WELCHEN EINFLUSS HAT DIE TARIFPOLITIK AUF DIE EINKOMMENSVERTEILUNG? Prof. Dr. Thorsten Schulten IAW DGB Arbeitnehmerkammer Tarifpolitik gegen soziale Ungleichheit Potenziale und Herausforderungen 18./19. Januar 2018, Bremen
Inhalt 1. Tarifbindung in Deutschland ein Überblick? 2. Der Einfluss der Tarifpolitik auf die Einkommensverteilung 3. Ansätze zur Stärkung der Tarifbindung die aktuelle Debatte 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten 2
1. TARIFBINDUNG IN DEUTSCHLAND EIN ÜBERBLICK? 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten 3
Tarifbindung 1998-2016 in % aller Beschäftigten 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten Quelle: IAB 4
Tarifbindung nach Bundesländern 2016 in % aller Beschäftigten 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten Quelle: IAB 5
Tarifbindung 2016 in % aller Beschäftigten Insgesamt: 56% 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten Quelle: IAB 6
Was bedeutet Orientierung am Tarifvertrag? Ergebnis: Unternehmen, die angeben, sich am Tarifvertrag zu orientieren, zahlen durchschnittlich deutlich niedrigere Löhne als tarifgebundene Unternehmen 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten 7
Tarifbindung 2014 unterschiedliche Quellen in % aller Beschäftigten Betriebs- Panel 16,000 Betriebe Jährlich Verdienststrukturerhebung 60,000 Betriebe Alle 4 Jahre Repräsentative Umfrage für alle Betriebe aller Größenklassen 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten Quelle: IAB 8
Tarifbindung 2014 nach Branchen in % aller Beschäftigten 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten Quelle: Destatis 9
Tarifbindung 2014 nach Unternehmensgrößen in % aller Beschäftigten 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten Quelle: Destatis 10
Tarifbindung 2014 nach Lohngruppen in % aller Beschäftigten 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten Quelle: Destatis 11
Gründe für die rückläufige Tarifbindung 1. Rückläufige Akzeptanz bei den Unternehmen Verbands- und Tarifflucht Keine Tarifbindung bei neu gegründeten Unternehmen (Strukturwandel) OT-Mitgliedschaften in Arbeitsgeberverbänden 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten 12
OT-Mitgliedschaften bei Gesamtmetall in % aller Mitgliedsfirmen und betroffenen Beschäftigten 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten 13
Gründe für die rückläufige Tarifbindung 1. Rückläufige Akzeptanz bei den Unternehmen Verbands- und Tarifflucht Keine Tarifbindung bei neu gegründeten Unternehmen (Strukturwandel) OT-Mitgliedschaften in Arbeitsgeberverbänden 2. Rückläufiger gewerkschaftlicher Organisationsgrad 3. Fehlende politische Stützung des Tarifvertragssystems 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten 14
Tarifbindung in Europa* 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten 15 * 2012 oder letzter verfügbarer Wert Quelle: ICTWSS Database Version 5.0
2. DER EINFLUSS DER TARIFPOLITIK AUF DIE EINKOMMENSVERTEILUNG 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten 16
Lohnungleichheit in Deutschland, 1995-2015 Dezile D 9 / D 1 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten 17 * 2012 oder letzter verfügbarer Wert Quelle: ICTWSS Database Version 5.0
Lohnungleichheit in Europa 2014 Dezile D 9 / D 1 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten 18 * 2012 oder letzter verfügbarer Wert Quelle: ICTWSS Database Version 5.0
Lohnungleichheit und Tarifbindung in Europa r = -0,73193 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten Quelle: ICTWSS Database Version 5.0, OECD 19
Niedriglohnsektor in der EU, 2014 Beschäftigte in % 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten Quelle: Eurostat 20
Niedriglohnsektor in der EU, 2014 Weibliche Beschäftigte in % 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten Quelle: Eurostat 21
Niedriglohnsektor und Tarifbindung in Europa r = -0,80946 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten Quelle: ICTWSS Database Version 5.0, OECD 22
Tarifbindung 2014 nach Lohngruppen in % aller Beschäftigten 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten Quelle: Destatis 23
Reale Bruttostundenlöhne, 1995-2015 durchschnittliche Entwicklung in % nach Dezilen 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten 24
Entlohnung mit Tarifvertrag gegenüber Entlohnung ohne Tarifvertrag 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten Quelle: WSI 25
Lohndrift: Tarif- und Effektivlöhne 2000 = 100, reale Entwicklung Negative Lohndrift 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten Quelle: WSI 26
Tarifbindung und Lohnungleichheit Studie der Bertelmann-Stiftung (2014): Rückgang der Tarifbindung als wichtigster Erklärungsfaktor für die wachsende Lohnungleichheit im Zeitraum1996-2010! 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten 27
3. STÄRKUNG DER TARIFBINDUNG DIE AKTUELLE DEBATTE 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten 28
Ansätze zur Stabilisierung des Tarifvertragssystems Stabilisierung von unten: Stärkung gewerkschaftlicher Organisationsmacht Häuserkampf um die Tarifbindung Stabilisierung von oben: Stärkung der Allgemeinverbindlichkeit Stärkung der Nachwirkung von Tarifverträgen Tarifdispositive Regelungen in Gesetzen 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten 29
Stabilisierung von unten: Häuserkampf um die Tarifbindung Verhinderung von Tarifflucht Erstmaliger Abschluss eines (Haus-) Tarifvertrages Heranführung an/bzw. Anerkennung des Branchentarifvertrag 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten 30
Stabilisierung von unten: Häuserkampf um die Tarifbindung Chancen: Betriebs- und Mitgliedernahe Tarifpolitik: Verbindung von Tarifpolitik und Organizing Koordinierung der Häuserkämpfe auf Branchenebene (z.b. Krankenhäuser) Grenzen: Teilweise sehr langfristige Konflikte mit hohem Personal- und Ressourcenaufwand Gefahr der Überforderung vor allem bei Branchen mit vielen Klein- und Kleinstbetrieben 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten 31
Stabilisierung von oben: Stärkung der Allgemeinverbindlicherklärung Tarifautonomiestärkungsgesetz (2014) Ziel ist es, die Tarifautonomie zu stärken und angemessene Arbeitsbedingungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sicherzustellen ( ) Die Allgemeinverbindlicherklärung nach dem Tarifvertragsgesetz als Instrument zur Stützung der tariflichen Ordnung durch Erstreckung der Rechtsnormen des Tarifvertrages wird daher erleichtert. Kern der Erleichterung: Abschaffung des 50% Quorums Wesentliche Kriterium: öffentliches Interesse 18.01.20187 Prof. Dr. Thorsten Schulten 32
Tarifbindung & Allgemeinverbindlicherklärung 2012 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten 33 Quelle: ICTWSS Version 5
Gesamtzahl der allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge 1975-2016 2016: 0,6% aller Tarifverträge 1,5% aller Branchen-TV 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten Quelle: BMAS 34
Bilanz der AVE-Reform in der Praxis 1. Keine Zunahme allgemeinverbindlicher Tarifverträge 2. (Fast) keine neuen Branchen-TV in der AVE Fokus auf die Erneuerung des AVE-Bestandes 3. Blockade der AVE durch die Arbeitgeberseite BDA: AVE als Ausnahmeinstrument 4. Kein Interesse an AVE bei den Arbeitgebern wegen OT-Mitgliedschaften 18.01.2018 Prof.Dr. Thorsten Schulten 35
Stabilisierung von oben: Tarifdispositive Regelungen Abweichung von gesetzlichen Regelungen durch Tarifvertrag Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG): Abweichung von Equal Pay Ausdehnung der maximalen Verleihdauer Mindestlohngesetz (MiLoG) Übergangsphase bis zur Einführung des Mindestlohns Arbeitszeitgesetz (ArbZG) Verlängerung tägl. AZ über 10 Stunden bei Bereitschaftszeit/Arbeitsbereitschaft Flexible Regelungen von Ausgleichs- und Ruhezeiten. Ausdehnung der Arbeit an Sonn- und Feiertagen 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten 36
Stabilisierung von oben: Tarifdispositive Regelungen DGB Positionspapier zur Stärkung der Tarifbindung Tarifwerke setzen wie Gesetze Mindestbedingungen. Tarifverträge dürfen kein Instrument zur Unterschreitung gesetzlicher Mindeststandards sein. Abweichungen vom Gesetz durch Tarifvertrag, die ein Äquivalent aller Regelungsziele und -inhalte beinhalten sollen dagegen zulässig sein. 18.01. 2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten 37
Fazit: Stärkung der Tarifbindung in Deutschland Es gibt nicht den einen Hebel! Verbindung einer Stärkung von unten (koordinierten Häuserkampf) Stärkung von oben (weitere Reform der AVE, Einschränkung von OT-Mitgliedschaften, Stärkung der Nachwirkung usw.) Einbettung in eine gesellschaftspolitische Debatte um den Wert von Tarifverträgen als soziales Grundrecht und ihrer Bedeutung für einen sozial regulierten Kapitalismus 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten 38
Stärkung der Tarifvertragssystem? Ich möchte hier ein Bekenntnis ablegen, von dem ich hoffe, dass wir das auch in unserem neuen Regierungsprogramm, falls denn eine Regierung zustande kommt, verankern können: Ich halte die Sozialpartnerschaft in dieser Zeit, im 21. Jahrhundert, in den jetzigen industriellen Umbrüchen für mindestens so wichtig, wie sie das in der Vergangenheit war. Deshalb werde ich jedenfalls alles dafür tun, die Tarifbindung in Deutschland wieder zu steigern. Angela Merkel Rede zum IG BCE Bundeskongress am 12. Oktober 2017 in Hannover 18.01.2018 Prof. Dr. Thorsten Schulten 39
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit! Prof. Dr. Thorsten Schulten Thorsten-Schulten@boeckler.de Weitere Informationen: www.tarifarchiv.de www.facebook.com/wsi.tarifarchiv www.twitter.com/wsitarifarchiv 18.01.2018 Prof.Dr. Thorsten Schulten 40