Geisteswissenschaft Anne-Sofie Held Prävention von Bulimie (am Beispiel sozialpägogischer Präventionsmaßnahmen in Bamberg) Diplomarbeit
Prävention von Bulimie am Beispiel sozialpädagogischer Präventionsmaßnahmen in Bamberg Diplomarbeit im Studiengang Pädagogik in der Fakultät Pädagogik, Philosophie, Psychologie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg Verfasserin: Anne-Sofie Held Bamberg, den 22. April 2006
Inhaltsverzeichnis 1. EINLEITUNG...1 2. ESSVERHALTEN UND BULIMIE BEI JUGENDLICHEN...6 2.1 Gestörtes Essverhalten Normalität und Abweichung...6 2.1.1 Essen und Ernährung...6 2.1.2 Das Essverhalten Jugendlicher...8 2.1.3 Normales Essverhalten, gestörtes Essverhalten und Essstörungen...10 2.2 Bulimie...13 2.2.1 Geschichtlicher Überblick...13 2.2.2 Klassifikationskriterien der Bulimie...14 2.2.3 Verlaufsformen der Bulimie...18 2.2.4 Prävalenz...21 2.2.5 Risikofaktoren der Bulimie...23 2.2.5.1 Geschlecht, Alter und die körperliche und sexuelle Entwicklung in der Pubertät23 2.2.5.2 Streben nach dem Schönheitsideal...24 2.2.5.3 Essverhalten und Körpergewicht...26 2.2.5.4 Individuelle Risikofaktoren...28 2.2.5.5 Sexueller und körperlicher Missbrauch...31 2.2.5.6 Dysfunktionale Familienstrukturen...32 2.2.5.7 Geschlechtsspezifische Rollenerwartungen...34 2.2.5.8 Weitere Risikofaktoren...35 2.2.6 Physische und psychische Folgeschäden...36 3. PRÄVENTION VON ESSSTÖRUNGEN BEI JUGENDLICHEN ALS AUFGABE DER SOZIALPÄDAGOGIK...39 3.1 Prävention...39 3.1.1 Definition.39 3.1.1.1 Primäre, sekundäre und tertiäre Prävention...40 3.1.1.2 Verhaltens- und Verhältnisprävention...41 3.1.2 Strategien der Prävention...41 II
3.1.3 Prävention und Gesundheitsförderung...43 Exkurs: Gesundheit und Krankheit... 44 3.1.4 Prävention und Sozialpädagogik...45 3.2 Prävention von Essstörungen bei Jugendlichen...48 3.2.1 Entwicklungsgeschichte...48 3.2.2 Notwendigkeit präventiver Maßnahmen...52 3.2.3 Ziele.53 3.2.4 Zielgruppen...54 3.2.5 Präventionsarbeit mit Jugendlichen...55 3.2.5.1 Zentrale Inhalte...56 3.2.5.2 Methodische Aspekte...59 3.2.6 Präventionsarbeit mit Eltern...62 3.2.6.1 Zentrale Inhalte...63 3.2.6.2 Methodische Aspekte...65 3.2.7 Fortbildung von Lehrern und anderen pädagogischen Fachkräften...66 3.2.7.1 Zentrale Inhalte...66 3.2.7.2 Methodische Aspekte...69 3.2.8 Fortbildung von Ärzten...70 3.2.8.1 Zentrale Inhalte der Fortbildungen für Ärzte...71 3.2.8.2 Methodische Aspekte...71 3.2.9 Kooperation und Vernetzung...73 3.2.10 Grenzen der Prävention von Essstörungen...73 4. PRÄVENTIONSMAßNAHMEN SOZIALER INSTITUTIONEN IN BAMBERG...76 4.1 Prävention von Essstörungen in Bamberg Ein Überblick...76 4.1.1 Präventionsveranstaltungen in Schulklassen...78 4.1.2 Wanderausstellung Der Klang meines Körpers - Kreative Wege zur Prävention von Essstörungen an Schulen...83 4.1.3 Informationsveranstaltungen für Eltern...87 4.1.4 Multiplikatorenschulungen...90 4.1.5 Arbeitskreis Essstörungen... 91 4.1.6 Beratungsangebot der Psychosozialen Beratungsstelle der Caritas Bamberg...93 III
4.1.7 Beratungsangebot der Beratungsstelle pro familia...97 4.1.8 Selbsthilfegruppe SABA...99 4.2 Interviews mit Betroffenen...102 4.2.1 Erkenntnisinteresse...102 4.2.2 Beschreibung der Stichprobe...102 4.2.3 Methodische Vorgehensweise im Interview...104 4.2.5 Leitfaden 106 4.2.4 Reliabilität der Interviews...107 4.2.6 Auswertung...104 4.2.7 Ergebnisse der Auswertung...108 4.3 Zusammenfassung und Diskussion der Prävention von Essstörungen in Bamberg...121 5. DISKUSSION UND AUSBLICK...128 6. LITERATUR...134 7. ANHANG...141 IV
1. Einleitung 1. Einleitung Vorbemerkungen Über 50% der nicht so topmodeligen Deutschen sind zu dick 1 und Jedes zehnte Kind in Deutschland leidet an Fettleibigkeit 2. Diese und andere Schlagzeilen liest man in letzter Zeit immer häufiger. Laut dem Ernährungsbericht 2004 der deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) e.v. sind mehr als 65% der Männer und ca. 55% der Frauen in Deutschland übergewichtig 3. Solche Zahlen sind immer Definitionssache Wo fängt Übergewicht an? Und wer bestimmt überhaupt, ab wann ein Mensch übergewichtig ist? Dieses Thema soll später an anderer Stelle erörtert werden. Hier geht es vielmehr darum, dass die Ergebnisse auf eine satte und zufriedene Wohlstandsgesellschaft hindeuten. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Die Deutschen sind keineswegs zufrieden, wofür Pudel und Westenhöfer in einer eigenen Untersuchung Bestätigung fanden: Weniger als 15% der Bevölkerung entsprechen ihren selbstgewählten Idealvorstellungen (ebd. 1998, S. 198). In unserer Gesellschaft hat sich in den letzten 40 Jahren ein Körperideal entwickelt, dass sich immer weiter vom realen Körperbild entfernt. Während die Ernährungswissenschaftler von einer drohenden Verfettung der deutschen Bevölkerung sprechen, bewegen sich immer mehr Models auf ein lebensbedrohliches Untergewicht zu. Wissenschaftler der Universität Ontario in Kanada stellten bei einer Untersuchung von 240 Playmates 4 aus den Jahren 1978 bis 1998 fest, dass 70 Prozent dieser Mädchen mit einem BMI von unter 18,1 untergewichtig sind (vgl. Katzmarzyk und Davis 2001), wobei diese Models in der Regel noch ein paar Kilo mehr auf die Waage bringen, als die Models der internationalen Modeagenturen. Diäten haben seitdem Hochkonjunktur. Der Wunsch, schlank zu sein, wird heute nicht mehr nur durch die Frühjahrsausgaben diverser Frauenzeitschriften bestimmt, sondern setzt sich langsam als Norm unserer westlichen Gesellschaft durch, der sich vor allem Jugendliche immer mehr unterordnen. Es herrscht die verbreitete Illusion, dass ein schlanker Körper zu Erfolg, Beliebtheit, Schönheit und Gesundheit verhelfe. Dass Diäten und Schlankheitsmittel 1 Die Welt vom 11.Februar 2006 2 Die Welt vom 23.April 2005 3 Diese Daten gehen aus dem Bundes-Gesundheitssurvey 1998 hervor und werden durch weitere repräsentative Daten aus dem telefonischen Gesundheitssurvey und dem Mikrozensus 2003 gestützt (...). Sie basieren auf der Definition der Weltgesundheitsordung, die Erwachsene ab einem Body-Maß-Index (vgl. Kap. 2.1.3) über 25 als übergewichtig einstuft. 4 Als Playmates (engl. Spielkameradin) werden die weiblichen Models bezeichnet, deren Bilder monatlich im Männermagazin Playboy erscheinen 1
1. Einleitung eigentlich nie ihren gewünschten Zweck erfüllen, wird erfolgreich verschwiegen und von den Verbrauchern verdrängt. Schlankheitswahn und Diäthalten werden heute als die bedeutungsvollsten Ursachen gestörten Essverhaltens angesehen (vgl. Killen et al. 1996, Kraemer et al. 1997, Jacobi et al. 2005). Eine Körperschemastörung, unter der Menschen mit gestörtem Essverhalten häufig leiden, verschärft das Problem zusätzlich: Die Betroffenen sehen und fühlen sich dicker und schwerer als sie in Wirklichkeit sind. Hauptmerkmal einer Essstörung ist, dass Essen oder Nicht-Essen zu einem Zwang wird, so dass sich Betroffene ständig mit Nahrung, Kalorientabellen, dem eigenen Körpergewicht und/oder sportlichen Exzessen beschäftigen und dafür soziale Kontakte oder frühere Freizeitbeschäftigungen vernachlässigen. Essstörungen sind so gesehen also nur die Spitze des Eisbergs. Um aus einer Diät oder einem Schlankheitswunsch eine Essstörung zu entwickeln, bedarf es jedoch zusätzlich tieferliegender psychischer Probleme, die sich beispielsweise aus Rollenkonflikten, einem niedrigen Selbstwertgefühl oder dysfunktionalen Familienstrukturen entwickeln können. Es spielen immer mehrere Faktoren eine Rolle, die letztendlich in eine Essstörung münden. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts gehören Essstörungen zu den verbreitetsten psychischen Erkrankungen unter Jugendlichen und jungen Frauen (Stahr 1999, S. 89). Zentrales Anliegen dieser Arbeit ist die Bearbeitung der Frage, ob und inwieweit der Entstehung einer Bulimie vorgebeugt werden kann. Hierbei war mir besonders wichtig, Präventionsmöglichkeiten nicht nur an theoretischen Modellen und wissenschaftlichen Untersuchungen aufzuzeigen, sondern auch praktische Modelle in meine Ausarbeitung mit einzubeziehen und diese mit bestehenden Theorien zu vergleichen. Im Mittelpunkt stehen hierbei Präventionsangebote zum Thema Essstörungen in Bamberg. Die Anregung zu diesem Thema bekam ich im Rahmen eines Praktikums, bei dem ich die Gelegenheit hatte, am 7. April 2005 an einem Treffen des Arbeitskreises Essstörungen im Landratsamt Bamberg teilzunehmen. Verschiedene Fachleute Bamberger Einrichtungen, die durch ihren Beruf mit essgestörten Menschen zu tun haben, unterhielten sich unter anderem über die Notwendigkeit präventiver Maßnahmen. Eine Teilnehmerin berichtete in diesem Zusammenhang, sie habe von einem Rettungsassistenten der Bamberger Rettungsleitstelle erfahren, dass pro Woche etwa sieben Einsätze im Zusammenhang mit gestörtem Essverhalten 2
1. Einleitung stattfinden. Diese Aussage wurde in einem Zeitungsartikel der Bamberger Tageszeitung Fränkischer Tag vom 10.6.2005 bestätigt: Alleine im Zuständigkeitsbereich der Bamberger Rettungsleitstelle erfolgen wöchentlich mindestens fünf Einsätze, die im Zusammenhang mit problematischem Essverhalten stehen 5. Prävention hat mich auch deshalb interessiert, weil ich mir die Frage stellte, ob es bei dem derzeitigen Schönheitsideal überhaupt möglich ist, einer Essstörung vorzubeugen. Medien, Modeschöpfer, Nahrungsmittelindustrie, Pharmazie und Schönheitschirurgie sorgen mit Werbung und der Propagierung des Schlankheitsideals dafür, dass viele Frauen und auch immer mehr Männer der Illusion verfallen, ein Körper sei beliebig formbar und Schlankheit jederzeit und unter allen Umständen machbar. Besonders interessant im Hinblick auf Prävention erachtete ich das Krankheitsbild der Bulimie. Menschen, die unter Bulimie leiden, sieht man ihre Erkrankung nicht an. Sie sind meist normalgewichtig, essen in der Öffentlichkeit relativ normal und haben meist ein sehr selbstbewusstes Auftreten, hinter dem sie ihre Erkrankung erfolgreich verstecken. Die Wahrscheinlichkeit einer Früherkennung der Essstörung ist hier deutlich geringer als beispielsweise bei Magersucht oder Adipositas. Da eine Bulimie in der Regel zwischen 17 und 21 Jahren beginnt (vgl. Herpertz-Dahlmann 1993, Richter 2005), Prävention idealerweise im Vorfeld stattfinden sollte, lege ich meinen Schwerpunkt auf die Prävention von Bulimie bei Jugendlichen in der Pubertät. Ausblick auf die vorliegende Arbeit Die Diplomarbeit beginnt mit einer Einführung zum Essverhalten und Bulimie bei Jugendlichen. In Kapitel 2.1 geht es zunächst um das Thema, welchen Stellenwert Essen und Ernährung in unserer Gesellschaft und vor allem bei Jugendlichen hat. Heranwachsende sind grundsätzlich risiko- und experimentierfreudiger als ein Großteil der restlichen Bevölkerung und verhalten sich weniger gesundheitsbewusst. Der immer weiter zunehmende Alkoholkonsum Jugendlicher, von dem uns fast täglich in den Medien berichtet wird, belegt diese These. Dass ein riskantes Essverhalten von Jugendlichen jedoch nicht mit einer Essstörung gleichzusetzen ist, möchte ich in Kapitel 2.1.3 herausarbeiten. Kapitel 2.2 beinhaltet vielseitige Informationen rund um das Thema Bulimie. Neben einer Einführung in die Entwicklungsgeschichte der Erkrankung steht hier im Vordergrund, die 5 Fränkischer Tag vom 10.06.2005, Pressemitteilung: Unterausschuss Ess-Störungen gründet sich. Fachbereich Soziale Arbeit der Universität begleitet das Projekt 3
1. Einleitung Krankheit Bulimie anhand internationaler Klassifikationskriterien und einschlägiger Literatur zu beschreiben. Die Risikofaktoren für Bulimie werden sehr ausführlich dargestellt, was darauf zurückzuführen ist, dass sie für die Prävention von Bulimie eine wichtige Rolle spielen: Prävention ist unter anderem ein Versuch, potentielle Risikofaktoren einer Erkrankung auszuschalten. Die Herausarbeitung physischer und psychischer Folgeschäden der Bulimie in Kapitel 2.2.6 soll verdeutlichen, weshalb die Absicht, psychischen Erkrankungen wie Bulimie vorzubeugen, besonders sinnvoll und notwendig ist. Im dritten Kapitel, dem Mittelpunkt dieser Diplomarbeit, geht es um die Prävention von Essstörungen bei Jugendlichen als Aufgabe der Sozialpädagogik. In einer Einführung zum Thema werden zunächst allgemeine Begriffe und Strategien der Prävention erklärt (Kap. 3.1). Besonders interessant erschien mir die Frage, ob und weshalb Sozialpädagogen diese Aufgabe übernehmen (Kap. 3.1.4). Die Entwicklungsgeschichte der Prävention von Essstörungen (Kap. 3.2.1) zeigt zunehmend deutlich, dass jahrelange Untersuchungen und Studien zwar Ergebnisse hervorbrachten, dass konkrete Maßnahmen zur Prävention jedoch auf Wahrscheinlichkeitsaussagen beruhen. Man kann nie sicher behaupten, dass Präventionsaktivitäten den gewünschten Erfolg gebracht haben. Daher erörterte ich im folgenden Unterkapitel 3.2.2 die Frage, ob es nicht eher sinnvoll wäre, die immensen Kosten für die Präventionsforschung und -praxis für Interventionsaktivitäten einzusetzen. Im Anschluss stelle ich Inhalte und Methoden für die Prävention von Essstörungen bei Jugendlichen vor, die sich in der Praxis als sinnvoll und effektiv erwiesen haben (Kap.3.2.5). Zwar stehen Jugendliche als Zielgruppe im Vordergrund, da bei der Prävention jedoch nicht nur das Individuum, sondern auch sein Umfeld berücksichtigt werden muss, befasse ich mich daneben auch mit Eltern und Angehörigen, Lehrern und pädagogischen Fachkräften und auch mit Ärzten. Die hier aufgeführten Aspekte beschreiben ideale Vorgehensweisen, die in Theorie und Praxis erarbeitet wurden. Interessant erschien mir die Frage, ob und inwieweit diese Theorien in der Praxis umgesetzt werden und werden können. Im vierten Kapitel werden daher nicht nur Präventionsmaßnahmen sozialer Einrichtungen in Bamberg vorgestellt, sondern auch mit den im dritten Kapitel erarbeiteten Ansätzen verglichen. Einen interessanten Einblick geben von mir durchgeführte Interviews mit Betroffenen. Meine Absicht war es zu erfahren, wie Betroffene das Angebot präventiver Maßnahmen in Bamberg 4
1. Einleitung beurteilen und ob die bestehenden Angebote überhaupt den Interessen und Bedürfnissen der Jugendlichen entsprechen. Die Interviews haben keinesfalls einen Anspruch auf Repräsentativität, da die Anzahl der Befragten viel zu gering ist. In Kapitel 4.3 findet sich eine umfassende Zusammenfassung und Diskussion der gesammelten Fakten zur Prävention von Essstörungen in Bamberg. Eine kritische Diskussion zu Möglichkeiten und Grenzen der Prävention von Essstörungen durch soziale Einrichtungen am Beispiel aktueller Präventionsmaßnahmen in Bamberg schließt die Arbeit ab (Kap. 5). Ergänzende Materialien, Informationen und Gedächtnisprotokolle der Interviews sind in einem Anhang gesammelt. Zu Beginn meiner Ausarbeitung stellte sich mir die Frage, wie ich eine Erkrankung bezeichnen soll, die in der Medizin Bulimia Nervosa, von einigen Autoren Bulimarexie und im regulären Sprachgebrauch heute Bulimie, Ess-Brech-Sucht oder auch Freß-Kotz-Sucht genannt wird. Ich entschied mich dafür, das Wort Bulimie durchgängig zu verwenden, da dieses Wort mir am Geläufigsten und für ein flüssiges Lesen der Arbeit am meisten geeignet erschien. Während ich mich mit den Themen Prävention und Bulimie vertraut gemacht habe, stellte ich fest, dass es in deutschsprachigen Ländern nur sehr wenige Präventionskonzepte gibt, die sich mit Essstörungen befassen. Daher habe ich meine Recherchen auf andere Länder ausgedehnt. Präventionsmodelle, die explizit auf Bulimie ausgerichtet sind, gibt es bisher noch nicht. Präventionsprogramme beziehen sich immer auf alle Essstörungen, was auch sinnvoll ist, da die Grenzen zwischen den einzelnen Krankheitsbildern fließend sind und den Erkrankungen ähnliche Risikofaktoren zugrunde liegen. Eine gemeinsame Prävention ist auch deshalb empfehlenswert, da es unmöglich ist, für alle möglichen Erkrankungen Präventionskonzepte zu entwerfen und diese alle nebeneinander anzuwenden. Daher spreche ich bei den Präventionsmaßnahmen nicht nur über Prävention von Bulimie sondern von Essstörungen allgemein. Da Statistiken zufolge 95 Prozent der essgestörten Menschen weiblich sind (Wissenschaftliches Kuratorium der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.v. 2004, S.8) und sich die Erforschung von Essstörungen bei Männern noch im Anfangsstadium befindet (und folglich kaum Literatur zu diesem Thema existiert), habe ich mich in dieser Arbeit auf Essstörungen bei Frauen beziehungsweise Mädchen konzentriert. 5
2. Essverhalten und Bulimie bei Jugendlichen 2. Essverhalten und Bulimie bei Jugendlichen In diesem Kapitel werden die für die Prävention von Essstörungen notwendigen Hintergrundinformationen beleuchtet. Nach einer allgemeineren Einführung in die Themen Essen und Ernährung, gestörtes Essverhalten und Essstörungen folgt im zweiten Teil eine detaillierte Beschreibung des Krankheitsbildes der Bulimie. 2.1 Gestörtes Essverhalten Normalität und Abweichung Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht das Essverhalten Jugendlicher. Ziel ist, dem Leser zu verdeutlichen, welchen Stellenwert Essen und Ernährung in unserer Gesellschaft und unter Jugendlichen hat und welche Merkmale eine Essstörung kennzeichnen. Hierfür greife ich auf die in der Fachliteratur verwendeten Unterscheidungskriterien von normalem Essverhalten, gestörtem Essverhalten und Essstörungen zurück, mit denen Fachleute die Schwere einer Essstörungen einschätzen. Trotz der häufigen Kritik an fragwürdigen Normvorgaben (Wer definiert überhaupt, ab wann ein Mensch essgestört ist?), übernehme ich diese Definitionen für diese Arbeit, da sich hieran die gesamte Präventions- und Interventionsarbeit mit essgestörten Menschen orientiert. Es handelt sich hierbei um subjektive Kriterien, die aufgrund ihrer Ungenauigkeit keinesfalls zur Diagnose einer Essstörung benutzt werden können. Für eine Ersteinschätzung und zur Verdeutlichung der Unterschiede zwischen normalem und gestörtem Essverhalten sind sie jedoch erwähnenswert. Auf medizinische Diagnosekriterien gehe ich in einem späteren Kapitel noch ein. 2.1.1 Essen und Ernährung Essen ist eines der Grundbedürfnisse des menschlichen Körpers, das befriedigt werden muss. Es ist etwas Alltägliches, immer Wiederkehrendes, und scheint auf den ersten Blick das Natürlichste und Selbstverständlichste der Welt zu sein. Essen ist eines der häufigsten Ereignisse des Lebens, denn bei drei Mahlzeiten pro Tag und einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 75 Jahren nimmt der Mensch ca. 80 000 Mahlzeiten zu sich (Gniech 1995, S.1). Es gibt keine menschliche Gesellschaft, in der lediglich gegessen wird, um Körperfunktionen aufrecht zu erhalten. Spezifische Essgewohnheiten und Arten der Nahrungszubereitungen sind 6
2. Essverhalten und Bulimie bei Jugendlichen mit Sitten, Ritualen, Werten und Normen von Kulturen und Subkulturen verbunden und wirken in körperliche, psychische und soziale, aber auch in wirtschaftliche und politische Dimensionen des menschlichen Lebens ein. Ein bestimmter religiöser Glauben kann das Essverhalten beeinflussen, wie beispielsweise der Verbot des Essens von Schweinefleisch im Islam. In China dient die Mahlzeit dem Zweck des sozialen Austauschs, der Kommunikation und des Zusammenseins. Vegetarier essen aufgrund ihrer Ideologie kein Fleisch. Daneben erzeugt Essen Gefühle von Wohlbefinden und Sättigung und ist mit Lustempfindungen gekoppelt, die vorübergehend andere Gefühle von Unlust verdrängen können. Essen kann Ersatzbefriedigung für entgangene andere Genüsse sein oder als Mittel der Gefühlregulierung benutzt werden. Wer hat nicht schon einmal aus Frust oder Kummer eine Tafel Schokolade verschlungen? Auch Redewendungen, wie zum Beispiel Liebe geht durch den Magen, Ich hab Dich zum Fressen gern oder der Stress schlägt mir auf den Magen verdeutlichen den Zusammenhang zwischen Essen und Gefühlen. In der heutigen Zeit variiert das Ernährungsverhalten der Individuen enorm, was nicht zuletzt mit der Pluralisierung und Individualisierung der Lebensformen zusammenhängt. Der wichtigste Aspekt ist hierbei die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln. Hilde Bruch bringt es auf den Punkt: Die Geschichte der Menschheit ist eine Chronik seiner Nahrungssuche genannt worden (ebd. 2001, S. 21). Viele Entwicklungen der Industriellen Revolution bereiteten der heutigen Situation des Nahrungsüberflusses den Weg, so zum Beispiel die Industrialisierung der Landwirtschaft, die Entwicklung langfristiger Konservierungsmethoden oder die Ausweitung des Transportwesens. Dadurch wurde eine regelmäßige, qualitativ und quantitativ verbesserte Versorgung der Gesellschaft mit Nahrungsmitteln möglich. Ab ca. 1950 kann schließlich von einer Situation des Überflusses gesprochen werden (Habermas 1997, S. 3). Nahrungsmittel stehen heute überall und jedem zur Verfügung. An jeder Ecke locken Snackbars, Bäckereien oder Schnellimbisse mit ihren Angeboten. In den Medien wird uns der Appetit förmlich aufgedrängt. Überall wimmelt es nur so von bunten, ansprechenden Nahrungsmitteln und Süßigkeiten, die vor allem auch Kinder und Jugendliche zum Kauf animieren sollen. 7
2. Essverhalten und Bulimie bei Jugendlichen 2.1.2 Das Essverhalten Jugendlicher Jugendliche befinden sich in einer schwierigen und komplexen Lebensphase, die durch starke biologische, kognitive und soziokulturelle Veränderungen geprägt ist. Der körperliche Reifeprozess, die allmähliche Ablösung vom Elternhaus und eine verstärkte Orientierung an der Peer-Group, Veränderungen im Lebensstil und in der Lebenswelt und eine zunehmende Beschäftigung mit dem eigenen Aussehen sind nur einige Aspekte, die diese Veränderungen beschreiben sollen. Und natürlich wirken sich diese auch auf das Essverhalten und die Essensauswahl aus. Ich beschränke mich im Folgenden auf problematisches Essverhalten unter Jugendlichen, da dies im Zentrum meiner Arbeit steht. Hurrelmann et al. erforschten für den Jugendgesundheitssurvey 2003 unter anderem auch die Ernährungsgewohnheiten in einer repräsentativen Stichprobe von 5650 Jugendlichen im Alter von 11 bis 15 Jahren (vgl. Hurrelmann et al. 2003, S. 162ff). 5. Klasse 7. Klasse 9. Klasse Jungen Mädchen Jungen Mädchen Jungen Mädchen Frühstück: nie 10,8 10,5 14,3 20,5 20 25,1 unregelmäßig 13,6 14,8 14,8 19 15,9 18,9 jeden Tag 75,8 74,7 70,9 60,5 64,1 56 Mittagessen: nie 2,9 2,6 1,8 3,4 3,5 4,3 unregelmäßig 14,7 13,5 16,3 30,3 18,3 24,8 jeden Tag 82,4 83,9 81,9 76,3 78,2 70,9 Abendessen: nie 2,7 3,4 3,5 4,2 2,9 6,8 unregelmäßig 18,5 17,4 21,7 26,8 21 35,2 jeden Tag 78,8 79,2 74,8 69 76,1 58 Tabelle 1: HBSC 2002 Germany (N=5.650), Hurrelmann et al. 2003, S. 162 In Tabelle 1 kann man erkennen, dass Schüler umso seltener frühstücken, je älter sie sind. Während in der 5. Klasse schon 10,5 Prozent der Mädchen das Frühstück ausfallen lassen, tut dies in der 9. Klasse schon jedes vierte Mädchen (25,1%) ein Anstieg um mehr als das Doppelte. Deutlich geringer ist die Anzahl derjenigen, die unregelmäßig oder nie Mittag- und Abendessen. Dennoch steigt auch hier der prozentuale Anteil mit dem Alter. 6,8 Prozent der Mädchen der 9. Klasse lassen das Abendessen immer ausfallen und insgesamt 35,2 Prozent der Mädchen nehmen es unregelmäßig zu sich. Ein Anzeichen für die Bedeutungsabnahme der 8
2. Essverhalten und Bulimie bei Jugendlichen Mahlzeiten (vgl. Kap. 2.1.3), für die Bedeutungszunahme von Aussehen und Körpergewicht und der damit verbundenen angestrebten Manipulation des Gewichts durch verminderte Nahrungszufuhr, oder vielleicht auch Anzeichen für beides? Eines ist klar: Das Risiko eines Übergewichts zeigte sich besonders hoch für die Gruppe von Jugendlichen, die keinen regelmäßigen Rhythmus in den täglichen Hauptmahlzeiten aufwiesen. Im Vergleich zu denjenigen, die einen regelmäßigen Verzehr entweder von einer oder allen Hauptmahlzeiten angaben, war die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Übergewicht etwa doppelt so hoch (Hurrelmann et al. 2003, S. 170). Das Auslassen der Mahlzeiten kann mit der Absicht einer Reduktion des Gewichts zusammenhängen. Insbesondere das Frühstück wird oft von diätenden Jugendlichen ausgelassen. Konzentrationsschwierigkeiten und verminderte Leistungsfähigkeit in der Schule können die Folge sein. Gezügeltes Essverhalten löst früher oder später Heißhungerattacken aus, die wiederum in einem Teufelskreis von gezügeltem Essen, Heißhungerattacken und Gewissenbissen enden können. Eine weitere Befragung von Hurrelmann et al. beschreibt das subjektive Körperempfinden Jugendlicher. In einer tabellarischen Aufführung der Ergebnisse werden diesmal nur die 13- Jährigen Mädchen und Jungen aufgeführt. Einschätzung des eigenen Körpergewichts bei Jungen und Mädchen im Alter von 13 Jahren Glaubst du, dass du... Alle (13-Jährige) Übergewichtige Untergewichtige (Angaben in %) Jungen Mädchen Jungen Mädchen Jungen Mädchen viel zu dünn bist / ein 15,1 14,1 0,8 0,8 38 46,8 bisschen zu dünn bist genau das richtige 51,8 38,2 18,3 8,7 50,4 35,2 Gewicht hast ein bisschen zu dick 33,1 47,7 80,9 90,5 11,6 18 bist / viel zu dick bist Tabelle 2: HBSC 2002 Germany (N=5650), Hurrelmann et al. 2003, S. 177 Fast die Hälfte der 13-Jährigen Mädchen und immerhin 33,1 Prozent der Jungen empfinden sich als zu dick. Erschreckend ist der Anteil derjenigen, die nach objektiven Kriterien untergewichtig sind, sich aber dennoch für zu dick halten. Hierunter fallen 11,6 Prozent der Jungen und 18 Prozent der Mädchen. Von den 18 Prozent der befragten Mädchen machen 8,5 Prozent eine Diät, um noch mehr abzunehmen (vgl. Tabelle 2). Hurrelmann et al. betonen, 9