4.2 Sitzung II: Krankheit und Stress 4.2 Sitzung II: Krankheit und Stress 59 4.2.1 Einführung Gegenstand dieser zweiten Sitzung ist das Thema Stress und seine Auswirkungen. Viele Patienten glauben, dass zu viel Stress in ihrem Alltag zu ihrer Erkrankung beigetragen hat und möglicherweise auch den weiteren Verlauf beeinflusst. Heute besteht weitgehend Konsens darüber, dass Stress nicht kausal mit der Genese einer Tumorerkrankung in Verbindung zu bringen ist. Die Teilnehmer erhalten Basisinformationen zum Thema Stress, insbesondere zu den Stressreaktionen und den Zusammenhängen zwischen Stress und seelisch-körperlichem Wohlbefinden. Vermittelt werden die Voraussetzungen zur Reflexion der eigenen Lebenssituation sowie der Umgang mit belastenden Situationen. Hierbei wird das Bewusstsein und die Identifikation individueller Stressfaktoren gefördert, um zusätzliche Belastung minimieren oder vermeiden zu können und die Energien für gesundheitsfördernde Aktivitäten einzusetzen. 4.2.2 Zielsetzung Die Sitzung dient dem Erkennen eigener ungünstiger Reaktionsmuster in stressauslösenden Situationen. Die Teilnehmer sollen ihre Veränderungswünsche formulieren und Denk- oder Verhaltensalternativen erarbeiten, gegebenenfalls auch erproben. Dabei sollen sie lernen, hilfreiche Strategien zu entwickeln, um ihren negativen Gedanken und ungünstigen Überzeugungen vorzubeugen und sich emotional zu stabilisieren.
60 4 Therapiesitzungen 4.2.3 Sitzung II im tabellarischen Überblick Programmelement II.1 Eingangsrunde zur aktuellen Befindlichkeit II.2 Cluster zum Thema Stress II.3 Basisinformationen zur Sitzung II.4 Erarbeiten günstiger Denk- und Verhaltensmuster II.5 Hausaufgabe II.6 Gelenkte Imagination II.7 Abschluss der Sitzung für den Gruppenleiter für die Teilnehmer Arbeitsblatt II.1 Stresscluster Schreibutensilien (Unterlagen, Papier, Stifte) Arbeitsblatt II.1 Stresscluster Arbeitsblatt II.2 Stressor und Stressreaktionen Arbeitsblatt II.3 Körperliche Stressreaktionen Rollenspiel Arbeitsblatt II.4 Strategien der kognitiven Umstrukturierung Arbeitsblatt II.5 Vergnügungen Arbeitsblatt II.6 Liste der Dinge, die Ihnen gut tun Arbeitsblatt II.7 Lebensfreude Arbeitsblatt II.4 Strategien der kognitiven Umstrukturierung Arbeitsblatt II.5 Vergnügungen Arbeitsblatt II.6 Liste der Dinge, die Ihnen gut tun Arbeitsblatt II.7 Lebensfreude 4.2.4 Basisinformationen zur Sitzung Stress ist ein umgangssprachlich viel benutzter, aber wenig differenzierter Begriff. Er wird sowohl für stressauslösende Bedingungen wie auch zur Beschreibung der Befindlichkeit der betroffenen Person verwendet. Beide Aspekte sollten klar voneinander getrennt werden. Im Folgenden werden die wesentlichen Wirkmechanismen zusammengefasst dargestellt, um den Gruppenleitern einen Überblick zu geben. Komplexe Vorgänge müssen notwendigerweise vereinfacht dargestellt werden, können aber durch die angegebene Literatur bei Bedarf vertieft werden.
4.2 Sitzung II: Krankheit und Stress 61 Stressoren Als Stressoren werden stressauslösende Bedingungen bezeichnet. Stressoren sind alle Anforderungen, die bei einer Person eine Stressreaktion auslösen. Dazu zählen auch seelische Stressoren, wie beispielsweise negative Denkmuster, die Neigung zu Ungeduld, Ärger, Wut, Angst, Feindseligkeit, Versagensängste, Zeit- und Leistungsdruck, zu hohe Erwartungen, Nichterfüllung wesentlicher Bedürfnisse, Enttäuschung, Schwarzsehen. Je unbekannter eine Situation ist, je weniger sie vorhersehbar ist und je weniger der Betroffene die Einschätzung hat, dass er sie beeinflussen kann, desto belastender wird er sie empfinden und mit großer Wahrscheinlichkeit mit einer Stressreaktion reagieren. Stressreaktionen Unter Stressreaktionen werden alle Prozesse zusammengefasst, die auf Seiten des Betroffenen als Antwort auf einen Stressor in Gang gesetzt werden. Stressreaktionen können auf der körperlichen, kognitiv-emotionalen Ebene und auf der Verhaltensebene beschrieben werden. Dabei handelt es sich unter anderem um folgende Reaktionen: Die Herzschlagrate steigt an, weil das Herz besser durchblutet und leistungsfähiger wird. Der Blutdruck steigt. Der Blutzuckerspiegel steigt. Die Atmung wird schneller, weil die Bronchien sich erweitern. Die Muskelspannung erhöht sich, weil die Skelettmuskulatur vermehrt durchblutet wird. Die Immunkompetenz ist reduziert. Personen unter Stress beschreiben beispielsweise einen trockenen Mund, einen Kloß im Hals, ein flaues Gefühl im Magen, Herzrasen oder -stolpern oder einen hohen, aber labilen Blutdruck. Oft klagen sie über eine unnatürliche Müdigkeit. Darauf folgt eine Anpassungsphase, während der sich der Körper wieder auf Normalniveau zurückbewegt, auch wenn der Stressauslöser weiter einwirkt. Folgt aber hierauf keine Erholungsphase, kommt es zur Erschöpfung der körperlichen Reaktionsmöglichkeiten. Eine solche komplexe Reaktion wird durch das Zusammenspiel von zentralem Nervensystem, vegetativem Nervensystem und hormonellem System bewirkt. Dabei steht die Ausschüttung von Hormonen in der Nebennierenrinde (u.a.
62 4 Therapiesitzungen Kortisol) und im Nebennierenmark (u.a. Adrenalin) im Vordergrund. Bei entsprechender Stimulierung wird über den sympathischen Teil des vegetativen Nervensystems das Nebennierenmark angeregt. So werden vermehrt Stresshormone wie Adrenalin und Noradrenalin ausgeschüttet. Beide Hormone versetzen den Organismus in die Lage, sehr schnell zu reagieren ( Notfallreaktion ). Gleichzeitig wird im Hypothalamus der Kortikotropin-Releasing-Faktor (CRF) ausgeschüttet. Der CRF gelangt über das Gefäßsystem zur Hypophyse, bewirkt dort die Sekretion des adenokortikotropen Hormons (ACTH), das wiederum in der Nebennierenrinde die Freisetzung von Kortisol anregt. Dieses Hormon beeinflusst die Bereitstellung von energielieferndem Blutzucker ebenso wie das Immunsystem (Kaluza 1996). Stressreaktionen auf der Verhaltensebene In belastenden Situationen zeigen Betroffene häufig ein typisches Verhalten. Darunter kann fallen: Ungeduldiges Verhalten, Konfliktreicher Umgang mit anderen Menschen, wie gereiztes, aggressives Verhalten, aus der Haut fahren, oder Suchtverhalten, wie Rauchen, Alkohol- oder Drogenkonsum, Esssucht. Kognitiv-emotionale Stressreaktionen Sie umfassen intrapsychische Vorgänge, wie Gedanken und Gefühle, die von belastenden Situationen ausgelöst werden, beispielsweise: Gefühle der inneren Unruhe, Nervosität oder Gehetztseins, Leere im Kopf (Blackout), Denkblockaden, Gedankenkreisen, Grübeln, Konzentrationsstörungen, Leistungsstörungen, Scheuklappeneffekt: Rigidität oder Problemtrance. Die Stressreaktionen auf allen drei Ebenen (Physiologie, Verhalten, Kognition/ Emotion) laufen nur teilweise unabhängig voneinander ab. Sie können sich wechselseitig beeinflussen und im Sinne eines Circulus vitiosus verstärken. Auswirkungen von Stress auf die Gesundheit Patienten beschäftigen sich häufig mit dem Thema Auswirkungen von Stress auf die Gesundheit, vor allem mit der Frage, ob Stress im Beruf oder in privaten Lebenssituationen ihre Krebserkrankung verursacht haben könnte. Biologisch betrachtet ist Stress eine sinnvolle Reaktion des Körpers, mit Gefahren umzugehen, indem Energie für Kampf oder Flucht bereitgestellt wird. Auch in
4.2 Sitzung II: Krankheit und Stress 63 unserem normalen Alltag ermöglichen uns die physiologischen Reaktionen, uns rasch auf schnell wechselnde Lebensumstände einzustellen. Grundsätzlich ist eine körperliche Aktivierung, die durch einen Stressor ausgelöst wird, nicht gesundheitsschädlich. In älteren Publikationen der Stressforschung sprach man von Eustress, wenn eine Anforderung als Herausforderung erlebt wird und die Person sich kompetent genug fühlt, die Situation zu meistern. Eine mittlere Aktivierung wird meist als angenehme Anspannung erlebt und ist Voraussetzung für eine optimale Leistung. So kann sich Stress durchaus positiv auswirken. Als Disstress bezeichnete man lang anhaltende Aktivierung ohne Erholung. Er wird meist als Überforderung wahrgenommen. Was Menschen als Stress erleben, ist sehr unterschiedlich. Was von einem als belastend empfunden wird, wird von jemand anderen als anregend empfunden. Die Reaktion auf stressauslösende Situationen hängt im Wesentlichen davon ab, welche Bedeutung die jeweilige Situation für die betroffene Person hat und wie sie die eigenen Bewältigungsmöglichkeiten einschätzt, bzw. die Unterstützung, die ihr zur Verfügung steht, auf die sie zurückgreifen kann. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Stress und Krebs? Psychoimmunologische Studien zeigen, dass psychosoziale Belastungssituationen das Immunsystem nachhaltig schwächen können. Darunter fallen primäre und sekundäre Antikörperreaktionen, B- und T-Lymphozytenfunktionen und Zytotoxizität der natürlichen Killerzellen (NK). Vor allem chronische Belastungen scheinen das Immunsystem zu schwächen und zu gesundheitlichen Störungen zu führen oder den Verlauf bestehender Krankheiten negativ zu beeinflussen. Nachgewiesen ist dies zum Beispiel für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. In diesem Zusammenhang sind es jedoch vor allem die kritischen Veränderungen des Gesundheitsverhaltens, die aufgrund von Stress und den daraus erfolgenden Stressreaktionen, wie beispielsweise Zigaretten- oder Alkoholkonsum, zu wenig Schlaf, zu wenig Entspannung oder zu wenig Bewegung, zu gesundheitlichen Problemen führen. Auch wenn stresshafte Lebensereignisse die Immunfunktionen unterdrücken, ist eine kausale Beziehung zwischen Stress und der Entstehung einer Krebserkrankung nach wie vor ungeklärt. Im Rahmen experimenteller Forschung ist es sehr schwierig, die Vielzahl der miteinander agierenden Variablen zu kontrollieren und dabei zu verschiedenen Zeitpunkten die immunologischen Parameter zu erheben. Außerdem müssen gleichzeitig subjektiv erlebter Stress, die der jeweiligen Person zur Verfügung stehenden Verarbeitungsstrategien und das Ausmaß an sozialer Unterstützung berücksichtigt werden. Der kausale Zusammenhang zwischen emotionalem Disstress und Krebsinzidenz bzw. -progression lässt sich daher bislang nicht eindeutig belegen (Fox 1998).
64 4 Therapiesitzungen 4.2.5 Inhaltlicher Ablauf der Sitzung II im Einzelnen Element II.1: Eingangsrunde zur aktuellen Befindlichkeit Ablauf siehe Kapitel 3.3.1, S. 45 Element II.2: Cluster zum Thema Stress Arbeitsblatt II.1 Stresscluster Schreibutensilien (Unterlagen, Papier, Stifte) Ablauf Die Teilnehmer werden gebeten, in Form eines Clusters ihre individuellen stressverursachenden Lebensumstände oder Situationen aufzuschreiben. Anschließend findet ein Austausch in der Runde statt. Element II.3: Basisinformationen zur Sitzung Arbeitsblatt II.2 Stressor und Stressreaktionen Arbeitsblatt II.3 Körperliche Stressreaktionen Element II.4: Erarbeiten günstiger Denk- und Verhaltensmuster Arbeitsblatt II.4 Strategien der kognitiven Umstrukturierung Ablauf Die Kognitive Umstrukturierung ist eine hilfreiche Methode, um zu lernen, ungünstige Gedanken oder unerwünschtes Verhalten selbst zu korrigieren. Darunter versteht man alle therapeutischen Maßnahmen mit dem Ziel, neue Erkenntnisse und Sichtweisen zu den als stressauslösend erlebten Situationen zu gewinnen. Anhand konkreter Situationen der Teilnehmer werden die Zusammenhänge zwischen jeweiligem Stressor und Stressreaktion erarbeitet und alternative Möglichkeiten des Verhaltens besprochen oder erprobt.
4.2 Sitzung II: Krankheit und Stress 65 Cave Anders als in anderen Clustern, benennen die Teilnehmer häufig zu der Frage, was ihnen in ihrer aktuellen Lebenssituation am meisten Stress verursacht, nur eine Situation oder wenige ausgewählte Bereiche. Im Vordergrund stehen oftmals: Erwartungen aus dem sozialen Umfeld, die sie nicht erfüllen können oder möchten (z. B. nach Beendigung der Therapie oder eines Kuraufenthalts wieder die/der Alte zu sein, pflegebedürftige Eltern oder Schwiegereltern), berufliche Anforderungen, Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit, problematische Beziehungen zu Familienagehörigen (die oft schon vor der Erkrankung bestanden), krankheitsbezogene Ängste: Hier ist es sinnvoll, die Ausführungen der Teilnehmer zu begrenzen und sie auf die Sitzung V hinzuwesen, die die belastenden Gefühlen fokussiert. Element II.5: Hausaufgabe Arbeitsblatt II.5 Vergnügungen Arbeitsblatt II.6 Liste der Dinge, die Ihnen gut tun Aufgabenstellung Die Teilnehmer werden gebeten, eine Liste auszufüllen, mit Dingen, die ihnen gut tun. Es kann wichtig sein, darauf hinzuweisen, dass sich die Freude spendenden Aktivitäten oder Situationen vielleicht im Zuge der Erkrankung verändert haben und dass es manchmal nicht günstig ist, nach hinten zu schauen, auf Aktivitäten, die unter Umständen im Moment nicht umsetzbar sind (wie z.b. bisher gewohnte sportliche Leistungen zu erbringen oder eine bestimmte Urlaubsgestaltung). Andererseits können Aktivitäten, zu denen die Teilnehmer früher nie Zeit hatten, mehr in den Vordergrund treten, wie beispielsweise das Erlernen eines Musikinstruments. Auch sollten die Gruppenmitglieder vermehrt darauf achten, das eigene Wohlbefinden nicht von den Bedürfnissen und Wünschen anderer Menschen abhängig zu machen (wie u.a. von den Wünschen des Partners oder vom Besuch der Enkelkinder). Die Teilnehmer bekommen die Liste der Dinge, die Ihnen gut tun ausgeteilt und als Anregung für die Erledigung der Hausaufgabe das Gedicht Vergnügungen von Berthold Brecht (1993).
66 4 Therapiesitzungen Element II.6: Gelenkte Imagination: Lebensfreude Arbeitsblatt II.7 Lebensfreude Da Tumorpatienten sehr häufig im Erleben ihrer Defizite gefangen sind, soll die Übung sie anregen, den Blick auch auf die Aspekte ihres Lebens zu richten, die trotz und mit der Erkrankung Freude und Wohlbefinden beinhalten. Über diese Übung können die Teilnehmer wieder Zugang zu ihren Ressourcen finden. Element II.7: Abschluss der Sitzung Literatur Beitel E. Bochumer Gesundheitstraining. Dortmund: Verlag Modernes Lernen 1996; 61. Brecht B. Vergnügungen. In: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 15. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993. Fox BH. Psychosocial factors in cancer incidence and prognosis. In: Holland J (ed). Psycho-oncology. New York: Oxford University Press 1989; 110 24. Kaluza G. Gelassen und sicher im Stress. Berlin: Springer 1996.