10.5. Politische Willensbildung II: Parteiensystem und Wahlen auf deutscher sowie europäischer Ebene

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Gewinn/ Verlust SPD 40,9% + 4,5% CDU/CSU 35,1% - 6,3% Grüne 6,7% - 0,6% FDP 6,2% - 0,7% PDS 5,1% + 0,7% andere 5,9% + 2,3%

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Transkript:

10.5. Politische Willensbildung II: Parteiensystem und Wahlen auf deutscher sowie europäischer Ebene Wahlgeschichte der Bundesrepublik Konzentration zum Dreiparteiensystem bis 1957, Konzentration im Dreiparteiensystem bis 1976, Entwicklung zum moderaten Mehrparteiensystem seit 1983 Wahlrecht Landeslisten, Fünfprozentklausel, Überhangmandate personalisierte Verhältniswahl Fünfprozentklausel Ziel: Entgegenwirkung der Zersplitterung des Parlaments wirkungsvoll v.a. bei Parteien im Fünfprozentbereich (Stimmenzuwachs durch Zulauf von anderen Parteien, Stimmenverlust aus Angst vor Stimmenverschenken) keine absolute Hürde gegen neue Parteien (GRÜNE seit 1983) Stimmensplitting: Verteilung der Erst- und Zweitstimme auf verschiedene Parteien, bedeutende Wirkung in Verbindung mit der Fünfprozentklausel: "Leihwähler" für FDP und GRÜNE Determinanten des Wahlverhaltens Wählereigenschaften: Zugehörigkeit zu bestimmten Bevölkerungsgruppen (Alter, Geschlecht, Beruf, Konfession, Wohnortgröße, soziales Milieu), Tradition, Parteiidentifikation Wahldatenanalyse Reaktion auf Parteienwettbewerb: Einschätzung der politischen Lage durch die Wähler, Image von Parteien, Einschätzung der Wahlprogramme, Wahlkämpfe, Wählerpräferenzen Umfrageforschung

Parteiensystem Gesamtheit der in einem politischen Gemeinwesen agierenden Parteien sowie die Regelmäßigkeiten ihrer wechselseitigen Beziehungen. Einordnende Merkmale: Fragmentierung: Charakter der parteipolitischen Zusammensetzung der Parlaments (Zwei- vs. Mehr- vs. Vielparteiensystem), Polarisierung: Art und Bereitschaft der Koalitionsbildungen, ideologische Distanz zwischen den Parteien, Schwäche von Anti-System-Parteien Existenz von "Programmparteien": Fähigkeit der Parteien, a) auseinanderstrebende Interessen zu entscheidungsfähigen Alternativen zu bündeln, b) die Interessen verschiedener Bevölkerungsgruppen in einem realen politischen Programm zu vereinen, c) Mitglieder und Wähler aus verschiedenen Schichten an sich zu binden. Verankerung von Konfliktlinien: sozio-ökonomisches und religiöskonfessionelles cleavages dominieren. Cleavage Konfliktformation, die a) einen in der Gesellschaft verankerten Konflikt umfasst, b) vom Parteiensystem aufgenommen wird und damit c) dauerhaft ins Politische übersetzt wird. Nach Rokkan / Lipset (1967: Party Systems and Voter Alignments) bestehen vier grundlegende soziale Konfliktlinien: Lipset/Rokkan 1967 Besitz - Arbeit Kirche - Staat Stadt - Land ethnisch-sprachliche Konflikte Konfliktlinien in der Bundesrepublik Bürgertum - Arbeiter Protestantismus - Katholizismus Bauern - Industrie Flüchtlinge - Einheimische nach dem Krieg Westintegration - Festhalten am Nationalstaat Deutschland Ähnliche historische Entwicklungspfade in (West-)Europa führen zu ähnlichen Konfigurationen innerhalb nationaler Parteiensysteme "Ähnliche" Parteien in unterschiedlichen nationalen Parteiensystemen führen zu Typen von Parteienfamilien Ebnung vieler Konfliktlinien in der Bundesrepublik durch soziale Nivellierung

Konzentrationsprozess im Parteiensystem fragmentiertes Vielparteiensystem Anfang der 50er-Jahre Dreiparteiensystem mit eingebauten Koalitionszwang 1961-1983, gemäßigtes Vielparteiensystem seit 1983 unter Einschluss der Grünen und der PDS Gründe für den Konzentrationsprozess: Aufnahmefähigkeit der CDU/CSU für kleinere Parteien (BHE, DP); Bundesweite Fünfprozentklausel seit 1953 Ausstrahlung der Dynamik Kanzlerpartei vs. Opposition auf die Wähler; Verblassen früherer Konfliktlinien (Regionalismus, Klerikalismus, Vertriebene, Erfolg des demokratischen Modells)

Entwicklung des Parteiensystems mithilfe des Konfliktlinienansatzes Ausdifferenziertes Parteienspektrum in den frühen 50er-Jahren Konzentrationsprozess in den 50er-Jahren (Folie: Wahlergebnisse seit 1949) Situativer Grund für Konzentration des Wettbewerbs auf wenige Parteien: Kanzlerpartei versus Opposition (CDU vs. SPD bzw. Adenauer vs. Schumacher) Institutioneller Grund: Einführung der 5%-Hürde im Jahre 1953 Struktureller Grund: Verblassen parteibegründender Konfliktlinien Ergebnis: 2½-Parteiensystem mit zwei Konfliktdimensionen: sozialökonomischer und traditionell-religiöser versus individuell-säkularer Cleavage von den späten 50er- bis Anfang der 80er-Jahre; Stabilität durch Volksparteien 80er-Jahre: Herausbildung der Grünen und damit eines Zweigruppensystems Situativer Grund: Vorzeitige Neuwahlen erhöhen Protestpotential, SPD bei der Integration der Friedensbewegung und der Bürgerinitiativen zögerlich Struktureller Grund: Auftauchen der neuen Konfliktlinie Umwelt 90er-Jahre: Herausbildung eines regionalen Parteiensystems in den fünf neuen Ländern Situativer Grund: Fehlender Willen bei den alten bundesdeutschen Parteien, sich an die Gegebenheiten der neuen Länder anzupassen; dadurch Protestpotential zugunsten der PDS Feste Bevölkerungsgruppe mit Erinnerungen an die Modernisierungsleistungen der DDR

Rolle der Parteien in der Bundesrepublik Parteienstaatstheorie von Leibholz (1958: Strukturprobleme der modernen Demokratie): sie sieht in Wahlen die grundlegenden politischen Richtungsentscheidungen; damit sind Parteien als wichtigste Handlungseinheiten staatlichen Handelns legitimiert. Empirische Anzeichen für Züge des Parteienstaats in der Bundesrepublik Repräsentatives Demokratieverständnis (klassisch: Edmund Burke): es sieht in Anlehnung an Art. 38 GG das Freie Mandat des einzelnen Abgeordneten vor Indizien für Parteienstaat Einbeziehung der Parteien in die Verfassung in Art. 21 GG ("Die Parteien tragen zur politischen Willensbildung bei") Wahl von Parteien im Listenteil des Wahlrechts (personalisierte Verhältniswahl) Rekrutierung: Parteien als fast ausschließlicher Aufstiegskanal für das politische Personal. Durchdringung des Öffentlichen Dienstes. Parteienfinanzierung: 50%-60% der Parteienfinanzierung finden durch den Staat statt. Wahlen als quasi-plibiszitäre Akklamationen wichtiger Weichenstellungen: Ostpolitik 1972, "Wende" von 1982, deutsche Vereinigung 1990 Indizien für das Prinzip der repräsentativen Demokratie Art. 38 GG begründet das Freie Mandat des Abgeordneten Wahl von Parteien, aber auch Personen (personalisierte Verhältniswahl) Parteien sind ein wichtiger, aber nicht der einzige willensbildende Akteur Schlussfolgerung (Rudzio): Bundesrepublik trägt parteienstaatliche Züge, ohne ein Parteienstaat zu sein.

d) Die europäische Dimension des deutschen Parteiensystems Verfassungsrechtliche Relevanz der Parteien auf deutscher wie europäischer Ebene o Art. 21 GG o Art. 191 EGV siehe Tabelle aus Sturm/Pehle (2001: 144a) Zwei Thesen: 1. Europäisierung der Parteienlandschaft (Oskar Niedermayer) Ähnlichkeit von Parteiensystemen in Westeuropa Parteienfamilien Sozialdemokratisch/sozialistisch christdemokratisch/konservativ liberal Grüne Herausbildung eines Fraktionensystems im Europäischen Parlament, in dem zunehmend nach programmatisch-ideologischen Mustern abgestimmt wird (nationale Zugehörigkeit der Abgeordneten spielt nur noch eine untergeordnete Rolle) 2. Resistenz nationaler Parteiensysteme gegen europäische Einflüsse (Peter Mair) "Europe becomes a matter for the governing politicians and their bureaucracies; it is not something that requires the active engagement of, or consultation with, the electorate at large

Wählereinfluss auf decision-making auf europäischer Ebene; modifiziert nach Mair (2001: 44): Wähler Nationale Parlamente Nationale Regierungen EU- Kommission Nationale Dimension Politische Entscheidungen Europäisches Parlament EU- Ministerräte europäische Dimension

e) Zusammenführung These von Mair: abnehmende Relevanz von Parteien; das issue Europa ist lediglich ein Beispiel unter vielen These I von Sturm/Pehle: schwaches Rückkopplungssystem zwischen europäischer Ebene und nationalen Gesellschaften ist für Bedeutungslosigkeit der Parteien auf europäischer Ebene verantwortlich These II von Sturm/Pehle: die Zweckentfremdung der Europawahlen durch die deutschen Parteien hat ihre Ursachen darin, dass den Parteien bei diesen Wahlen kein realer Machtgewinn in Aussicht steht These Beichelt: Parteien stehen im Zentrum des deutschen Entscheidungsprozesses; weitgehende programmatische Übereinstimmung verdeckt deren Einfluss auf den Rat