Erich Offermann Kristalle und ihre Formen Band 1: Theoretische Kristallmorphologie - Leseprobe S. 94- KristalloGrafik Verlag
Allgemeines Formenkombinationen 3.1 Allgemeines zu Formenkombinationen 3.1.1 Definition der Formenkombinationen Formenkombinationen liegen immer dann vor, wenn an einem Kristall zwei oder mehr Formen beteiligt sind. Dies trifft für die meisten in der Natur gewachsenen Kristalle zu. Sie sind die Regel und kommem in allen Kristallsystemen und Kristallklassen vor. Grund genug, Formenkombinationen theoretisch etwas gründlicher zu untersuchen als dies in der Literatur bisher geschah. Ideallkristalle von Mineralarten werden sich später leichter verstehen lassen. Realkristalle werden leichter zu bestimmen sein. Zu unterscheiden sind Kombinationen geschlossener Formen Kombinationen geschlossener mit offenen Formen Kombinationen offener Formen. Triklin und monoklin sind nur Kombinationen möglich (keine geschlossenen Formen). 3.1.2 Probleme der Formenkombinationen Nur solche Formen sind miteinander kombinierbar, welche innerhalb einer Kristallklasse und der dort herrschenden Symmetrie möglich sind. Daraus folgt, dass sich Hexaeder nicht mit Pinakoiden kombinieren lassen, Oktaeder nicht mit Prismen, Hex oktaeder nicht mit Pentagondodekaedern usw. Hingegen lassen sich Hexaeder mit Rhombendodekaedern und beide mit sämtlichen andern kubischen Formen kombinieren, weil diese beiden Formen in sämtlichen fünf kubischen Kristallklassen auftreten können. Welche Formen an einem Kristall vorkommen können und miteinander kombinierbar sind, lässt sich leicht aus den für jedes Kristallsystem gezeichneten Übersichten der Formen ablesen. Ich ermuntere Sie sehr, sich diese Übersichten einzuprägen. Zu diesem Thema gehört ebenfalls, dass es grundsätzlich falsch ist, von Quarzkristallen mit pyramidalem Abschluss, pyramidalen Anatasen, oktaedrischen Scheelitkristallen oder rhomboedrischem Schwefel zu sprechen oder zu schreiben. Diese Beispiele liessen sich beliebig erweitern. Solche kristallmorphologischen Sprachentgleisungen lassen sich selbst in der sonst gehobenen Literatur leider immer wieder entdecken. Es handelt sich da um gut gemeinte oder gedankenlose Entlehnungen aus der Alltagsgeometrie. Sie möchten mineralogische Sachverhalte verständlich machen, bewirken jedoch das Gegenteil. Etwas mehr kristallmorphologische Sprachhygiene wäre einer wissenschaftlichen Genauigkeit dienlicher. 94
Formenkombinationen Allgemeines Bei Formenkombinationen beschneiden sich die Flächen der beteiligten Formen gegenseitig. Sie werden kleiner und erhalten ein anderes Aussehen. Das erschwert die richtige Zuordnung solcher Restflächen zu ihren Formen, in diesem Zusammenhang nachstehend als Vollformen bezeichnet. Je mehr Formen an einem Kristall beteiligt sind, desto schwieriger wird es, aus den oft sehr zahlreichen und kleinen Restflächen auf die entsprechenden Vollformen zu schliessen. Oktaeder Oktaederfläche Kristall der Klasse m3m, konstruiert Hexaederfläche () Calcit aus möglichen Formen konstruiert Rhomboeder (10.1) Calcit, aus häufig auftretenden Formen als verzerrter Kristall konstruiert. Erkennen Sie die gezeichneten Kristallflächen Welchen Formen sind sie zuzuordnen Selbst bei grosser Erfahrung wird früher oder später ein Punkt erreicht, wo das Vorstellungsvermögen überfordert wird. Dies besonders bei Realkristallen, wo die Symmetrieverhältnisse meistens nicht mehr deutlich erkennbar sind. Um dieses Verständnis zu verbessern, soll etwas tiefer über das Wesen von Formenkombinationen nachgedacht werden. 95
Kristalle als Schnittkörper Formenkombinationen 3.1.3 Kristalle als Schnittkörper der beteiligten Formen Beispiele Das Hexaeder {} und das Oktaeder {} werden miteinander kombiniert. Dazu werden sie ineinander gestellt und auf ihre Achsenkreuze zentriert. Beide Formen werden gleich gross gezeichnet, d.h. es wird beiden der Zentralabstand 1 zugewiesen. Die bisherige Kristallmorphologie nimmt an, dass dann ein Kuboktaeder als Formenkombination entsteht. Diese Folgerung ist zumindest voreilig. Folgerichtig erscheint die Kombination zunächst als Körper gemäss nebenstehender Zeichnung. Erst nach Entfernung aller Volumina, die nur einer Form angehören, bleibt das Kuboktaeder als Schnittkörper beider Formen übrig: ein sehr schöner Anwendungsfall der mathematischen Mengenlehre 96
Formenkombinationen Kristalle als Schnittkörper Einfacher und ebenfalls verständlich kann die wichtige Beziehung zwischen Formenkombination und den ihr zugrundeliegenden Formen dargestellt werden, indem man die beteiligten Vollformen in gleicher Orientierung dazuzeichnet und entsprechende Flächen miteinander verbindet. An einem weiteren Beispiel von Würfel und Rhombendodekaeder läßt sich die neue Erkenntnis erhärten. + Zentraldistanz: 1 Neue vereinfachte Darstellung: die entsprechenden Vollformen werden rot in gleicher Orientierung dazu gezeichnet. Entsprechende Flächen werden miteinander verbunden. 97
Kristalle als Schnittkörper Formenkombinationen + + In diesem Beispiel wird das Oktaeder {} dazu kombiniert: Zentraldistanz: 1 Neue vereinfachte Darstellung: die entsprechenden Vollformen werden rot in gleicher Orientierung dazu gezeichnet. Entsprechende Flächen werden miteinander verbunden. 98
Formenkombinationen Kristalle als Schnittkörper Es folgt ein Beispiel aus dem trigonalen System (Calcit). Kombiniert werden die Formen ditrigonales Skalenoeder {21.1} und Rhomboeder {10.1}. Diese Körper enthalten die Volumina beider Formen. Nach Entfernung aller Volumina, die nur einer Form angehören, bleibt die eingefärbte Formenkombination als Schnittkörper beider Formen übrig: ein sehr schöner Anwendungsfall der mathematischen Mengenlehre Neue vereinfachte Darstellung: die entsprechenden Vollformen werden rot in gleicher Orientierung dazu gezeichnet. Entsprechende Flächen werden miteinander verbunden. 101 211 99
Kristalle als Schnittkörper Formenkombinationen Selbstverständlich lassen sich auch Kombinationen mit offenen Formen so darstellen. Das letzte Beispiel wird in der Weise geändert, dass das Rhomboeder durch das hexagonale Prisma {10.0} ersetzt wird. Neue vereinfachte Darstellung: die entsprechenden Vollformen werden rot in gleicher Orientierung dazu gezeichnet. Entsprechende Flächen werden miteinander verbunden. 10.0 21.1
Formenkombinationen Kristalle als Schnittkörper Vorausgesetzt, dass dieser Kristall richtig als Calcit bestimmt wurde, wird nun klar, dass an ihm drei Rhomboeder, ein Skalenoeder und ein Prisma beteiligt sind. Oder umgekehrt: erfahrene Mineralienkenner sehen in Realkristallen solchen Aussehens einen Hinweis auf Calcit. Morphologische Kenntnisse sind also wertvolle Bestimmungshilfen. 1 3 4 Calcit, hypothetisch, aus häufig vorkommenden Formen mit unterschiedlicher Zentraldistanz konstruiert 5 FO. IND. 1 1 0.1 pos. Rhomboeder 2 1 1.0 hex. Prisma I. Stellung 3 0 1.2 neg. Rhomboeder 4 2 1.1 Skalenoeder 5 0 2.1 neg. Rhomboeder 2 FO. IND. 1 1 0.1 pos. Rhomboeder 2 1 1.0 hex. Prisma I. Stellung 3 0 1.2 neg. Rhomboeder 4 1 0.0 hex. Prisma II. Stellung 5 2 1.1 Skalenoeder 6 4 0.1 neg. Rhomboeder 7 0 4.1 pos. Rhomboeder Diese neue Verständnishilfe wäre vor den Möglichkeiten des Computerzeitalters meistens zu arbeitsaufwendig gewesen. Heute ist sie eine Angelegenheit von ein paar Mausklicks Es liegt auf der Hand, dass sich vor allem kubische Vollformen speichern und bei Bedarf immer wieder hervorholen lassen. Bei den andern Systemen, wo unterschiedliche Achsenverhältnisse zu berücksichtigen sind, braucht es etwas mehr Arbeit. 4 1 7 5 3 6 2 101
Grundsätzliches zu Tracht und Habitus Formenkombinationen 3.1.4 Grundsätzliches zu Tracht und Habitus Für das Verständnis von Formenkombinationen ist es sehr nützlich, zwischen Kristalltracht und Kristallhabitus zu unterscheiden. Der Begriff der Kristalltracht oder kurz Tracht befasst sich mit der Frage, wieviele und welche Formen an einem Kristall auftreten. Er geht zurück auf die ursprüngliche Tracht im Sinne von Kleidungsstück. In Zeichnungsrezepten gibt darüber die Liste der beteiligten Formen Auskunft. Der Begriff Kristallhabitus oder kurz Habitus befasst sich mit der Frage, in welchem Grössenverhältnis zwei oder mehrere Formen zueinander stehen. Der Habitus ist also z.b. würfelig, stengelig, blättrig etc. In Zeichnungsrezepten für SHAPE geben darüber die Zentraldistanzen, distances, Auskunft. In andern Zeichenprogrammen stehen dafür Prozentzahlen. Eine erste Übersicht soll diesen Unterschied aufzeigen. Bemerkenswert und bedauerlich ist, dass die englische Fachsprache diesen Unterschied zwischen Tracht und Habitus nicht kennt. Dort werden beide Sachverhalte unter dem Begriff habit zusammengefasst. Damit geht ein handliches Unterscheidungsmerkmal leider verloren. Um ein Verstehen von Tracht und Habitus zu erleichtern, befassen wir uns zunächst nur mit der Tracht von Formenkombinationen und neutralisieren den Habitus. Dies äussert sich darin, dass jede beteiligte Form grundsätzlich mit der Zentraldistanz 1 dargestellt wird. In Zeichnungsrezepten des Kapitels Tracht erscheint daher immer eine 1 nach den Indizes der beteiligten Formen, oft getrennt durch einen Schrägstrich /, also beispielsweise /1, /1 usw. Durch dieses Vorgehen erhalten alle Zeichnungen von Formenkombinationen in diesem Kapitel ein einigermassen ausgewogenes, isometrisches Aussehen. Dies auch deshalb, weil bei den nichtkubischen Kristallsystemen die gewählten Achsenverhältnisse in der Nähe von 1 bleiben. Tafelige und nadelige Idealkristalle haben daher hier keinen Platz. Unterschiedliche Tracht bei gleichem Habitus am Beispiel Calcit: 1. pos. Rhomboeder {10.1} 2. neg. Rhomboeder {02.1} 3. Skalenoeder {21.1} 4. hexagonales Prisma {10.0} Alle Zentraldistanzen 1 Zwei Formen beteiligt 1 2 3 3 4 3 Drei Formen beteiligt 4 1 3 2 3 4 4 1 2 1 3 2 Alle vier Formen beteiligt 4 1 3 2 102
Formenkombinationen Grundsätzliches zu Tracht und Habitus Unterschiedlicher Habitus bei gleicher Tracht am Beispiel Calcit: Beteiligte Formen bei allen Kristallen FO. IND. 1 1 0 1 pos. Rhomboeder 2 0 2 1 neg. Rhomboeder 3 2 1 1 Skalenoeder 4 1 0 0 Prisma unterschiedliche Zentraldistanzen: 1 a rhomboedrischer Habitus a 2 b rhomboedrischer Habitus b c skalenoedrischer Habitus 3 c d prismatischer oder säuliger Habitus 4 d Wir sind nun schon einigemale dem Begriff der Zentraldistanz begegnet. In der mineralogischen Fachliteratur tritt er nur selten auf, bei Klockmann im Zusammenhang mit dem Wachstum von Kristallen. Kristallwachstum ist als ein dynamischer, in der Natur allerdings sehr langsam verlaufender Vorgang zu verstehen. Dabei ist die alte Erkenntnis von Bedeutung, dass in der Natur die Anlagerung von Mineralsubstanz beispielsweise aus wässrigen Lösungen oder Schmelzen an Realkristalle je nach den beteiligten Formen unterschiedlich rasch erfolgen kann. Kristallographisch kann man also von einer je nach Form unterschiedlichen Verschiebungsgeschwindigkeit vom Kristallzentrum weg sprechen. Bei Ende des Kristallwachstums hört diese Dynamik auf, und der Abstand einer jeden Form vom Zentrum kann gemessen und festgeschrieben werden. Diese sogenannte Zentraldistanz gehört zu jenen kristallographischen Daten, die für die Definition und für die zeichnerische Darstellung eines ganz bestimmten Kristalls unverzichtbar sind. Kein Kristallzeichnungsprogramm kommt ohne Eingabe von Zentraldistanzen aus. Die Zentraldistanz ist ein Mass für die relative Grösse von Flächen zueinander. Ohne Eingabe von Zentraldistanzen liesse sich nur die Kristalltracht festlegen. Dieses Absehen vom Kristallhabitus haben wir bisher dadurch bewirkt, dass bei den Zeichnungen zum Thema Tracht zu jeder Form die Zentraldistanz 1 eingegeben wurde. 103
Tracht, kubisches System Formenkombinationen 3.2 Kristalltracht 3.2.1 Beispiele im kubischen System Kombinationen von zwei und drei Formen, Beispiele Hex oktaedrische Klasse m3m {} Oktaeder 321 {321} Hex oktaeder {211} Deltoidikositetraeder 211 104
Formenkombinationen Tracht, kubisches System Kombinationen von zwei und drei Formen, Beispiele Disdodekaedrische Klasse mb3 {210} Pentagondodekaeder {321} Disdodekaeder 210 321 Hex tetraederische Klasse b43m {} positives Tetraeder {211} Tristetraeder 211 105
Tracht, kubisches System Formenkombinationen Kombinationen von drei oder mehr Formen, Beispiele Hex oktaedrische Klasse m3m {} Oktaeder 26 Flächner {} Oktaeder zusaätzlich {210} Tetrakishexaeder 50 Flächner 210 211 {} Oktaeder {210} Tetrakishexaeder zusätzlich {211} Deltoidikositetraeder 74 Flächner 221 {} Oktaeder {210} Tetrakishexaeder {211} Deltoidikositetraeder zusätzlich {221} Trisoktaeder 106 Flächner 106
Formenkombinationen Tracht, kubisches System Kombinationen von vier und fünf Formen, Beispiele Hex oktaedrische Klasse m3m 210 {} Oktaeder {210} Tetrakishexaeder Anmerkung: Je mehr Formen an den Kristallen beteiligt sind, desto kugeliger wird ihr Aussehen, da alle Zentraldistanzen mit 1 eingegeben werden. 221 {} Oktaeder {221} Triakisoktaeder 221 321 {} Oktaeder {221} Triakisoktaeder {321} Hexakisoktaeder 107
Tracht, kubisches System Formenkombinationen Kombinationen von drei oder mehr Formen, Beispiele Hex tetraedrische Klasse b43m {} Tetraeder 211 {} pos. Tetraeder zusätzlich {211} Tristetraeder {} pos. Tetraeder {211} Tristetraeder zusätzlich {321} Hex etraeder 321 221 {} pos. Tetraeder {211} Tristetraeder {321} Hex etraeder zusätzlich {221} Deltoidodekaeder 108
Formenkombinationen Tracht, kubisches System Kombinationen von drei oder mehr Formen, Beispiele Tetartoidische Klasse 23 {} pos. Tetraeder {321} Tetartoid 321 1 1-1 {1 11} neg. Tetraeder {321} Tetartoid {1 11} neg. Tetraeder {321} Tetartoid zusätzlich {210} Pentagondodekaeder 210 211 {1 11} neg. Tetraeder {321} Tetartoid {210} Pentagondodekaeder zusätzlich {211} pos. Tristetraeder 109
Tracht, kubisches System Formenkombinationen Kombinationen von vier und fünf Formen, Beispiele Disdodekaedrische Klasse mb3 321 221 Daten für alle nebenstehenden Zeichnungen: mb3 {} Oktaeder {321} Disdodekaeder {221} Trisoktaeder Hex'tetraedrische Klasse b43m Daten für alle folgenden Zeichnungen dieser Seite: b43m 221 {} pos.tetraeder {221} Deltoiddodekaeder 321 221 {} pos.tetraeder {221} Deltoiddodekaeder {321} Hexakistetraeder
Formenkombinationen Tracht, kubisches System Kristallsymmetrien an Formenkombinationen des kubischen Systems sichtbar gemacht In der gesamten mineralogischen Literatur wird für Kristallzeichnungen die klinographische Projektion verwendet. Das heisst, dass Kristalle von schräg oben vorn rechts dargestellt werden. Neben unbestrittenen Vorteilen hat dies den grossen Nachteil, dass die Symmetrieverhältnisse nicht unmittelbar abgelesen werden können. Daher werden hier Beispiele von kubischen Formenkombinationen nicht nur klinographisch sondern auch in Ansichten entlang von Symmetrieachsen dargestellt. Kristallzeichnern schlage ich vor, weitere Beispiele darzustellen. Hex oktaedrische Klasse m3m Klinographische Ansicht Symmetrien zweizählig dreizählig vierzählig Ansicht aus Ansicht aus Ansicht aus [] [] [001] {} Oktaeder {} Oktaeder {} Oktaeder {211} Deltoidikositetraeder {221} Trisoktaeder Hex tetraedrische Klasse b43m {211} Tristetraeder {211} Deltoidikositetraeder {} pos. Tetraeder