Übergänge im Lebenslauf bewältigen und förderlich gestalten Prof. Dr. Pasqualina Perrig-Chiello Übersicht 1. Biografische Übergänge: Definition, Bedeutung und gesellschaftlicher Kontext 2. Zentrale biografische Übergänge im Erwachsenenalter - Lebensmitte: Kumulation von Transitionen, Lebensbilanzierung -Alter: Pensionierung, multiple Wege des Übergangs - Hohes Alter Verluste und existenzielle Sinnfragen 3. Kernkompetenzen zur Bewältigung von biografischen Übergängen 1
Biografische Übergänge Normative Übergänge: voraussehbar, planbar - Biologisch normiert: Pubertät, Menopause - Gesellschaftlich altersnormiert: Einschulung, Volljährigkeit, Pensionierung Nicht-normative Übergänge: unvorhersehbar, häufig gekennzeichnet durch Kontrollverlust, Ungewissheit und Stress: Unfälle, Todesfälle, Entlassungen, Scheidungen, berufliche Entlassungen, finanzielle Krisen Biografische Übergänge Herausforderungen und Chancen Herausforderungen unterbrechen den Lebensverlauf, lösen Individuen/Systeme aus Zusammenhängen > Reorganisation des Lebens nötig. verändern Rollen, Beziehungen > Neudefinition der Identität, zumeist assoziiert mit emotionalem Ungleichgewicht, Kontrollverlust. Jedoch: grosse Unterschiede im Umgang mit diesen Herausforderungen. Und die Chancen? Wertvolle Lebenserfahrung Persönliches Wachstum 2
Früher Alles zu seiner Zeit Heute Biografische Übergänge die grosse Beliebigkeit? Destandardisierung der Lebensläufe aufgrund des demografischen und gesellschaftlichen Wandels: Individualisierung, Mobilität, Alter ist kein verlässlicher Indikator mehr. Übergänge weniger normiert und gesellschaftlich weniger sichtbar dafür zahlreicher: mehr berufliche und private Übergänge. Verlust an Sicherheit Alles ist möglich, nichts ist sicher. Gestiegener Originalitätsanspruch bei der Gestaltung des Lebenslaufs > Gefahr der Überforderung der Selbststeuerungs-Kompetenz. Privatisierung biografischer Übergänge > Druck auf Selbstverantwortung. 3
Früher wie heute Transitionen erfordern Neudefinition der Identität ein Leben lang! Auch in der postmodernen Zeit haben die verschiedenen Lebensphasen spezifische Aufgaben. Deshalb sind die Übergangsphasen von zentraler Bedeutung für die Identitätsdefinition. Neue Herausforderungen: - Identitätsdefinition im Zeitalter der multiplen Identitäten (Beruf, Familie, Social media, etc.) - Sich selber treu bleiben? Oder vielmehr: Sich ständig neu erfinden? Früher wie heute Frühe Übergänge werfen lange Schatten Frühe Übergangserfahrungen prägen nachhaltig Selbstwirksamkeitsüberzeugungen und Erfolgs- und Misserfolgserwartungen. Negative Übergangserfahrungen (Scheidung der Eltern, Wohnortwechsel, off-time Transitionen) können den Lebenslauf aus den Takt bringen > schwierig wieder einzupendeln. Erklärungen? Überdauernder Effekt: Eine negative Transition beeinträchtigt nachhaltig die psychische Gesundheit der betroffenen Person (Chapman et al., 2004). Ketteneffekt (Domino-Effekt): negative Transitionen lösen laufend neue negative Ereignisse aus (Wainwright & Surtees, 2002). 4
Übersicht 1. Biografische Übergänge: Definition, Bedeutung und gesellschaftlicher Kontext 2. Zentrale biografische Übergänge im Erwachsenenalter - Lebensmitte: Kumulation von Transitionen, Lebensbilanzierung -Alter: Pensionierung, multiple Wege des Übergangs - Hohes Alter Verluste und existenzielle Sinnfragen 3. Kernkompetenzen zur Bewältigung von biografischen Übergängen Kumulation biografischer Übergänge in den mittleren Jahren Persönliche Übergänge: Körperliche Veränderungen Neue Zeitperspektive > Bilanzierungsprozesse Partnerschaftliche u. familiale Übergänge: Scheidungen Sandwich-Position: Sorge für Kinder und Eltern Berufliche Übergänge: Neuorientierungen Wiedereinstieg, Ausstieg 5
Bilanzierung zur Halbzeit Chance die Weichen neu zu stellen Veränderung in der Zeitorientierung Auseinandersetzung mit den ursprünglichen Lebensentwürfen Wiederaufleben des Traumes : unterdrückte Aspekte des Selbst werden manifest; unerreichte Ziele, verpasste Chancen drängen nach Realisierung. Biografische Festlegungen werden spürbar Sinnfrage und Neuorientierung Die Gnade des Nullpunkts Johannes Tauler (1300-1361) Ordentliches inneres Üben ist notwendig zur Überwindung der Krise : - Bewusstes Innehalten, Bilanzieren - Offen sein für Neues - Sich neu definieren - Nicht alles kontrollieren wollen - Relativieren - Eigene Standards entwickeln 6
Pensionierung gestern Saul Steinburg, Lebenstreppe, Hamburg, 1954. Pensionierung heute ein pluralisierter Übergang Pensionierung als Weichenstellung zu vielfältigen Pfaden: Gestaltungsmodell Weitermachen Gestaltungsmodell nachberufliches Engagement Gestaltungsmodell Befreiung Guter Übergang ist abhängig von: Freiwilligkeit der Transition persönlichen Merkmalen und Interessen: Neudefinition als Senioren ; Neudefinition des Selbstwertes und des Lebenssinnes Familiale Bedingungen: Neudefinition der Partnerschaft, des sozialen Netzes wirtschaftlich-konjunkturelle Rahmenbedingungen 7
Pensionierung heute Übergang ins fragile Alter Die ultimative Erfahrung der eigenen Grenzen Lebenszufriedenheit über die Lebensspanne Multimorbidität, Gebrechlichkeit und Funktionsverlust, Abhängigkeit Erhöhtes Demenzrisiko Soziale Verluste, Einsamkeit Grenzen von Resilienz, Verlustmanagement und Selbststeuerung 8
Heimeintritt: Sinnfrage und Neudefinition der eigenen sozialen Rolle Menschliche Reife besteht darin, dass man mit Freude Hilfe leisten, aber auch Hilfe annehmen kann. Pfr. Otto Streckeisen Reformierte Presse/monatliche Kolumnen 2009-2013 Perrig-Chiello (2015). Gemeinschaft leben und in Beziehung sein im hohen Alter. In Fistarolet al.: Heimgang. Gedanken über den Lebensabend. Otto Streckeisen. Übersicht 1. Biografische Übergänge: Definition, Bedeutung und gesellschaftlicher Kontext 2. Zentrale biografische Übergänge im Erwachsenenalter - Lebensmitte: Kumulation von Transitionen, Lebensbilanzierung -Alter: Pensionierung, multiple Wege des Übergangs - Hohes Alter Verluste und existenzielle Sinnfragen 3. Kernkompetenzen zur Bewältigung von biografischen Übergängen 9
Erfolgreiche Bewältigung von biografischen Übergängen Abhängig von 1. Gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und alters- und zeitspezifischen Erwartungen (Transitionen sind nicht nur eine persönliche Angelegenheit). 2. Individuellen Ansprüchen, Möglichkeiten und Ressourcen: - körperlich (Gesundheit, Leistungsfähigkeit,...) - psychisch (Persönlichkeitsmerkmale, Werthaltungen, Erfahrung..) - sozial (Partner, familiale und freundschaftliche Netzwerke). Die gesellschaftlichen Bedingungen prägen entscheidend sind letztlich die Einstellungswerte. Stabilität in Zeiten der Veränderung Wichtig: Nicht mehrere Transitionen gleichzeitig! Vorbereiten, Zeit lassen, begleiten, Rituale Stability Zones(Toffler, 1970) In Zeiten der Veränderung, des Druckes, der Komplexität, der Verwirrung sollte wenigstens eine Domäne/eine Zone unseres Lebens stabilsein. Was für Zonen? Menschen: soziales Netz, PartnerIn, Freunde Ideen, Werthaltung: Lebensphilosophie, Spiritualität, Religiosität Plätze: ein Ort der Stille, eine Ecke Dinge: Erinnerungsstücke, Kleidungsstücke Organisationen: Vereine 10
Selbst- und Mitverantwortung Hilfreich für die Bewältigung Ein starkes Gefühl der: Verstehbarkeit: Anforderungen/ Veränderungen werden verstanden, können eingeordnet und erklärt werden. Handhabbarkeit: Anforderungen werden als lösbar angesehen, stellen eine ausgewogene Belastung dar und führen nicht zur Unter- noch Überforderung. Sinnhaftigkeit: Anforderungen werden als sinnvoll und bedeutsam angesehen, die Anstrengung und Engagement lohnen (in Anlehnung an Antonovsky 1997). Worauf es letztlich ankommt Charakterstärken Personen mit vier und mehr Charakterstärken haben höhere Werte im positiven Erleben, haben mehr Freude an ihrem Leben, empfinden es als sinnvoller und befriedigender. Resiliente Personen besitzen bis zu sieben Charakterstärken, die besonders typisch für sie sind => SIGNATURSTÄRKE! 11
Charakterstärken Der gute Mix macht s! Mässigung Mentale Stärke Selbstregulation(-kontrolle), Wille Mut und Gerechtigkeit Selbstverantwortlichkeit, Ausdauer, Emotionale Stärke Ehrlichkeit, Tapferkeit, Tatendrang, Fairness Liebe/Menschlichkeit Fähigkeit zu lieben und geliebt zu werden: Interpersonale Stärke Freundlichkeit, Mitgefühl, soziale Intelligenz Weisheit und Wissen Neugier, Urteilsvermögen, Aufgeschlossenheit, Kognitive Stärke Weitsicht Kreativität Transzendenz Spirituelle Stärke Sinn für das Schöne, Dankbarkeit, Hoffnung, Humor, Religiosität und Spiritualität Charakterstärken können erlernt werden. Und: Es ist nie zu spät! You can tstopthewaves, but you canlearntosurf! Es ist nie zu spät! 12
Literatur Perrig-Chiello, P. (2015). Vulnerabilität und Wachstum über die Lebensspanne. In Schweizerisches Rotes Kreuz (Hrsg.), Wege aus der Verletzlichkeit. Reihe Gesundheit und Integration Beiträge aus Theorie und Praxis. Zürich: Seismo Verlag (pp. 21-49). Perrig-Chiello, P. (2012). Zeiterleben und Zeitgestaltung in biographischen Übergangsphasen.Der Mensch im Spannungsfeld zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Anforderungen In R. Kunz & I. Noth(Hrsg.). Nachdenkliche Seelsorge seelsorgliches Nachdenken (pp. 311-326). Göttingen: Vandenhoeck& Ruprecht. Perrig-Chiello, P. (2011). Lebenslange Entwicklung: Selbstverantwortlichkeit und Schicksal. In I. Noth, C. Morgenthaler & K.J. Greider(Eds) Pastoralpsychologie und Religionspsychologie im Dialog. Stuttgart. Kohlhammer; pp.169-183. Perrig-Chiello, P., Knöpfli, B., Hutchison, S. (2016). Vulnerability following a critical life event: temporary crisis or lasting distress? A psychological controversy and its methodological implications. In M. Oris, C. Roberts, D. Joye, & M. Ernst Staehli (Eds.), Surveying human vulnerabilities across the life course(pp. In Press). Dordrecht, The Netherlands: Springer. 13