Kinder- und Jugendpsychiatrische Störungen Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung Störungen des Sozialverhaltens Prof. Dr. Tobias Renner Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter Universitätsklinik Tübingen Wintersemester 2016/2017 25.10.2016
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Kernsyptome der ADHS Unaufmerksamkeit Impulsivität Hyperaktivität ADHS - Störungscharakter für Diagnosestellung entscheidend! 3
Klassifikation nach ICD-10 ICD-10 Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung F90.0 Hyperkinet. Störung des Sozialverhaltens F90.1 sonstige hyperkinetische Störung F90.8 Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität F98.8 Symptomatik besteht vor dem 7. Lebensjahr Symptomatik besteht in mind. 2 Lebensbereichen 4
Klassifikation nach DSM-5 DSM-5 kombinierter Subtyp 314.01 vorwiegend hyperaktiv-impulsiver Subtyp 314.02 vorwiegend unaufmerksamer Subtyp 314.03 Aufmerksamkeit: 9 Kriterien, mind. 6 über 6 Mon Hyperaktivität/Impulsivität: 9 Kriterien, mind. 6 über 6 Mon Mehrere Symptome bestehen vor dem 12. Lebensjahr Mehrere Symptome in mind. 2 Lebensbereichen 5
Prävalenz kindliche ADHS: ca. 3-6 % adulte ADHS: ca. 2-4% m : w = ca. 3 : 1 nur Aufmerksamkeitsstörung m : w = 1 : 1 6
Kleinkind bis Kindesalter Schreikinder lieben es zu experimentieren extrem explorativ schwierig in Schach zu halten
Vorschulalter leicht frustriert Mittelpunkststreben immer energetisch häufige Wechsel der Beschäftigungen zu expansiv für den Kindergarten
Schulalter Rolle des Klassenkasper schwarzes Schaf Lernstörungen Hausaufgabendrama impulsiv in problematischen Situationen vermehrt Integrationsprobleme
Jugendalter Lernstörungen leicht beeinflussbar Stimmungsschwankungen kein Durchhaltevermögen risikoreiches Verhalten Substanzgebrauch/-missbrauch
Psychosoziale Problematik im Altersverlauf Faraone et al. 2015 11
Substanzgebrauch/-missbrauch ca. 40% Nikotinkonsum 40-50% Substanzgebrauch/ abhängigkeit THC>> Kokain, psychedelische Drogen Hypothese der Selbst-Medikation Prävention von Nikotinkonsum durch Pharmakotherapie der ADHS (Whalen 2003) Nikotin hat analoge Effekte zu MPH im Striatum Substanzgebrauch Riskofaktoren (Sullivan 2001) früher Beginn, lange Dauer Progression von Alkoholkonsum zu Drogenmissbrauch Kürzeres Intervall vom Drogenkonsum zu -abhängigkeit
Substanzmissbrauch 13 Levy et al. 2014
Kosten der medizinischen Versorgung 9-Jahres-Median: Kosten pro Person $5,000 $4,306 $4,000 US-Dollar (1987) $3,000 $2,000 $1,944 $1,000 *p < 0,001 $0 Ohne ADHS ADHS Leibson et al., JAMA 2001; 285:60-66
Bei Verdacht auf ADHS umfassende Diagnostik
Diagnostisches Vorgehen Elterninterview Interview mit Kind Kindergarten Schule Verhaltensbeobachtung weitere testpsych. Verfahren körperl.-neurol. Untersuchung Beurteilungsskalen Leistungstests Psychischer Befund
Diagnostik situationsübergreifende Beobachtung klinische Interviews (z.b. FBB-HKS, DCL-ADHS ) objektive Messverfahren (TAP) Ausschluss von Differentialdiagnosen Beachtung der diagnostischen Kriterien
Differentialdiagnosen Störung des Sozialverhaltens Tiefgreifende Entwicklungsstörung Beziehungsstörung mit Enthemmung Depressive Störung / Bipolare Störung Panikstörung / generalisierte Angststörung Disruptive Affektregulationsstörung Psychotische Störungen Medikamenteneffekte / Substanzkonsum Organische Primärstörung (Hyperthyreose, Migräne ) 18
Differentialdiagnosen Störung des Sozialverhaltens Tiefgreifende Entwicklungsstörung Beziehungsstörung mit Enthemmung Depressive Störung / Bipolare Störung Panikstörung / generalisierte Angststörung Disruptive Affektregulationsstörung Psychotische Störungen Medikamenteneffekte / Substanzkonsum Organische Primärstörung (Hyperthyreose, Migräne ) 19
Störung des Sozialverhaltens nach ICD-10 F90.1, F91.x, F92.x Hyperkinetische Störung mit SSV F90.1 Störungen des Sozialverhaltens auf familiären Rahmen beschränkt F91.0 bei fehlenden sozialen Bindungen F91.1 bei vorhandenen sozialen Bindungen F91.2 mit oppositionellem, aufsässigen Verhalten F91.3 sonstige F91.8 Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen mit depressiver Störung F92.0 sonstige F92.8 20
Störung des Sozialverhaltens (SSV) Definition (AWMF Leitlinien) Muster dissozialen, aggressiven oder aufsässigen Verhaltens mit Verletzungen altersentsprechender sozialer Erwartungen, welches länger als 6 Monate besteht.
SSV Prävalenz Allgemeinbevölkerung: 5-8% Jungen: 6-16 % Mädchen: 2-9 % Geschlechterwendigkeit Kindheit: m:w 4:1 Jugendalter: m:w = 2:1
SSV Leitsymptome (AWMF Leitlininen) Ungehorsamkeit, Streiten, Tyrannisieren Wutausbrüche Stehlen Unwahrheit sagen Destruktivität gegen Eigentum Zündeln Schuleschwänzen Weglaufen Grausamkeit gegen Tiere und Menschen 23
SSV Leitsymptome (AWMF Leitlininen) -> Diagnose Ungehorsamkeit, Streiten, Tyrannisieren Wutausbrüche Stehlen Unwahrheit sagen Destruktivität gegen Eigentum Zündeln Schuleschwänzen Weglaufen Grausamkeit gegen Tiere und Menschen erhebliche Ausprägung auch nur eines der Merkmale kann die Diagnose begründen 24
Aggression, Impulsivität, Empathie hot aggression = RADI reaktiv affektgesteuert defensiv impulsiv cold aggression = PIP proaktiv instrumentell planvoll callous unemotional traits Defizite in Empathiefähigkeit und affektiver Auslenkung 25 (Steiner 2005)
ADHS Komorbiditäten bei Kindern % 50 40 46,9 30 20 10 18,5 27,9 16,7 18,5 9,5 17,6 0 Oppositionelle Störung Affektive Störungen Ausscheidungsstörungen Legasthenie Störung des Sozialverhaltens Angststörungen Ticstörungen (n=145 Familien, 222 Kinder)
Häufige Komorbiditäten der ADHS Störung des Sozialverhaltens Oppositionelle Störung Affektive Störungen Tic-Störungen Zwangsstörungen Autismus-Spektrum-Störungen Lese-Rechtschreibstörungen Ausscheidungsstörungen 27
Modell der Entwicklungskomorbidität Taurines et al. 2010 ADHD attention deficit/ hyperactivity disorder ADHS CD conduct disorder Störung des Sozialverhaltens OCD obsessive compulsive disorder Zwangsstörung ODD oppositional defiant disorder oppositionelle Trotzstörung
Wie immer: Multiaxiales Klassifikationssystem! 1. Achse: Klinisch-psychiatrisches Syndrom 2. Achse: Umschriebene Entwicklungsstörungen 3. Achse: Intelligenzniveau 4. Achse: Körperliche Symptomatik 5. Achse: Assoziierte aktuelle abnorme psychosoziale Umstände 6. Achse: Globale Beurteilung des psychosozialen Funktionsniveau Remschmidt, Schmidt, Poustka, 2001 29
Bei Verdacht auf ADHS umfassende Diagnostik
Bei Verdacht auf ADHS umfassende Diagnostik Wenn Störung dann Therapie!
Ätiologie der ADHS Gene Umwelt Phänotyp
Pathophysiologische Befunde Störung von Neurotransmittersystemen Dopamin, Noradrenalin, Serotonin Dysfunktion in frontalen Regelkreisen exekutive Dysfunktion = Störung in Planung und Kontrolle von Handlungen und Motorik Dysfunktion in emotionalen Regelkreisen Störung in der Affektregulation
Neurobiologische Forschung zur ADHS Ebenenmodell Symptomatik Umwelt (nach Lesch Eur J Pharmacol 2007)
TV und ADHS? Unterschiedliche Daten zu Assoziation mit ADHS-Symptomen TV-Konsum könnte zu subtilen kognitiven Effekten führen 2500 Kinder in einer prospektiven Studie: keine Assoziation (review Banerjee 2007) National Survey of Childrens Health 68634 Kinder und Jugendliche Assoziation mit TV-Konsum, 2-Eltern-Familien, aktivem Sport. (Linigeni et al. 2012)
TV und ADHS? Unterschiedliche Daten zu Assoziation mit ADHS-Symptomen TV-Konsum könnte zu subtilen kognitiven Effekten führen 2500 Kinder in einer prospektiven Studie: keine Assoziation (review Banerjee 2007) National Survey of Childrens Health 68634 Kinder und Jugendliche Assoziation mit TV-Konsum, 2-Eltern-Familien, aktivem Sport. (Linigeni et al. 2012)
Diskutierte Umweltfaktoren Pränatales mütterliches - Rauchen - Alkoholkonsum - Übergewicht Lebensmittelzusätze (Zucker, Farbstoffe) Blei-Kontamination Niedriges Geburtsgewicht (Ursache oder Symptom?) (Banerjee et al. 2007, Lehn et al. 2007, Wang et al. 2008, Rodriguez 2008)
Molekulargenetik in der ADHS
30. September 2010, 18:58 Uhr ADHS Ärzte finden genetische Ursache für Hyperaktivität Erstmals haben Forscher direkte Hinweise auf eine genetische Ursache für ADHS gefunden. Eine Studie stellte bei Kindern mit der psychischen Störung deutliche Unterschiede im Erbgut fest. Andere Wissenschaftler warnen jedoch davor, den alleinigen Grund in den Genen zu vermuten. Viele Forscher vermuten es schon länger. Nun haben britische Wissenschaftler erstmals einen direkten Beweis dafür erbracht, dass die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern zumindest zum Teil genetisch bedingt ist. Wie ein Forscherteam um Anita Thapar im Medizinjournal "The Lancet" berichtet, weist das Erbgut von Kindern mit der psychischen Störung gegenüber solchen, die nicht darunter leiden, deutliche Unterschiede auf.
Kandidatengene Renner et al. 2008 Nervenarzt
aber polygenetische Ätiologie! 41 Elia et al. 2012
Multimodale Therapie Psychoedukation Pharmakotherapie Patient Psychotherapie Umweltbezogene Maßnahmen
Multimodale Therapie der ADHS
Multimodaler Therapieansatz der ADHS Therapie des Kindes/ Jugendlichen Steigerung der Fähigkeiten verschiedenen Bereichen: Basisfähigkeiten Handlungsplanung/ Handlungsorganisation - Selbstinstruktionstraining Fokussierung der Aufmerksamkeit und Umgang mit Ablenkung - Neurofeedback - Attentionertraining Flexibilisierung und Generalisierung der erlernten Inhalte Transfer in den Alltag
Impulskontrolltraining Erkennen der Anspannung / Aggression (z.b. Wutthermometer...) Entspannungstechnik (z.b. Atemtechnik) Selbstinstruktion ( ruhig Blut, keep cool...) Erkennen des Auslösers Prüfung Kognitive Umstrukturierung / Neubewertung - 100-90 - 80-70 - 60-50 - 40-30 - 20-10 - 0
Multimodaler Therapieansatz der ADHS Elterntraining und Interventionen in der Familie Steigerung der Kompetenz der Eltern zur Steuerung des Verhaltens ihres Kindes Verbesserung der Beziehung Steigerung der positiven Aufmerksamkeit Anleitung der Eltern zum wirkungsvollen Äußern von Aufforderungen und Grenzensetzung Einsatz positiver Verstärkung und negativer Konsequenzen bei umschriebenem Problemverhalten in spezifischen Situationen
ADHS Dopamin / Noradrenalin Faraone et al. 2015 47
Pharmakotherapie der ADHS - Historisches 1887 Synthese von Amphetamin Lazar Edeleanu 1937 Benzedrin bei ADHS Charles Bradley 1944 Synthese von Methylphenidat Leandro Panizzon 1956 Methylphenidat bei ADHS
Pharmakotherapie der ADHS - Historisches 1887 Synthese von Amphetamin Lazar Edeleanu 1937 Benzedrin bei ADHS Charles Bradley 1944 Synthese von Methylphenidat Leandro Panizzon 1956 Methylphenidat bei ADHS 2004 Atomoxetin (Strattera ) 2011 Amphetamin (Attentin ) 2016 Guanfacin (Intuniv )
ADHS-spezifische Pharmakotherapie in Deutschland Methylphenidat Amphetamin Atomoxetin Guanfacin
ADHS-spezifische Pharmakotherapie in Deutschland Methylphenidat Amphetamin Atomoxetin Guanfacin Betäubungsmittel - BTM-Rezept - Strenge Überwachung
ADHS-spezifische Pharmakotherapie in Deutschland Methylphenidat Amphetamin Atomoxetin Guanfacin Dopamin Noradrenalin
Renner et al. 2008 Nervenarzt
Methylphenidat Atomoxetin Amphetamin Guanfacin
Dichte des Dopamintransporters im Striatum Krause et al. (2000): Erhöhung bei ADHS um 16-40% Patient MPH Patient + MPH Gesunder Proband Krause et al. 2000
Dichte des Dopamintransporters im Striatum Krause et al. (2000): Erhöhung bei ADHS um 16-40% * n.s. Patient MPH Patient + MPH Gesunder Proband Krause et al. 2000
Dichte des Dopamintransporters im Striatum Krause et al. (2000): Erhöhung bei ADHS um 16-40% * Fusar-Poli et al. (2012): n.s. Metaanalyse über 9 Studien mit 169 ADHS-Patienten MPH-naiv MPH im Vorfeld DAT-Dichte DAT-Dichte
Nikotin und ADHS Krause,, La Fougere, et al., 2006 60
Methylphendiat - Präparate Kurzwirksame MPH-Präparate Ritalin, Medikinet, etc Wirkung nach ca. 30min über 2-4h Langwirksame MPH-Präparate Ritalin LA, Medikinet retard, etc Wirkung nach ca. 30min über bis zu 12h
long acting preparation
Pharmakotherapie der ADHS t max (h) t ½ (h) mg/kg KG Tagesdosis (mg) Gaben / d MPH 1-2 (3-4) 5 0,3-1,0 5-40 max 60 1-3 Concerta 6,8 3,5 0,3-1,0 18-54 1 Equasym ret 1,5 / 4,5 6,8 0,3-1,0 10-40 max 60 1 Medikinet ret 2,75 3,2 0,3-1,0 10-40 max 60 1 Ritalin LA 2,0 / 6,6 2,4 0,3-1,0 10-40 max 60 1 Amphetamin 1,5-2 5-8 0,1-0,5 5-20 max 40 1-2 (3) Attentin 1,5 10 0,1-0,5 5 20 max 40 1-2 (3) Elvanse 1 / 3,5 1 / 11 20 70 max 70 1 Strattera 1-2 5 0,5-1,2 10-60 max 100 1 (2) Inutiv 4 7 max 7 1-2 nach Walitza et al. 2009
Niedrige Compliance angegebene Gründe: vergessen 70-85% geplante drug holidays 25-40% mangelnde Wirkung 20% Verweigerung der Einnahme bis 12% ausreichende Wirkung bis 8% Nebenwirkungen bis 5% Hugtenburg et al. 2006, Gau et al. 2006
Mögliche Nebenwirkungen von Stimulantien Appetitminderung Methylphenidat Einschlafstörungen Kopfschmerzen/Übelkeit (vorübergehend) Blutdruck-/Pulssteigerung regelmäßige Kontrolle von Blutwerten, Blutdruck, Puls, Größe, Gewicht regelmäßige Auslassversuche
Mögliche Nebenwirkungen von Atomoxetin Häufigste gemeldete Nebenwirkungen Atomoxetin Schläfrigkeit, Ermüdung Kopfschmerzen Bauchschmerzen, Erbrechen, Übelkeit Appetitminderung Erhöhter Blutdruck und Herzfrequenz 66
Mögliche Nebenwirkungen von Guanfacin Häufigste gemeldete Nebenwirkungen Schläfrigkeit, Ermüdung Kopfschmerzen Bauchschmerzen Appetitminderung Guanfacin aber: im Verlauf auch Zunahme des BMI möglich 67
Verlaufskontrolle Empfehlung der EMEA Kardiovaskuläre Abklärung vor Behandlung Blutdruck und Puls regelmäßig (1/2 jährl.) erfassen Jährlicher Auslassversuch Comorbiditäten: Depression, Manie, Psychose, Suizidalität Vorliegen erfassen, im Verlauf beobachten Körpergröße und Gewicht regelmäßig (1/2 jährl.) erfassen European Medicines Agency 2009
Missbräuchliche Nutzung von Stimulantien Einnahme als Droge intranasal / i.v. Neuroenhancement Einnahme zur kognitiven Leistungssteigerung 69
Missbräuchliche Nutzung von Stimulantien Einnahme als Droge intranasal / i.v. CAVE! Neuroenhancement Einnahme zur kognitiven Leistungssteigerung 70
Behandlungsdauer grundsätzlich längerfristig kontinuierliche Einnahme wichtig regelmäßige Verlaufskontrollen, evtl. Dosisanpassung Auslassversuch in wenig relevante Schulzeit legen bei Absetzen schrittweise Dosisreduktion bisweilen Indikation bis ins Erwachsenenalter
Symptome im Altersverlauf Faraone et al. 2015 72
Multigenerationale Therapie??
Multigenerationale Therapie
Danke für Ihr Interesse und Ihre Aufmerksamkeit!