsätzlich nur eine Grundversorgung gewähren, die sich an der Höhe des Existenzminimums orientiert, in jedem Falle aber dem Individuum einen größtmöglichen Spielraum und die Motivation zur Eigenvorsorge belässt. In Höhe der Grundversorgung sollte für alle Bürger eine Versicherungspflicht, nicht notwendigerweise aber auch eine Pflichtversicherung bestehen. Um Verteilungsgerechtigkeit und Transparenz herzustellen sowie Effizienz zu gewährleisten, sollte die Einkommensumverteilung nicht dem sozialen Sicherungs- System, sondern dem Steuer- und Transfersystem überantwortet werden. Das würde eine Finanzierung durch risikoäquivalente oder pauschale Beiträge ohne Arbeitgeberanteil sowie staatliche Transfers an die sozial Bedürftigen erfordern. Schließlich sollte im Interesse der Nachhaltigkeit und der intergenerativen Gerechtigkeit zur Finanzierung der Renten- und Krankenversicherung ein durch Kapital-

deckung ergänztes Umlageverfahren praktiziert werden, das alle Bürger in die Versicherungspflicht und alle Eirikommensarten in die Beitragsbemessungsgrundlage einbezieht. Wie oben am Beispiel der GKV gezeigt wurde (siehe 2.2 und 3.2), macht der demographische Wandel auch in der Kranken- und Pflegeversicherung eine Kapitaldeckung erforderlich, um die zu erwartende Beitragsentwicklung dämpfen und damit zugleich die drohenden intergenerativen Verwerfungen abmildern zu können. Hierzu bedürfte es wie gezeigt einer,,solidarischen Alterungsreserve", die aus Beitragsbm. Prämienzuschlägen zu dotieren, über spezielle Fonds international in Sachkapital anzulegen, marktüblich zu verzinsen und später bei Bedarf wieder beitra.gs- bm. prämiensenkend zuzusetzen wäre. Diese Gestaltungsoption ist umso leichter zu realisieren, je früher damit begonnen wird und je geringer das kollektive Versorgungsniveau ist. Dies ist ein zentraler pragmatischer Aspekt, der mutatis mutandis auch für die Rentenversicherung gilt: Ein Land wie Bosnien-Herzegowina, das mit der sozialen Renten- und Krankenversicherung praktisch bei,,null" anfängt, hat es so gesehen trotz des derzeit noch niedrigen Einkommensniveaus seiner Bevölkerung leichter als Deutschland mit seinem über mehr als ein Jahrhundert gewachsenen, ausschließlich umlagefinanzierten Sicherungssystem, einen Teilkapitalstock aufzubauen und auf diese Weise der,,demographischen Finanzierungsfalle" des reinen Urrilageverfahrens zu entgehen.

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