Schweizerische Aussenpolitik

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Transkript:

Schweizerische Aussenpolitik 1

2

Laurent Goetschel Magdalena Bernath Daniel Schwarz Schweizerische Aussenpolitik Grundlagen und Möglichkeiten Mit einem Vorwort von Bundesrat Joseph Deiss Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten Verlag Neue Zürcher Zeitung 3

Dieses Werk wurde mit einem Beitrag des Schweizerischen Nationalfonds unterstützt. 2002 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich Medienvorstufe: Ohmayer GmbH, Typografie Grafik Produktion, Zürich ISBN 3-85823-951-8 www.nzz-buchverlag.ch 4

Vorwort Der 11. September 2001 hat uns brutal ins Bewusstsein gerufen, was sich zuvor schon deutlich abzeichnete: Wir leben in einer Umbruchs- und Übergangszeit. Die Terroranschläge gegen die USA sind einerseits der Kulminationspunkt einer Dekade des beschleunigten weltpolitischen, wirtschaftlichen, technologischen und kulturellen Wandels mit grossen Chancen und grossen Risiken; sie deuten andererseits auf die Ankunft einer neuen Epoche hin, deren Gestalt und Gesetzmässigkeiten wir noch nicht richtig zu erahnen vermögen. Trotz der rasanten Fortschritte von Wissenschaft und Technik leben wir heute nicht in einer zunehmend berechenbaren oder beherrschbaren Welt, sondern in einer unübersichtlicheren, ja in einer «entfesselten Welt» (Anthony Giddens). Fest steht, dass wir die Politik im Hinblick auf die veränderten weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Konstellationen grundlegend überdenken müssen. Was die schweizerische Aussenpolitik anbelangt, hat dieser Denkprozess bereits im letzten Jahrzehnt eingesetzt. Das vorliegende Werk legt davon Zeugnis ab. Es schliesst eine Lücke. Es ist die erste umfassende Analyse der schweizerischen Aussenpolitik im ausgehenden 20. Jahrhundert, die sowohl einen informativen Überblick gibt als auch den aktuellen Forschungsstand aufarbeitet. Das Buch nimmt Bezug auf das Nationale Forschungsprogramm «Grundlagen und Möglichkeiten der Aussenpolitik» (NFP 42), das vor zwei Jahren abgeschlossen worden ist. Den Anstoss zum NFP 42 gab ein Bedürfnis nach vertiefter Reflexion über die schweizerische Aussenpolitik in Anbetracht des sich rasch ändernden Umfeldes. Insbesondere die innenpolitische Dimension unserer Aussenbeziehungen und die Bedingungen der direktdemokratischen Entscheidfindung waren vermehrt ins Zentrum des Interesses gerückt. Das war teilweise die Folge der Entscheidungen des Jahres 1992, das für unsere Aussenpolitik fast schon als «Schicksalsjahr» gelten kann: Im Frühjahr hiess das Schweizer Stimmvolk den Beitritt zu den Bretton-Woods-Institutionen gut. Kurz danach reichte der Bundesrat in Brüssel das Schweizer EG-Beitrittsgesuch ein, und im Dezember des gleichen Jahres verwarfen Volk und Stände den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Dies waren allerdings nicht die einzigen Herausforderungen, mit denen sich die schweizerische Aussenpolitik in den neunziger Jahren kon- 5

frontiert sah. Das internationale Umfeld wandelte sich dramatisch: Nach dem Ende der bipolaren Weltordnung wurden die USA zur einzigen global handlungsfähigen Grossmacht. Das Auseinanderbrechen der Sowjetunion und Jugoslawiens liess fast 20 neue Staaten entstehen, und es kam auch in Europa wieder zu Kriegen. Die Europäische Union vollendete ihren Binnenmarkt, schuf eine Wirtschafts- und Währungsunion, wurde zur wichtigsten politischen Kraft auf dem Kontinent und integriert nun sämtliche Nachbarstaaten der Schweiz ausser Liechtenstein. Die Kommunikationstechnologie revolutionierte sich; die Globalisierung liess die Welt zusammenwachsen und öffnete gleichzeitig neue Gräben. Weltweit nahm die Zahl der innerstaatlichen Konflikte zu, mit massiven Fluchtbewegungen und Instabilität ganzer Regionen als Folge. Neuartige Bedrohungsszenarien wie beispielsweise der globale Terrorismus, das organisierte Verbrechen oder die Erderwärmung rückten in den Vordergrund. Die weltweite Interdependenz verstärkte sich; der Nationalstaat als autonomer, eigenständiger Akteur sieht seinen Handlungsspielraum eingeschränkt. Multilaterale Organisationen und regionale Formen der Zusammenarbeit gewinnen an Gewicht. Hinzu kommt eine Vervielfachung der Akteure auf dem Feld der Aussenpolitik: Es ist dies nicht mehr nur die Domäne der Staaten, es spielen immer mehr auch Nicht-Regierungsorganisationen, private Unternehmen oder die Medien mit. All dies stellt erhöhte Anforderungen an den Beruf des Diplomaten, an dessen Fähigkeiten als Kommunikator und Koordinator, an dessen Beziehungsnetz sowie seine Generalisten- und Fachkenntnisse auf einer wachsenden Anzahl von Gebieten. Gleichgültig ob wir die veränderten Rahmenbedingungen als Paradigmawechsel oder als Umwälzung bezeichnen, fest steht, dass sich auch die schweizerische Aussenpolitik in den neunziger Jahren darauf einstellen musste. Hat sie dies mit Erfolg getan? Ja und nein. Die Resultate der beiden erwähnten Volksabstimmungen von 1992 über den Beitritt zu den Bretton-Woods-Institutionen bzw. zum EWR sind dafür symptomatisch. Die Schweiz hat einerseits auf den erhöhten aussenpolitischen Handlungsbedarf reagiert und ihre internationale Präsenz, ihren Einfluss zur Wahrung ihrer Interessen verstärken können. Andererseits ist in europapolitischer Hinsicht der Handlungsspielraum enger und das Risiko wachsender Fremdbestimmung grösser geworden. Zunächst zur verstärkten Präsenz: Durch das Ende des Kalten Krieges hatte sich der aussenpolitische Handlungsspielraum der Schweiz vergrössert. Die wachsende Bedeutung der multilateralen Verhandlungsforen erforderte ein aktiveres Mitwirken der Schweiz. Es ging um eine wirkungs- 6

vollere und angemessenere Interessenwahrung. Der erweiterte Spielraum wurde vor allem im sicherheitspolitischen Bereich genutzt: Die Schweiz engagierte sich vermehrt im Rahmen der OSZE und führte 1996 deren Vorsitz. Sie wirkte an friedenserhaltenden Aktionen unter UNO- oder OSZE-Mandat mit. Das berühmteste Beispiel ist die «Swisscoy» im Kosovo. Seit 1996 beteiligt sich die Schweiz auch an der NATO-«Partnerschaft für den Frieden», und sie wurde im gleichen Jahr Vollmitglied der Genfer Abrüstungskonferenz. Wie rasch sich unser Land gerade im letztgenannten Bereich wandelte vom passiven Beobachter zum aktiven Partner, der wichtige Impulse zu vergeben mag, dokumentieren Untersuchungen im Rahmen des NFP 42. Die Zunahme der innerstaatlichen Konflikte verlangte ausserdem nach einem deutlicheren Profil für die schweizerische Friedenspolitik. Die «Guten Dienste» in ihrer traditionellen Form bedurften der Weiterentwicklung. Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten hat beispielsweise einen Pool von zivilen Friedensexperten eingerichtet, aus welchem Fachleute verschiedenster Sparten für Friedensmissionen zur Verfügung gestellt werden. Das Instrumentarium der zivilen Friedensförderung wird seit den neunziger Jahren schrittweise ausgebaut. Mit Recht ortete das NFP 42 in diesem Bereich einen beträchtlichen Handlungsbedarf für die Schweiz. Vorbereitungen für ein entsprechendes Bundesgesetz sind im Gang, und die Kontakte mit den einschlägigen Organisationen der Zivilgesellschaft sind im Hinblick auf ein grösseres friedenspolitisches Engagement enger geknüpft worden. Auch für die schweizerische Entwicklungszusammenarbeit ist durch das Ende des Ost-West-Konflikts mehr Handlungsspielraum entstanden: Man begann, die politischen Rahmenbedingungen in die Entwicklungszusammenarbeit miteinzubeziehen und der Guten Regierungsführung, den Menschenrechten, dem Umgang mit Minderheiten und der Demokratisierung mehr Beachtung zu schenken. Die Schweiz reagierte auch sogleich nach dem Fall der Berliner Mauer auf die neuen Bedürfnisse im Osten und leistete namhafte Beiträge an die Transformation der mittel- und osteuropäischen Staaten. Heute fällt insbesondere die Präsenz in Südosteuropa ins Gewicht; diese Region ist zu einem neuen Schwerpunkt der schweizerischen Aussenpolitik geworden. Der Bundesrat hat bereits im Aussenpolitischen Bericht aus dem Jahr 1993 festgestellt, dass die Wirksamkeit und Durchschlagskraft der Aussenpolitik mehr denn je von der Fähigkeit eines Staates abhängt, seine Interessen im multilateralen Rahmen zu wahren. Dieser Befund ist heute so 7

aktuell wie damals. Nicht von ungefähr trägt der neue Aussenpolitische Bericht 2000 den Titel «Präsenz und Kooperation: Interessenwahrung in einer zusammenwachsenden Welt». Die Schweiz ist einmal abgesehen von ihrem kleinräumigen Territorium kein Kleinstaat; sie ist eine mittelgrosse Wirtschaftsmacht und hat, wie andere Länder auch, Interessen zu verteidigen und Verantwortung wahrzunehmen. Politisches Abseitsstehen birgt in einer interdependenten Welt die Gefahr einer politischen und wirtschaftlichen Fremdbestimmung. Souveränität bedeutet heute Selbstbestimmung durch Einflussnahme dort wo unsere Interessen betroffen sind. Eine Aussenpolitik, welche die weltweiten Rahmenbedingungen aktiv mitgestaltet, wirkt sich zum politischen und wirtschaftlichen Vorteil unseres Landes aus. In den neunziger Jahren hat die Schweiz einzelne Etappenziele erreicht, um ihre Präsenz auf der internationalen Bühne zu verstärken und ihren Einfluss zu mehren. Und doch gibt es da noch bedeutende «Mitwirkungslücken»: Sie finden sich in den wichtigsten Entscheidungszentren auf globaler und auf regionaler Ebene den Vereinten Nationen und der Europäischen Union. Die Volksabstimmung über den Beitritt der Schweiz zur UNO steht unmittelbar bevor (3. März 2002). Über den Zeitpunkt des Beitritts zur EU wagt derzeit niemand eine Prognose. Tatsache ist, dass sich im Kontrast zum eben geschilderten weltpolitischen Aktionsrahmen der Handlungsspielraum in unseren Beziehungen zur Europäischen Union verengt hat. Der Europäische Wirtschaftsraum war ein Versuch, die Zusammenarbeit mit der EU auf die Dynamik des Binnenmarktes abzustimmen. Nachdem sich Volk und Stände diesem Weg 1992 verschlossen hatten, suchte der Bundesrat auf dem Weg der bilateralen Verhandlungen nach einem verbesserten Zugang zum Binnenmarkt. Es sollten aber zehn Jahre vergehen, bis die mit der EU abgeschlossenen und vom Volk gutgeheissenen sieben bilateralen Abkommen in Kraft treten können voraussichtlich in der ersten Hälfte des Jahres 2002. Verhandlungen über weitere Vereinbarungen laufen zur Zeit nur schleppend an. In der Zwischenzeit schreitet der Prozess der Vertiefung und Erweiterung der europäischen Integration aber unaufhaltsam fort. Er reicht längst über rein wirtschaftliche Fragen hinaus. Europa verändert seine Gestalt, ohne dass die Schweiz darauf auch nur den geringsten Einfluss nehmen könnte. Es fällt uns gerade auf dem wichtigsten aussenpolitischen Gebiet der Beziehungen zu unserer europäischen Nachbarschaft schwer, mit der Entwicklung Schritt zu halten. Unser Land kann an den Entscheidungen und Haltungen der EU nicht vorbeisehen. Ob die Schweiz es will oder nicht, sie ist in den meisten Fällen mit- 8

betroffen. Die zu Beginn dieses Jahres erfolgte Lancierung des Euro wird uns das deutlicher denn je vor Augen führen. Zur Wahrung ihrer Interessen muss die Schweiz deshalb viele Entwicklungen der EU «autonom» nachvollziehen betreffe dies nun das Binnenmarktrecht, die innere Sicherheit oder aussenpolitische Entscheide. Im Falle des weiteren Fernbleibens von der EU nimmt die Schweiz deshalb das Risiko wachsender Fremdbestimmung auf sich. Über alle wichtigen aussenpolitischen Fragen entscheidet in der Schweiz das Volk, allenfalls zusammen mit den Ständen. Es gibt aufgrund unserer Verfassung keine grundlegende aussenpolitische Weichenstellung oder Kursänderung ohne Volksabstimmung. Das stärkt die demokratische Legitimation und Kontrolle. Und es stellt hohe Anforderungen an die Abstützung aussenpolitischer Ziele im Innern. Dies gilt umso mehr, als heute die Innen- und die Aussenpolitik ebenso untrennbar miteinander verknüpft sind wie die wirtschaftliche mit der politischen Interessenwahrung. Dem NFP 42 und dem vorliegenden Werk kommt das Verdienst zu, die aussenpolitischen Entscheidungsprozesse in unserem System ausgeleuchtet zu haben. Die Schlussfolgerung ist, dass die Aussenpolitik und der mit ihr einhergehende Wandel im Innern besser vermittelt werden müssen. Angezeigt wäre deshalb eine vertiefte Auseinandersetzung mit der These, es gebe eine Diskrepanz zwischen der tatsächlichen internationalen Kooperation der Schweiz und der Erklärung oder Rechtfertigung dieser Politik im Innern. Fest steht, dass die Aussenpolitik der Schweiz regelmässig einer umfassenden Erörterung bezüglich ihrer Inhalte und Schwerpunkte bedarf. Es ist Aufgabe des Bundesrates, mit dem Parlament, den Kantonen und der breiten Öffentlichkeit einen ständigen Dialog zu führen. Ohne diesen Dialog, ohne breite innenpolitische Unterstützung ist eine Aussenpolitik, die den Herausforderungen unserer Zeit entspricht, nicht möglich. Eine besondere Bedeutung kommt dem Dialog mit der Wissenschaft zu. Der fortgesetzte Austausch mit der akademischen Welt und einschlägigen «Think Tanks» erlaubt es, Ideen, Handlungsoptionen oder Zukunftsszenarien zu entwickeln, Entscheidungen oder Projekte der verantwortlichen Behörden einer kritischen Überprüfung zu unterziehen und neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu verarbeiten. Das fördert das Verständnis der Aussenpolitik, dient ihrer Innovationskraft und letztlich auch der innenpolitischen Abstützung. Da ich von meinem Werdegang her die Welt der Akademie und die Welt der Politik gleichermassen von innen kenne, fühle ich mich deren Vernetzung umso mehr verpflichtet. Im Vergleich mit 9

unseren Nachbarländern und vor allem auch mit den USA besteht diesbezüglich in der Schweiz noch Nachholbedarf. Während der Laufzeit des NFP 42 ist der Gedankenaustausch aber wesentlich intensiviert worden. Und während die schweizerische Entwicklungszusammenarbeit oder die Direktion für Völkerrecht schon seit langem enge Bande mit der Wissenschaft unterhalten, gibt es jetzt beispielsweise auch in der zivilen Friedenspolitik eine systematischere Zusammenarbeit. Darauf gilt es aufzubauen. Die politischen Entscheidungsträger und die Verwaltung bewegen sich heute in einem zunehmend schwierigen Umfeld. Sie sind angesichts der aktuellen weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Herausforderungen und ihren innenpolitischen Rückwirkungen noch verstärkt auf Orientierungshilfen angewiesen. Ein ständiges Überdenken unserer Politik ist notwendig. Die Wissenschaft kann dazu einen Beitrag leisten. Das vorliegende Werk erhellt die komplexen Rahmenbedingungen der schweizerischen Aussenpolitik, trägt zur kritischen Selbstreflexion bei und gibt wichtige Anstösse. Joseph Deiss, Bundesrat Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten Februar 2002 10

Inhalt Vorwort 000 Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 000 Verzeichnis der Abkürzungen 000 Einleitung 000 Teil 1: Theoretische Grundlagen 000 1 Aussenpolitik und Aussenpolitikanalyse 000 1.1 Aussenpolitik 000 Souveränität 000 Interesse 000 Macht 000 1.2 Aussenpolitikanalyse 000 Theorien der internationalen Beziehungen 000 Realismus und Neorealismus 000 Interdependenz 000 Konstruktivismus 000 Neoklassische Realisten und internationale Regime 000 Zusammenfassung 000 2 Rollenkonzeptionen der schweizerischen Aussenpolitik 000 2.1 Theorie der Rollenkonzeptionen 000 2.2 Traditionelle Rollenkonzeptionen der Schweiz 000 Neutralität 000 Antikommunismus 000 Wirtschaftliche versus politische Integration 000 2.3 Der Wandel des internationalen Umfelds 000 Internationale Sicherheit nach dem Kalten Krieg 000 Europäische Integration 000 Globalisierung 000 2.4 Die Auswirkungen des Wandels auf die Rollenkonzeptionen der Schweiz 000 Zusammenfassung 000 11

Teil 2: Institutionen und Entscheidungsprozesse 000 3 Institutionelle Grundlagen 000 3.1 Bund und Kantone in der Aussenpolitik 000 3.2 Bundesrat und Parlament in der Aussenpolitik 000 Abgrenzung zwischen Exekutive und Legislative 000 Struktur und Organisation des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) 000 3.3 Partizipation des Volkes an der Aussenpolitik 000 Volksinitiative 000 Obligatorisches Staatsvertragsreferendum 000 Fakultatives Staatsvertragsreferendum 000 Fakultativ-fakultatives Staatsvertragsreferendum 000 3.4 Die einzelnen Bürgerinnen und Bürger im Staatsvertragsrecht 000 Wie wird Völkerrecht zu Landesrecht? 000 Wann können Einzelpersonen aus einem Staatsvertrag Rechte ableiten? 000 3.5 Ausblick und Reformvorschläge 000 Zur Reform des fakultativen Staatsvertragsreferendums 000 Ausblick auf Europa 000 Zusammenfassung 000 4 Aussenpolitische Entscheidungsprozesse 000 4.1 Eckdaten 000 4.2 Eine führungsschwache Regierung? 000 4.3 Das Parlament als aussenpolitische Spielwiese? 000 4.4 Der Einfluss von Parteien und Verbänden 000 Parteien 000 Verbände 000 4.5 Demokratische Legitimierung durch die Einbindung von NGOs? 000 4.6 Stiefkind Aussenpolitik in der Medienberichterstattung 000 4.7 Umstrittene Abstimmungskampagnen 000 Zusammenfassung 000 12

Teil 3: Politikfelder 000 5 Europapolitik 000 5.1 Die Entwicklung der Europapolitik der Schweiz 000 Der Beginn des Integrationsprozesses 000 Entspannung zu Beginn der sechziger Jahre 000 Institutionalisierung der Beziehungen in den siebziger und achtziger Jahren 000 Der Anlauf zum EWR-Beitritt und die Rückkehr zum Bilateralismus 000 Doppelte Herausforderung an die Verhandlungsführung 000 5.2 Die Auswirkungen des Abseitsstehens 000 5.3 Optionen für die Zukunft 000 Wirtschaftliche und politische Interessen 000 Differenzierte Integration als Alternative 000 5.4 Beitritt als einzige Zukunftsalternative 000 Auswirkungen auf das Parlament und die direkte Demokratie 000 Auswirkungen auf den Föderalismus 000 Auswirkungen auf die Aussen- und Sicherheitspolitik der Schweiz 000 Die innenpolitische Abstützung und Steuerung der Integrationspolitik 000 Zusammenfassung 000 6 Friedens- und Sicherheitspolitik 000 6.1 Was bedeutet Sicherheit, und was heisst Frieden? 000 Sicherheit 000 Frieden 000 Staatliche Friedens- und Sicherheitspolitik 000 6.2 Die Entwicklung der Sicherheitspolitik der Schweiz 000 Die Periode des Kalten Krieges und der Bericht 73 000 Die politische Wende und der Bericht 90 000 Das Jahr 1996: Offenheit oder «muddling through»? 000 Sicherheit durch Kooperation: der sicherheitspolitische Bericht 2000 000 6.3 Friedensförderung 000 Prävention, Krisenmanagment und Friedenskonsolidierung 000 Die Friedensförderungspolitik der Schweiz 000 Friedensfördernde Massnahmen 000 13

Menschliche Sicherheit 000 Beiträge im militärischen Bereich 000 6.4 Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik 000 6.5 Herausforderung des Wandels 000 Zusammenfassung 000 7 Entwicklungspolitik 000 7.1 Entwicklungspolitik und Entwicklung 000 7.2 Warum Entwicklungshilfe leisten? 000 7.3 Internationale Entwicklungsziele und das Konzept von «Good Governance» 000 7.4 Struktur und Inhalte der schweizerischen Entwicklungspolitik 000 7.5 Umfang und Akzeptanz der schweizerischen Entwicklungspolitik 000 Zusammenfassung 000 8 Aussenwirtschaftspolitik 000 8.1 Grundlagen und Begriffe 000 8.2 Zur ökonomischen Verflechtung der Schweiz 000 8.3 Überschätzter Bilateralismus 000 8.4 Relative Kleinstaatlichkeit und strategieabhängiger Einflussgrad 000 Der Gebrauch der Kreditwaffe nach dem Zweiten Weltkrieg 000 Die Politik gegenüber den Institutionen von Bretton Woods 000 8.5 Freihandelspolitik zwischen Schein und Sein 000 8.6 Die Stellung der Schweiz zu Wirtschaftssanktionen 000 Zusammenfassung 000 9 Zielkonflikte und Kohärenz in der Aussenpolitik 000 9.1 Entstehung von Zielkonflikten 000 9.2 Motive und Grenzen bei der Verfolgung von Politikkohärenz 000 9.3 Definition und Anwendungsebenen 000 9.4 Kohärenz in den Aussenbeziehungen der Schweiz 000 Grundlagen 000 Begriff und Anwendung der politischen Konditionalität 000 Beispiele 000 Rüstungsgüterexporte 000 14

Exportrisikogarantie 000 Immaterialgüterrechte 000 9.5 Schlussfolgerungen für mehr Kohärenz in den Aussenbeziehungen 000 Zusammenfassung 000 Schlussfolgerungen 000 Anmerkungen 000 Literatur 000 Anhang 000 NFP 42 Synthesis 000 NFP 42 Working papers 000 Stichwortregister 000 15

Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen Abbildung 1: Organisationsstruktur des EDA (Stand: Januar 2002) Abbildung 2: Vernehmlassungsverfahren auf Stufe Bund, Anzahl Geschäfte pro Jahr Abbildung 3: Entwicklung der Anteile am Welt-Bruttosozialprodukt (Entwicklungs- und Industrieländer) Abbildung 4: Die wichtigsten Abteilungen der DEZA Abbildung 5: Wichtigste Instrumente der schweizerischen Aussenwirtschaftspolitik Abbildung 6: Bezugsebenen der Politikkohärenz Tabelle 1: Entscheidungsinstanz für aussenpolitische Geschäfte (Dez. 1981 Nov. 1985 und Dez. 1989 Nov. 1993) Tabelle 2: Aussenpolitische Geschäfte mit einem federführenden Amt gruppiert nach Departementen Tabelle 3: Entwicklung des UNDP Human Development Index (HDI) 1975 1999 Tabelle 4: Ausgaben für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit im internationalen Vergleich (1998) Tabelle 5: Aussenhandelsquote der Schweiz im historischen Verlauf (in Prozent des Bruttosozialprodukts) Tabelle 6: Kennzahlen zur schweizerischen Aussenwirtschaft im internationalen Vergleich Tabelle 7: Wirtschaftsbeziehungen der Schweiz mit den Weltmärkten (in Prozent) Tabelle 8: Austauschkoeffizient* des Warenhandels zwischen der Schweiz und Entwicklungsländern (1999) Tabelle 9: Austauschkoeffizient* des Warenhandels zwischen der Schweiz und Entwicklungsländern im historischen Verlauf (1900 1999) Tabelle 10: Durchschnittliche Importzölle (in Prozent des Wertes) Tabelle 11: Landwirtschaftsausgaben 1999 im internationalen Vergleich 16

Verzeichnis der Abkürzungen APEC ASEAN ASEM AUNS BAWI BGMK BIP BSP BUWAL BV BWI CERN CVP DAC DEZA EDA EDI EEA EFD EFTA EG EGKS EJPD EMRK EPD ERG ESVP EU EuGH EVD EWG EWR EZA EZU FDP GASP GATS GATT GKG GUS Asia Pacific Economic Cooperation Association of Southeast Asian Nations Asia-Europe Meeting Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz Bundesamt für Aussenwirtschaft (heute SECO) Bundesgesetz über die Mitwirkung der Kantone Bruttoinlandprodukt Bruttosozialprodukt Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft Schweizerische Bundesverfassung Bretton Woods Institutionen Europäische Organisation für kernphysikalische Forschung Christlichdemokratische Volkspartei Development Assistance Committee (Entwicklungsausschuss der OECD) Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten Eidgenössisches Departement des Innern Einheitliche Europäische Akte Eidgenössisches Finanzdepartement European Free Trade Association (Europäische Freihandelsassoziation) Europäische Gemeinschaft Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement Europäische Menschenrechtskonvention Eidgenössisches Politisches Departement (heutiges EDA) Exportrisikogarantie Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik Europäische Union Europäischer Gerichtshof Eidgenössisches Volkswirtschaftsdepartement Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (heutige EG/EU) Europäischer Wirtschaftsraum Entwicklungszusammenarbeit Europäische Zahlungsunion Freisinnig-Demokratische Partei Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik General Agreement on Trade in Services (Allgemeines Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen) General Agreement on Trade and Tariffs (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen) Güterkontrollgesetz Gemeinschaft Unabhängiger Staaten 17

GVG HDI HIPC IDA ILO IRG IWF KdK KMG KMU KOFF KSZE LSVA MAI MOEL NAFTA NATO NFP NGO NZZ OECD OECE OPCW OSEC OSZE PA PARP PdA PfP PSO SBVg SDFC SECO SIPOL SIPPO SNB SOFI SP SR SVP TAFTA Geschäftsverkehrsgesetz Human Development Index Heavily Indebted Poor Countries (Gruppe der hochverschuldeten armen Länder) International Development Association (Internationale Entwicklungsagentur der Weltbankgruppe) International Labour Organisation (Internationale Arbeitsorganisation) Investitionsrisikogarantie Internationaler Währungsfonds Konferenz der Kantonsregierungen Kriegsmaterialgesetz Kleine und mittlere Unternehmungen Kompetenzzentrum Friedensforschung Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (heute OSZE) Leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe Multilaterales Abkommen über Investitionen Mittel- und osteuropäische Länder North American Free Trade Agreement (Nordamerikanisches Freihandelsabkommen) North Atlantic Treaty Organisation Nationales Forschungsprogramm Nongovernmental Organization (Nichtregierungsorganisation) Neue Zürcher Zeitung Organisation for Economic Co-Operation and Development (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) Organisation Européenne de Coopération Economique (Europäische Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit, heute OECD) Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons (Organisation für das Verbot chemischer Waffen) Schweizerische Zentrale für Handelsförderung Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Politische Abteilung Planning and Review Process Partei der Arbeit Partnership for Peace (Partnerschaft für den Frieden) Peace Support Operation Schweizerische Bankiervereinigung Swiss Development Finance Corporation Staatssekretariat für Wirtschaft Sicherheitspolitik Swiss Import Promotion Programm Schweizerische Nationalbank Swiss Organization for Facilitating Investments Sozialdemokratische Partei Systematische Sammlung des Bundesrechts Schweizerische Volkspartei Transatlantic Free Trade Area 18

TRIPS Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights (Handelsbezogene Aspekte des Geistigen Eigentums) UNCED UN Conference on Environment and Development (UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung) UNCTAD UN Conference on Trade and Development (UN-Konferenz für Handel und Entwicklung) UNDP UN Development Programme (UN-Entwicklungsprogramm) UNIDO UN Industrial Development Organization (UN-Organistion für industrielle Entwicklung) UNO United Nations Organization (Vereinte Nationen) UVEK Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation VBS Eidgenössisches Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport WEF World Economic Forum (Weltwirtschaftsforum) WEU Westeuropäische Union WIPO Weltorganisation für Geistiges Eigentum WTO World Trade Organization (Welthandelsorganisation) WWF World Wide Fund for Nature 19

Einleitung Aussenpolitik bedeutet primär Interessenwahrung gegenüber dem internationalen Umfeld. Dessen Wandel hat sich nach dem Ende des Kalten Krieges beschleunigt: Auf der globalen Ebene haben die Vereinten Nationen und der Multilateralismus an Bedeutung gewonnen, die Suche nach neuen Ordnungsprinzipien ist allerdings nach wie vor im Gang. Auf der regionalen Ebene hat sich die Europäische Union sowohl erweitert als auch vertieft. Und auch dieser Prozess ist alles andere als abgeschlossen. Die zunehmende internationale Verflechtung und die Globalisierung haben schliesslich dazu geführt, dass nichtstaatliche Akteure wie internationale Organisationen, transnationale Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen (NGO) an Einfluss gewannen, während nationalstaatliche Grenzen an Bedeutung verloren. Diese drei Veränderungsprozesse stellen Herausforderungen an den Inhalt und die Umsetzung der Aussenpolitik. Für ein Land mit ausgebauten direktdemokratischen Mitbestimmungsrechten wie die Schweiz kommt hinzu, dass wichtige aussenpolitische Reformen der Zustimmung des Volkes bedürfen. Am 6. Dezember 1992 lehnte die Stimmbevölkerung den Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ab, obschon der Bundesrat und weite Kreise ihn befürwortet hatten. Dieses Verdikt stellte nach der Ablehnung des UNO-Beitritts 1986 eine weitere Desavouierung der Regierung in einer für sie wichtigen aussenpolitischen Angelegenheit dar. Es warf zahlreiche Fragen zum Funktionieren der Aussenpolitik auf, insbesondere, wie sich das Spannungsfeld zwischen den internen Entscheidungsstrukturen und den äusseren Anforderungen auf die Aussenpolitik auswirkt. In der Folge wurde das Nationale Forschungsprogramm «Grundlagen und Möglichkeiten der schweizerischen Aussenpolitik» (NFP 42) lanciert, das zum ersten Mal die Aussenpolitik als Ganzes zum Gegenstand eines solchen Programms machte (Schweizerischer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung 1995). In der Schweiz kam der Aussenpolitik in der Politikwissenschaft lange Zeit eine geringe Bedeutung zu. Die Anfänge der Disziplin beruhten auf Studien über die innenpolitische Verfasstheit des Landes, insbesondere die direkte Demokratie, den Föderalismus und das Regierungssystem. Die Aussenpolitikanalyse stellte hingegen ein stark untervertretenes und erst 20

noch methodisch heterogenes Forschungsfeld dar (Linder 1996). Die Analyse der Neutralität war von Völkerrechtlern geprägt. Politikwissenschaftliche Fragen blieben lange, abgesehen von vereinzelten, aber qualitativ bedeutenden Ausnahmen (Frei 1966 und 1969), vollständig ausgeklammert. Es erstaunt deshalb nicht, dass bis anhin eine umfassende, aktuelle Darstellung der Aussenpolitik der Schweiz fehlt. Das Neue Handbuch zur schweizerischen Aussenpolitik und sein Vorläufer (Riklin et al. 1992 und 1975), die beiden Standardwerke zum Thema, behandeln die wichtigsten Problemkreise vorwiegend aus rechtlicher und historischer Sicht. Viele Beiträge stammen von Sachverständigen aus der Verwaltung, welche die Aussenpolitik aktiv mitgestalteten. Auffällig ist zudem die Vernachlässigung der innenpolitischen Dimension der Aussenpolitik; kein einziger Beitrag ist der aussenpolitischen Entscheidfindung gewidmet. Auch das neue Handbuch der Schweizer Politik (Klöti et al. 1999) thematisiert das Spannungsfeld zwischen Innen- und Aussenpolitik nur am Rande. 1 Dabei ist es gerade diese spannungsreiche Verknüpfung, die seit dem Ende des Kalten Krieges zu einer Belebung der Diskussionen über die Aussenbeziehungen der Schweiz geführt hat. Die Publikation von Frei (1983) für die Pro Helvetia, von Schneider (1998) aktualisiert und ergänzt, beschränkt sich auf einen Überblick. Im Laufe von fünf Jahren (1995 2000) haben sich im Rahmen des NFP 42 insgesamt 58 Forschungsprojekte mit der schweizerischen Aussenpolitik befasst. Sie stammen aus den Disziplinen Geschichts-, Medien- und Politikwissenschaft sowie Soziologie, Rechts- und Wirtschaftswissenschaft. Untersuchungsschwerpunkte bildeten der Einfluss, den der globale Wandel auf die Aussenpolitik der Schweiz ausübt; die Frage, wie innenpolitische Faktoren auf aussenpolitische Entscheidungsprozesse einwirken und die Analyse von Zielkonflikten, welche die Kohärenz und Wirksamkeit der schweizerischen Aussenpolitik beeinträchtigen. Die Ergebnisse des NFP 42 bilden die Grundlage der vorliegenden Publikation, 2 die aus politikwissenschaftlicher Sicht verfasst ist. Allerdings werden nicht sämtliche Forschungsarbeiten, die in diesem Rahmen durchgeführt worden sind, rezipiert. Dies wurde bereits an anderer Stelle getan (vgl. Goetschel 2000a); eine Liste aller NFP 42 Synthesen findet sich im Anhang. Ziel dieses Buches ist es, die Herausforderungen, die sich der schweizerischen Aussenpolitik heute stellen, in ihren wichtigsten Dimensionen und in ihrem Zusammenhang darzustellen. Im Zentrum stehen folgende Forschungsfragen, welchen die Politikwissenschaft für die Analyse der Aussenpolitik Bedeutung zumisst (Schneider 1997: 109, 119; Hudson und 21

Vore 1995 1995: 222 228) und welche auch die Schwerpunkte des NFP 42 widerspiegeln: Erstens: In welchem Kontext finden aussenpolitische Entscheide statt, und wie prägen kollektive Erwartungen und Rollenverständnisse von Eliten und verschiedenen Bevölkerungsgruppen die Aussenpolitik? Zweitens: Wie laufen aussenpolitische Entscheidungsprozesse ab, und wie beeinflusst die Machtteilung zwischen Exekutive, Legislative und Verwaltung die Aussenpolitik? Welchen Einfluss haben die öffentliche Meinung, der Parteienwettbewerb und die Interessengruppen? Und drittens: Wie wirken sich kollektive Erwartungen und Entscheidungsstrukturen konkret auf die Ausgestaltung der einzelnen Politikbereiche aus? Beim Aufbau des Buches orientierten wir uns an den oben aufgeworfenen Fragen. Teil I, bestehend aus den ersten beiden Kapiteln, enthält konzeptionelle und theoretische Grundlagen, die für das Verständnis der Aussenpolitik und für die Aussenpolitikanalyse nötig sind: Das erste Kapitel befasst sich zunächst mit der Aussenpolitik im engeren Sinne und den für diesen Bereich relevanten Begriffen «Souveränität», «Interesse» und «Macht». Eine kurze Einführung in die Theorie der Internationalen Beziehungen liefert anschliessend die Basis für die Aussenpolitikanalyse. Das zweite Kapitel setzt sich mit Rollenkonzeptionen und ihrer Anwendung auf die Schweiz auseinander. Es behandelt unter anderem die Determinanten «Kleinstaatlichkeit» und «Neutralität» vor dem Hintergrund der wichtigsten Entwicklungen des internationalen Umfeldes. Teil II (Kapitel drei und vier) stellt die Grundbedingungen für das Funktionieren der schweizerischen Aussenpolitik dar. Das dritte Kapitel behandelt das politisch-institutionelle System (polity). Es thematisiert insbesondere die horizontale Kompetenzaufteilung zwischen Regierung, Parlament und Bevölkerung einerseits und die vertikale Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Kantonen andererseits. Das vierte Kapitel ist den politischen Prozessen (politics) gewidmet. Es erläutert das Zusammenspiel der verschiedenen Akteure. Teil III des Buches stellt in den Kapiteln fünf bis acht ausgewählte Bereiche der Aussenpolitik (policies) vor und geht im neunten Kapitel auf die politikübergreifenden Querschnittsthemen der Zielkonflikte und der Kohärenz ein. Die behandelten Einzelbereiche betreffen die Europapolitik, die Friedens- und Sicherheitspolitik, die Entwicklungspolitik und die Aussenwirtschaftspolitik. 3 Darin werden jeweils die historischen Entwicklungslinien aufgezeigt und die wichtigsten Herausforderungen dieser Policies vermittelt. In den Schlussfolgerungen stellen wir schliesslich die wesentlichen Erkenntnisse zur Aussenpolitik der Schweiz im Spannungsfeld zwischen innenpolitischem System und internationalem Umfeld dar. 22

Um allen Fragestellungen des Buches gerecht zu werden, variiert die Analyseebene je nach Schwerpunkt der einzelnen Kapitel: Welche Akteure im Zentrum stehen, hängt vom Blickwinkel und den theoretischen Annahmen ab. Der Begriff Akteur kann Nationalstaaten, internationale Organisationen, staatliche Institutionen, gesellschaftliche oder nichtstaatliche Gruppen oder Individuen umfassen, die ihre Interessen einzubringen und durchzusetzen versuchen. Die ersten beiden Kapitel berücksichtigen mit der internationalen, der innerstaatlichen und der individuellen Ebene alle drei Bereiche. Die Kapitel drei und vier konzentrieren sich auf das Wirken der Akteure innerhalb des Staates, also auf Institutionen, Gruppen und Individuen. Im Rahmen der verschiedenen Policies und bei der Erörterung der Zielkonflikte steht zumeist die Regierung stellvertretend für den Staat als Akteur im Zentrum der Analyse, da der Staat nach wie vor die wichtigste Handlungseinheit in der Aussenpolitik darstellt. Das Buch ist als gemeinsames Werk der Autorin und der beiden Autoren zu betrachten. Doch hat sich jedes Mitglied der Gruppe mit einzelnen Kapiteln vertieft auseinandergesetzt. Daniel Schwarz nahm sich den institutionellen Grundlagen, der Aussenwirtschafts- und der Entwicklungspolitik sowie der Problematik der Zielkonflikte und der Kohärenz an. Magdalena Bernath befasste sich insbesondere mit den aussenpolitischen Entscheidungsprozessen und zusammen mit Laurent Goetschel mit den Kapiteln zur Aussenpolitik und Aussenpolitikanalyse sowie zu den Rollenkonzeptionen. Laurent Goetschel zeichnet zudem für die Kapitel zur Europapolitik sowie zur Friedens- und Sicherheitspolitik verantwortlich. Es ist unmöglich, alle Personen einzeln aufzuzählen, die zum Gelingen dieses Werkes beigetragen haben. Dank gebührt in erster Linie den zahlreichen Forscherinnen und Forschern, die im Rahmen des NFP 42 die Grundlagen erarbeitet haben, welche dieses Buch ermöglicht haben. Dank gebührt ebenfalls den Mitgliedern der Expertengruppe des NFP 42 (insbesondere ihren beiden Präsidenten Jean-Claude Favez und Jürg Martin Gabriel), deren kontinuierliche Begleitung den erfolgreichen Abschluss der Forschungsarbeiten begünstigt hat. Die Expertinnen und Experten haben eine erste Version des Manuskripts begutachtet und mit einer Reihe konstruktiver Kommentare zu seiner Verbesserung beigetragen. Die Tätigkeit der Expertengruppe und der Ablauf des Programms wären ohne die wohlwollende Unterstützung durch die Abteilung IV der Geschäftsstelle des Schweizerischen Nationalfonds mit ihrem Vertreter Christian Mottas und der Vertreterin im Forschungsrat, Beatrix Mesmer, nicht möglich gewesen. Das Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern und die Schweize- 23

rische Friedensstiftung haben die Arbeit der Programmleitung infrastrukturell unterstützt. Nicht zu vergessen sind die zahlreichen kleinen Dienste, die erbracht wurden, sei es von Interviewpartnerinnen und -partnern in Verwaltung, Verbänden und Medien, oder von Mitarbeitenden in Bibliotheken und Archiven. Ohne diese zahllosen zum Teil anonymen Beiträge an Zeit und Arbeitsleistung wären die für die Niederschrift dieses Buches notwendigen Informationen nicht zusammengekommen. Besonders gedankt sei hier Daniel Lis und Roland Wüest, die kurzfristig die Bereinigung des Index und der Bibliographie übernommen haben. Einzelne Kapitel dieses Buches wurden zudem von Experten aus Verwaltung und Forschung kommentiert und ergänzt. Auch diesen sei hier ganz herzlich gedankt. Wir hoffen, dass unser Buch zur wissenschaftlichen Debatte über die Aussenpolitik der Schweiz beiträgt, dass es dazu dient, Kontakte zwischen der Verwaltung und der Forschung zu erleichtern, den Unterricht zur Aussenpolitik zu fördern und schliesslich den Informationsstand über die Aussenpolitik der Schweiz zu verbessern. 24

Teil 1: Theoretische Grundlagen 25

1 Aussenpolitik und Aussenpolitikanalyse In diesem Kapitel stellen wir die grundlegenden politikwissenschaftlichen Begriffe und Konzepte vor, die für das Verständnis von Aussenpolitik und von Aussenpolitikanalyse nötig sind. Der erste Teil befasst sich mit den Besonderheiten des Politikfeldes: Aussenpolitik dient dazu, die Interessen des Nationalstaates gegen aussen wahrzunehmen und figuriert somit als Brücke zwischen dem nationalen und dem internationalen System. Da staatliche Aussenbeziehungen eng mit Souveränität, nationalem Interesse und Macht verknüpft sind, erläutern wir die Bedeutung, die diesen Begriffen im aussenpolitischen Rahmen zukommt. Das zweite Teilkapitel weist auf die wichtigsten Aspekte hin, die bei der Analyse der Aussenpolitik zu berücksichtigen sind: die Analyseebene und die theoretischen Grundannahmen. Das dritte Teilkapitel zeigt schliesslich in einem kurzen Überblick, wie verschiedene theoretische Ansätze aus dem Bereich der Internationalen Beziehungen entstanden sind und auf welchen Annahmen sie basieren. 1.1 Aussenpolitik Was umfasst Aussenpolitik und wie unterscheidet sich Aussenpolitik von anderen Politikbereichen? Seidelmann (1993: 42) definiert Aussenpolitik als «dasjenige Verhalten, mit dem die im souveränen Nationalstaat organisierte Gesellschaft ihre Interessen gegenüber ihrer Umwelt wahrnimmt und durchsetzt». Dies setzt Staatlichkeit, Fähigkeit und Willen zur Bestimmung dieser Interessen und einen Bezug zur Umwelt voraus. Die staatliche Aussenpolitik ist Teil der Aussenbeziehungen eines Landes, die neben der Aussenpolitik im engeren Sinne auch andere Politikbereiche (Sicherheit, Wirtschaft, Kultur) sowie nichtstaatliche Bereiche (Tourismus) umfassen. Aussenpolitik, sowohl als Prozess (politics) als auch als Ergebnis (policy), bildet das Bindeglied zwischen den Handlungen innerhalb eines Staates und dem internationalen Umfeld (Russett und Starr 1989). Eine multinationale Unternehmung, eine Nichtregierungsorganisation oder internationale Netzwerke führen keine Aussenpolitik, auch wenn sie die Aussenpolitik als internationale Akteure zu beeinflussen suchen und sich an ihrer Konzeption und/oder Umsetzung beteiligen. Aufgrund 26

der zunehmenden internationalen Verflechtung und in Folge der Globalisierung nehmen diese nichtstaatlichen Akteure jedoch eine immer wichtigere Rolle ein: Internationale und supranationale Organisationen, transnationale Zusammenschlüsse, multinationale Unternehmen und NGOs unterlaufen den Anspruch von Staaten auf Souveränität in der Gestaltung ihrer Aussenpolitik (vgl. auch Risse 2000; Keck und Sikkink 1998). Für die Aussenpolitik gelten im Vergleich zu anderen Politikbereichen folgende Besonderheiten: Das internationale System unterliegt grundsätzlich einer anderen Ordnung als intranationale Regelungen zur Bewältigung politischer Konflikte. Vielfältige Regelungen prägen durch Gesellschaftsvertrag, Gewaltmonopol 4, sanktionierte Regelmechanismen und kontrollierte Kompetenzhierarchien das innerstaatliche Leben. Im Unterschied dazu verfügt die Aussenpolitik aufgrund des geringeren Organisations- und Vergemeinschaftungsgrades des internationalen Systems über eine ungleich grössere Handlungsfreiheit (Schmitt 1927: 8). Diese geht soweit, dass sie in der Vergangenheit im Notfall auf das Gewaltmittel der Armee zurückgreifen konnte. 5 Die Regelung der staatlichen Beziehungen beinhaltet die Durchsetzung der jeweiligen Interessen, wozu auch die Bewahrung der Unabhängigkeit gehört. Dieser Zusammenhang zwischen der Aussenpolitik und der Existenz eines Staates führte in der Vergangenheit dazu, dass die Aussenpolitik als herausragender, von den übrigen Politiken abgehobener Bereich galt, als sogenannte high politics; Dilthey prägte im Anschluss an Ranke den Begriff des Primats der Aussenpolitik (Altermatt und Garamvölgyi 1980: 18). Diese älteste Betrachtung des Realistischen Ansatzes (vgl. Kap. 1.3) knüpft an die Überlegungen der Historiker Beard und Carr an. 6 Daraus folgt, dass Aussenpolitik nur dann wirksam betrieben werden kann, wenn sie einheitlich und kohärent erscheint und im Bedarfsfall rasch reagieren kann. Deshalb sollte gemäss realistischer Sichtweise die innere Auseinandersetzung um die Beeinflussung der Machtverteilung zwischen den politischen Parteien die Aussenpolitik weniger berühren als andere Politiken. Das erklärt auch, warum die Aussenpolitik viel mehr als andere Politikbereiche das Reservat der Exekutive geblieben ist (Keck und Sikkink 1998). Sie ist, zusammen mit «der Verteidigungspolitik derjenige Bereich, den die Monarchie den Parlamentarisierungsstrategien des Bürgertums vorenthalten konnte» (Seidelmann 2001: 21). Diese Auffassung mündete in eine Rückbindung des parlamentarischen Einflusses in praktisch allen westeuropäischen Staaten: «Foreign policy and defence were traditionally considered matters outside and above the partisan domestic 27

debate: directly linked to the preservation of sovereignty, and therefore to be entrusted to the executive» (Hill und Wallace 1996: 6). Souveränität Der Begriff der Souveränität ist völkerrechtlich eng mit der Existenz von Nationalstaaten verknüpft (Volger 1997). Morgenthau ([1948] 1967: 305) definiert Souveränität als «the supreme legal authority of the nation to give and enforce law within a certain territory and, in consequence, independence from the authority of any other nation and equality with it under international law» (Hervorhebung durch die Autoren). Souveränität ist nicht absolut zu verstehen, sondern als Vorherrschaft bei der Definition und Anwendung von Normen in Bezug auf ein bestimmtes Territorium 7. Diese Vorherrschaft muss angewendet und anerkannt werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass Souveränität absolut zu sein braucht; sie ist es auch nie gewesen, sondern war seit ihrem modernen, an den Nationalstaat gebundenen Verständnis stets in ein Regelwerk internationaler Normen und Verträge eingebunden (Krasner 1995). Auch braucht ein Staat nicht in allen Bereichen gleichermassen souverän zu sein (Philpott 1995: 357 358): Interne Souveränität entspricht der Vorherrschaft des Staates innerhalb seines eigenen Territoriums, beispielsweise im Bereich der Gesetzgebung oder der Polizeigewalt. Externe Souveränität erhebt zwar keinen Anspruch auf internationale Vorherrschaft, jedoch auf Unabhängigkeit und Gleichheit. Dazu gehören der Schutz vor Intervention, die Gleichbehandlung unter den Gesichtspunkten des Völkerrechts und die Führung einer unabhängigen Aussenpolitik. Aussenpolitik ist einerseits Ausdruck von Souveränität andererseits dient die Aussenpolitik dazu, die Souveränität eines Landes bewahren zu helfen. Interesse Interesse ist neben Macht (siehe unten) der wohl am häufigsten benutzte Begriff in der Politikwissenschaft (Hartmann 1995: 43; Böhret et al. 1988: 8 9). Macht und nationales Interesse bilden auch die Schlüsselbegriffe der Realistischen Schule (vgl. Kap. 1.3). Nationales Interesse wird gleichgesetzt mit dem Interesse des Landes, implizit mit den Präferenzen aller seiner Bürgerinnen und Bürger und somit mit dem Allgemeinwohl. Dass das nationale Interesse irgend eines Staates «die widerspruchsfreie Summe der Interessen der [Bürgerinnen und] Bürger darstellt» (Albrecht 1992: 68), ist allerdings eine Fiktion. Denn sowohl die internationale als auch die Innenpolitik sind «geprägt vom Kampf einander widerstrebender Interes- 28

sen, und von der Herrschaft von Interessen einer Teilgruppe im Staat über die Interessen anderer Teilgruppen» (ibid). Diese Vielfalt hat zur Folge, dass die Interessen eines Staates weder gegeben noch konstant sind. So berufen sich Politikerinnen und Politiker auf das nationale Interesse, um für ihre Positionen Unterstützung im Innern zu erhalten und ihre Handlungen gegen aussen zu rechtfertigen; deshalb ist es auch möglich, dass den Partei eine verstärkte Kooperation mit dem Ausland fordert und eine andere für einen Alleingang der Schweiz eintritt und beides im sogenannt nationalen Interesse. Im Zusammenhang mit dem nationalen Interesse muss die Aussenpolitikanalyse deshalb ihr Augenmerk auf folgende drei Fragen richten: 8 Welche Interessen verbergen sich hinter dem sogenannten nationalen Interesse? Wer definiert die nationalen Interessen? Und welche Mittel werden eingesetzt, um nationale Interessen zu verfolgen? Diese drei Fragen bilden nach Albrecht (1992: 69) «geradezu den politologischen Kern der Befassung mit [der] Aussenpolitik eines Gemeinwesens», indem wir nach Partikularinteressen suchen, die sich unter Berufung auf das «Landesinteresse» Legitimität verschaffen wollen, um die Chancen für die Durchsetzung ihrer eigenen, spezifischen Präferenzen zu erhöhen. Macht «Was für die Rechtswissenschaft die Norm und für die Volkswirtschaftslehre der Nutzen, ist für die Politikwissenschaft der Begriff der Macht» (Albrecht und Hummel 1990: 90). Lasswell (1962: 16) bezeichnet die Ausformung, Verteilung und Ausübung von Macht als Grundlage politischer Prozesse schlechthin, und für Morgenthau ([1948] 1967: 5) denken und handeln Staatsmänner in Interessenkategorien, die durch Macht definiert werden. Ganz allgemein ist Macht die Fähigkeit, beabsichtigte Folgen zu bewirken. Sie beinhaltet sowohl eine positive als auch eine negative Komponente: Unter positiver Macht verstehen wir die Möglichkeit, auf Dritte in einem gewollten Sinne Einfluss zu nehmen, oder in der klassischen politikwissenschaftlichen Definition Max Webers ([1921] 1976: 28) «jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht.» Negative Macht begreifen wir als Möglichkeit, sich vor dem Einfluss Dritter zu schützen, oder, um einen weiteren Doyen der Disziplin zu bemühen, als «Fähigkeit, nicht lernen zu müssen» (Deutsch 1969: 329). Diese Spielart der Macht bezeichnet Singer (1972: 54) auch als Autonomie. Die aussenpolitische Macht eines Staates besteht somit aus dem Einfluss, den er auf seine Umwelt auszuüben vermag, einerseits, und seiner 29

Autonomie gegenüber dem internationalen Umfeld andererseits. Die optimale Verteilung von Einfluss und Autonomie hängt jedoch davon ab, wie sich die Interessen eines Staates zu denjenigen der umliegenden Staaten verhalten und wie sein Umfeld institutionell ausgestaltet ist (Goetschel 1998a: 14 19). Schliesslich ist die Macht eines Staates dadurch bestimmt, wie er seine Möglichkeiten gegenüber seinem Umfeld wahrnimmt und einschätzt (Rothstein 1968: 21). Diese sind abhängig vom jeweiligen Kontext: Gewisse Machtressourcen sind nur unter spezifischen Bedingungen wirksam. Gebräuchlich sind etwa Begriffe wie Militär- oder Wirtschaftsmacht. Wenn wir jedoch die beabsichtigen Folgen betrachten, dann ist beispielsweise das Ausspielen militärischer Macht nur sinnvoll in einem militärischen Kontext oder die Nutzung wirtschaftlicher Macht nur in einem wirtschaftlichen Umfeld. Etwas weniger geläufig ist der Ausdruck der Verhandlungsmacht und der moralischen Macht (Schimmelfennig 1997): Erstere kommt insbesondere in internationalen Organisationen und in Politiknetzwerken zum Ausdruck. Letztere entfaltet dann am meisten Wirkung, wenn sie sich auf eingebürgerte Konventionen, etwa im Bereich der Menschenrechte, stützen kann (Hall 1997: 594). Machtressourcen lassen sich demnach nicht beliebig von einem Problemfeld in ein anderes transferieren, es sei denn unter Inkaufnahme erheblicher «Übersetzungsverluste» (Keohane und Nye 1977: 11). 1.2 Aussenpolitikanalyse Ziel der Aussenpolitikforschung ist es, durch die Erklärung aussenpolitischer Entscheidungsprozesse zum generellen Verständnis der internationalen Beziehungen beizutragen (Snyder et al. 1963; Hudson und Vore 1995: 209 212). Die verschiedenen Ansätze unterscheiden sich in der Analyseebene, in ihren theoretischen Annahmen und im methodologischen Vorgehen. Das Zustandekommen aussenpolitischer Entscheide kann untersucht werden auf der internationalen oder systemischen Ebene, auf der nationalen Ebene und auf der Ebene individueller Entscheidungsträger oder kleinerer Gruppen: Systemische Ansätze betrachten die Stellung des Staates im internationalen Umfeld; Ansätze, die von der Innensicht eines Staates ausgehen, fokussieren auf Gesellschaft, Kultur und politische Institutionen des Nationalstaates, und Ansätze auf der individuellen Ebene stellen die persönlichen oder psychologischen Merkmale der jeweiligen staatsführenden Personen in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung. 9 30