Strafrecht Allgemeiner Teil I 4 Geltungsbereich des schweizerischen Strafrechts Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi, LL.M., RA
Räumlicher Geltungsbereich «Ein Fondue bleibt auch dann ein Schweizer Gericht und wird nicht zur karibischen Spezialität, wenn es auf Grand Cayman gegessen wird, und zwar selbst dann, wenn Käse und Brot dort erworben wurden.» (aus dem Urteil des BezGer ZH vom 19. Januar 2011 im Strafverfahren gegen Rudolf Elmer) Anderer Ansicht: Das OGer ZH mit Urteil vom 23. August 2016 http://www.limmattalerzeitung.ch/limmattal/zuerich/ex-baenker-rudolf-elmer-verurteilt-aber-nicht-alswhistleblower-130511228 HS 2016 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 68
Räumlicher Geltungsbereich des schweizerischen Strafrechts im Wesentlichen in den Art. 3-8 StGB festgelegt sog. Strafanwendungsrecht: legt die Anwendbarkeit des Schweizerischen Strafrechts auf menschliches Verhalten im Inland und Ausland fest umschreibt zugleich die schweizerische Gerichtsbarkeit, d.h. die Fälle, «in denen die Schweiz Strafhoheit beansprucht und sich zur Verfolgung und Bestrafung eines Verhaltens für zuständig erklärt» (BGE 108 IV 146) Schnittstelle zwischen materiellem Recht und Prozessrecht: Behandlung als Zurechnungsregel oder als Prozessvoraussetzung? Hinweis für die Fallbearbeitung: vorfrageweise vor der Prüfung der Straftatbestände abhandeln, bei denen die Anwendungsproblematik relevant erscheint HS 2016 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 69
Räumlicher Geltungsbereich des schweizerischen Strafrechts Begründung des Strafanspruchs: hinreichende Verknüpfung der Tat mit dem eigenen Staatswesen erforderlich («genuine link») Anknüpfungspunkte bei Inlandstaten: Taten, die auf dem Hoheitsgebiet der Schweiz begangen werden Taten, die auf einem Schiff oder Flugzeug begangen werden, das die Schweizer Flagge führt Territorialitätsprinzip Flaggenprinzip Art. 3 StGB Art. 4 Abs. 2-4 SSG, Art. 97 LFG Konkretisierung des Begehungsortes Ubiquitätsprinzip Art. 8 StGB Vgl. auch DONATSCH/TAG, S. 47 ff. HS 2016 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 70
Räumlicher Geltungsbereich des schweizerischen Strafrechts Anknüpfungspunkte bei Auslandstaten: von einem Schweizer im Ausland begangene Taten an einem Schweizer im Ausland begangene Tat Taten, die sich gegen die Schweiz als Staat richten Taten, zu deren Verfolgung sich die Schweiz verpflichtet hat Taten, bei denen der Tatverdächtige sich in der Schweiz aufhält, bei denen aber eine Auslieferung nicht in Betracht kommt Taten, bei denen ein ausländischer Staat die Schweiz um Verfolgung bittet Aktives Personalitätsprinzip Passives Personalitätsprinzip Staatsschutzprinzip Universalitäts- oder Weltrechtsprinzip Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege Delegationsprinzip Art. 7 StGB Art. 7 StGB Art. 4 StGB Art. 5 StGB, Art. 6 StGB, Spezialbestimmungen Art. 7 StGB Art. 85 f. IRSG HS 2016 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 71
Hinweis Die Artikel 4-7 StGB sind kein Prüfungsstoff HS 2016 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 72
Inlandstaten Art. 3 Abs. 1 StGB Verbrechen oder Vergehen im Inland «Diesem Gesetz ist unterworfen, wer in der Schweiz ein Verbrechen oder Vergehen begeht.» gilt auch für Übertretungen (Art. 104 StGB) Art. 8 Abs. 1 StGB Begehungsort «Ein Verbrechen oder Vergehen gilt als da begangen, wo der Täter es ausführt oder pflichtwidrig untätig bleibt, und da, wo der Erfolg eingetreten ist.» Ort der Ausführungshandlung Ort des pflichtwidrigen Untätigbleibens Ort des Erfolgseintritts nicht erwähnte Konstellationen HS 2016 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 73
Fallbeispiel: Verweigerte Kindesrückgabe M. kam mit seiner Ehefrau R. überein, dass er ihre beiden gemeinsamen Kinder ferienhalber mit nach Ägypten nehmen dürfe. Das Sorgerecht stand der Ehefrau zu. Abmachungsgemäss sollte M. die Kinder nach den Ferien wieder bei seiner Ehefrau in Zürich abliefern. Er kehrte aber ohne die beiden Kinder nach Zürich zurück und erklärte R., dass die Kinder fortan in Kairo bleiben und dort zur Schule gehen würden. Der wiederholten Aufforderung von R., die Kinder wieder in ihre Obhut zu geben, kam M. nicht nach. Darauf stellte R. Strafantrag wegen Entziehens von Unmündigen (Art. 220 StGB). M. macht im Strafverfahren geltend, für die Rückgabe der Kinder sei ein Tun in Ägypten erforderlich, womit kein Handlungsort in der Schweiz bestehe. Anwendbarkeit des schweizerischen Strafrechts auf das Verhalten von M.? Vgl. BGE 125 IV 14 HS 2016 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 74
Fallbeispiel: «I Love You»-Virus Zu einer weltweiten Computerkrise führte der «I Love You»-Virus Anfang Mai 2000. Ausgelöst durch einen 23-jährigen Informatikstudenten aus den Philippinen, konnte der Virus innert weniger als 36 Stunden weltweit nachgewiesen werden. In der Schweiz waren praktisch alle Grossfirmen betroffen, auch bei der Bundesverwaltung führte der Virus zu grösseren Ausfällen. Die Strafuntersuchung gegen den Urheber des «I Love You»-Virus in den Philippinen wurde eingestellt. Es existierte dort zu jenem Zeitpunkt schlicht kein Straftatbestand, der das Verhalten erfasst hätte. Wenn man sich so ein Szenario heutzutage vorstellt: Wären die Schweizer Behörden berechtigt, eine solche Tat dann eben selbst zu verfolgen, nachdem auf den Philippinen das Strafverfahren aus welchen Gründen auch immer eingestellt wurde? HS 2016 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 75
Inlandstaten Erledigung des Strafanspruchs durch einen fremden Staat «ne bis in idem»-prinzip gilt im zwischenstaatlichen Verhältnis grundsätzlich nicht, daher drohende Doppel-/Mehrfachverfolgung in verschiedenen Staaten Abmilderung der Problematik namentlich durch bilaterale/multilaterale Verträge (z.b. Art. 54 f. SDÜ; Rechtshilfeübereinkommen mit «ne bis in idem»-klauseln) Erledigungsvorbehalte im StGB HS 2016 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 76
Inlandstaten Erledigungsvorbehalte bei Inlandstaten: Art. 3 Abs. 2 StGB: Anrechnungsprinzip: nochmalige Verfolgung und Beurteilung in der Schweiz, allenfalls wird dem Täter eine im Ausland wegen derselben Tat ganz oder teilweise bereits verbüsste Strafe angerechnet Art. 3 Abs. 3 StGB: Erledigungsprinzip = Wenn Schweiz zuvor um Strafverfolgung ersucht hat, schliessen endgültiger Freispruch, Vollzug, Erlass oder Verjährung der verhängten Strafe erneute Verfolgung in der Schweiz grundsätzlich aus. Bei unvollständiger Vollstreckung der verhängten Strafe: Art. 3 Abs. 4 StGB: Vollzugsprinzip = nicht vollstreckte Reststrafe wird in der Schweiz vollzogen HS 2016 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 77
Fallbeispiel: Kindsköpfe In einer Siedlung der Baugenossenschaft im Gut in Zürich erhalten sämtliche Mieter ein Anschreiben der Verwaltung. Der Hausmeister hat beobachtet, wie ein Kind aus der Siedlung die Steinabdeckung an der Begrenzungsmauer zur Gutstrasse mit einer Eisenstange beschädigt hat. Alle Eltern werden angehalten, ihre Kinder inskünftig besser zu beaufsichtigen; die Eltern des Übeltäters werden zudem aufgerufen, sich zur Verrechnung des Schadens in der Verwaltung zu melden. Nun sorgen sich dessen Eltern: Hat sich ihr Sohn (8 Jahre alt) wohlmöglich sogar strafbar gemacht? Droht ihm also gar ein Strafverfahren, falls sie bei der Verwaltung als seine Eltern vorstellig werden und damit zugleich auch seine Identität preisgeben? HS 2016 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 78
Personaler Geltungsbereich des schweizerischen Strafrechts Nicht in den Anwendungsbereich des Strafnormen des StGB fallen: Kinder bis einschliesslich 10. Altersjahr sind strafunmündig (vgl. Art. 3 Abs. 1 JStG); bei Straftaten kann allenfalls die Vormundschaftsbehörde oder die Fachstelle für Jugendhilfe informiert werden, vgl. Art. 4 JStG Personen, die bezüglich der konkret in Frage stehenden Tat dem Militärstrafrecht unterfallen massgeblich: persönlicher Geltungsbereich des Militärstrafrechts (Art. 3 ff. MStG) Vgl. DONATSCH/TAG, S. 65 ff. HS 2016 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 79
Personaler Geltungsbereich des schweizerischen Strafrechts Besonderheiten gelten für: Jugendliche ab dem zurückgelegten 10. Altersjahr (bis zum 18. Geburtstag) sind strafmündig (vgl. Art. 3 Abs. 1 JStG) es gelten aber die besonderen Regelungen des JStG (vgl. Art. 9 Abs. 2 StGB, Art. 3 Abs. 1 JStG) Parlamentarier, Mitglieder der Exekutive, Staatsoberhäupter und Diplomaten diplomatische/parlamentarische Immunität (ausserstrafrechtlich geregelt) HS 2016 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 80