2 Grundprinzipien der Pflegeversicherung Die soziale Pflegeversicherung ist geprägt von humanitären Grundsätzen. Die pflegebedürftigen Menschen sollen darin unterstützt werden, trotz ihres Hilfebedarfes ein möglichst selbstständiges und selbstbestimmtes Leben unter Beachtung der Menschenwürde zu führen. Auch der Gefahr der Vereinsamung soll im Rahmen der Berücksichtigung der Bedürfnisse nach Kommunikation entgegengewirkt werden, wenngleich diesbezüglich keine eigenständige Leistung im Gesetz vorgesehen ist. Neben dem Respektieren religiöser Bedürfnisse und geschlechtsspezifischer Unterschiede soll bei Menschen mit Migrationshintergrund nach Möglichkeit dem Wunsch nach einer kultursensiblen Pflege Rechnung getragen werden. Besondere Würdigung und Unterstützung kommt der Pflege innerhalb der Familie und in häuslicher Umgebung des Pflegebedürftigen zu. 1 SGB XI Soziale Pflegeversicherung (4a) In der Pflegeversicherung sollen geschlechtsspezifische Unterschiede bezüglich der Pflegebedürftigkeit von Männern und Frauen und ihrer Bedarfe an Leistungen berücksichtigt und den Bedürfnissen nach einer kultursensiblen Pflege nach Möglichkeit Rechnung getragen werden. 2 Selbstbestimmung (1) Die Leistungen der Pflegeversicherung sollen den Pflegebedürftigen helfen, trotz ihres Hilfebedarfes ein möglichst selbstständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht. Die Hilfen sind darauf auszurichten, die körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte der Pflegebedürftigen wiederzugewinnen oder zu erhalten. (2) Wünsche der Pflegebedürftigen nach gleichgeschlechtlicher Pflege haben nach Möglichkeit Berücksichtigung zu finden. 19
(3) Auf die religiösen Bedürfnisse der Pflegebedürftigen ist Rücksicht zu nehmen. 11 Rechte und Pflichten der Pflegeeinrichtungen (1) Die Pflegeeinrichtungen pflegen, versorgen und betreuen die Pflegebedürftigen, die ihre Leistungen in Anspruch nehmen, entsprechend dem allgemein anerkannten Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse. Inhalt und Organisation der Leistungen haben eine humane und aktivierende Pflege unter Achtung der Menschenwürde zu gewährleisten. (2) Dem Auftrag kirchlicher und sonstiger Träger der freien Wohlfahrtspflege, kranke, gebrechliche und pflegebedürftige Menschen zu pflegen, zu betreuen, zu trösten und sie im Sterben zu begleiten, ist Rechnung zu tragen. 28 Leistungsarten, Grundsätze (4) Die Pflege soll auch die Aktivierung des Pflegebedürftigen zum Ziel haben, um vorhandene Fähigkeiten zu erhalten und, soweit dies möglich ist, verlorene Fähigkeiten zurückzugewinnen. Um der Gefahr einer Vereinsamung des Pflegebedürftigen entgegenzuwirken, sollen bei der Leistungserbringung auch die Bedürfnisse des Pflegebedürftigen nach Kommunikation berücksichtigt werden. Gesetzesauszug: Humanitäre Grundsätze des SGB XI 2.1 Grundsätze der Pflegeversicherung Die Pflegeversicherung sieht Leistungen in den Bereichen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung sowohl für die häusliche als auch für die teil- und vollstationäre Pflege vor. Diese werden unabhängig von Einkommen und Vermögensverhältnissen des Versicherten gewährt. Die gesetzlichen Voraussetzungen für das Vorliegen von Pflegebedürftigkeit sind nach 14 SGB XI durch einen stringent gefassten Kriterienkatalog von gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf 20
des täglichen Lebens gekennzeichnet. Der diesbezüglich definierte täglich anfallende Hilfebedarf muss dabei eine zeitliche Schwelle überschreiten und auf Dauer, d.h. voraussichtlich für mindestens 6 Monate bestehen. Zur Vermeidung von Missverständnissen ist zu beachten, dass der im Pflegeversicherungsgesetz gebrauchte Begriff der Pflegebedürftigkeit ( 14) letztendlich nur der Bestimmung der anspruchsberechtigten Personen dient und nicht mit entsprechenden teilweise gleichlautenden Begriffen aus der pflegerischen Praxis oder der Pflegewissenschaft in Konkurrenz steht. Eine wesentliche Prämisse ist die Aktivierung des Pflegebedürftigen im Rahmen seiner Möglichkeiten, um dessen noch vorhandene Fähigkeiten zu erhalten oder bereits verlorengegangene Fähigkeiten zurückzugewinnen. Dementsprechend findet in mehreren Stellen des Gesetzestextes der Terminus aktivierende Pflege Verwendung. Der pflegebedürftige Mensch soll Hilfe und Unterstützung unter Berücksichtigung größtmöglicher Selbstständigkeit erhalten. Er soll selbst erledigen, was ihm noch möglich ist. Eine Überversorgung im Sinne einer Passivierung des Pflegebedürftigen ist nicht Ziel des Gesetzes. Dem möglichen Interessenskonflikt vollstationärer Pflegeeinrichtungen zwischen aktivierender Pflege und eigenen wirtschaftlichen Interessen versucht der Gesetzgeber durch die Zahlung eines Betrages von 1.536 Euro durch die Pflegekasse an die Einrichtung zu begegnen, falls sich der pflegerische Hilfebedarf des Bewohners aufgrund aktivierender oder rehabilitativer Maßnahmen für die Dauer von mindestens 6 Monaten pflegestufenrelevant mindert ( 87a SGB XI). Unmissverständlich bringt der Gesetzgeber seine Präferenzen hinsichtlich der Art der Versorgung pflegebedürftiger Menschen zum Ausdruck. Dabei gilt der Grundsatz, dass Prävention und medizinische Rehabilitation Vorrang vor Pflege haben. Im GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz, welches am 1. April 2007 in Kraft getreten ist, wurde die ambulante und stationäre Rehabilitation von einer Ermessensleistung in eine Pflichtleistung der gesetzlichen Krankenversicherung umgewandelt. Weiterhin wurde festgelegt, dass ambulante Leistungen der Rehabilitation auch in Pflegeheimen zu erbringen sind ( 40 SGB V). 21
Für den Fall, dass die Krankenkasse die Verzögerung der notwendigen Rehabilitationsmaßnahme eines pflegebedürftigen Versicherten zu vertreten hat, ist mit Inkrafttreten des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes eine Ausgleichszahlung von der Kranken- zur Pflegekasse in Höhe von 3.072 Euro vorgesehen ( 40 Abs. 3 SGB V). Weiterhin wird der häuslichen Pflege Vorrang vor Pflege in teilstationären Einrichtungen und dieser wiederum Vorrang vor vollstationärer Pflege eingeräumt. 3 Vorrang der häuslichen Pflege Die Pflegeversicherung soll mit ihren Leistungen vorrangig die häusliche Pflege und die Pflegebereitschaft der Angehörigen und Nachbarn unterstützen, damit die Pflegebedürftigen möglichst lange in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können. Leistungen der teilstationären Pflege und der Kurzzeitpflege gehen den Leistungen der vollstationären Pflege vor. Gesetztesauszug: Grundsatz Ambulant vor stationär 5 Vorrang von Prävention und medizinischer Rehabilitation (1) Die Pflegekassen wirken bei den zuständigen Leistungsträgern darauf hin, dass frühzeitig alle geeigneten Leistungen der Prävention, der Krankenbehandlung und zur medizinischen Rehabilitation eingeleitet werden, um den Eintritt von Pflegebedürftigkeit zu vermeiden. (2) Die Leistungsträger haben im Rahmen ihres Leistungsrechts auch nach Eintritt der Pflegebedürftigkeit ihre Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und ergänzenden Leistungen in vollem Umfang einzusetzen und darauf hinzuwirken, die Pflegebedürftigkeit zu überwinden, zu mindern sowie eine Verschlimmerung zu verhindern. 31 Vorrang der Rehabilitation vor Pflege (1) Die Pflegekassen prüfen im Einzelfall, welche Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und ergänzenden Leistungen geeignet und zumutbar sind, Pflegebedürftigkeit zu überwinden, zu mindern oder ihre Verschlimmerung zu verhüten. 22
(3) Wenn eine Pflegekasse durch die gutachterlichen Feststellungen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung ( 18 Abs. 6) oder auf sonstige Weise feststellt, dass im Einzelfall Leistungen zur medizinischen Rehabilitation angezeigt sind, informiert sie unverzüglich den Versicherten sowie mit dessen Einwilligung den behandelnden Arzt und leitet mit Einwilligung des Versicherten eine entsprechende Mitteilung dem zuständigen Rehabilitationsträger zu. Die Pflegekasse weist den Versicherten gleichzeitig auf seine Eigenverantwortung und Mitwirkungspflicht hin. Soweit der Versicherte eingewilligt hat, gilt die Mitteilung an den Rehabilitationsträger als Antragstellung für das Verfahren nach 14 des Neunten Buches. Gesetztesauszug: Grundsatz Prävention und Rehabilitation vor Pflege Wie auch in der gesetzlichen Krankenversicherung gilt auch für alle Leistungen der sozialen Pflegeversicherung das Wirtschaftlichkeitsgebot ( 29 SGB XI). 29 Wirtschaftlichkeitsgebot (1) Die Leistungen müssen wirksam und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht übersteigen. Leistungen, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, können Pflegebedürftige nicht beanspruchen, dürfen die Pflegekassen nicht bewilligen und dürfen die Leistungserbringer nicht zu Lasten der sozialen Pflegeversicherung bewirken. Gesetzesauszug: Wirtschaftlichkeitsgebot Im Gegensatz zu den Erwartungen vieler Menschen entspricht die Grundkonzeption der sozialen Pflegeversicherung einer Teilabsicherung bei eingetretener Pflegebedürftigkeit. Entsprechend der vorliegenden Pflegestufe und Wahl der Versorgungsform werden Leistungen bis zu festgeschriebenen Höchstbeträgen gewährt. Häufig wird dafür leider auch von Fachleuten die zwar prägnante, aber ethisch unpassende Bezeichnung Teilkaskoversicherung verwendet. Pflegestufe I wurde im Gesetzestext als erhebliche Pflegebedürftigkeit definiert. Gerade bei beginnender Pflegebedürftigkeit liegt nicht selten der Hilfebedarf unterhalb dieser Schwelle. In diesen Fällen erachtet es der Gesetzgeber 23
für die Bürger als zumutbar, notwendige pflegerische Leistungen sowie die Hilfe in der hauswirtschaftlichen Versorgung aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Dies trifft auch für den Fall zu, dass der Bewohner eines Pflegeheims die Voraussetzung für die Anerkennung von Pflegebedürftigkeit nach SGB XI nicht erfüllt. In diesem Fall muss er für die Heimkosten selbst aufkommen. Ist der Betroffene aufgrund mangelnder Einkommens- und Vermögensverhältnisse dazu nicht in der Lage, hat er die Möglichkeit, Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII zu beantragen. Grundsätzlich werden Leistungen der Pflegeversicherung mit Ausnahme befristeter Auslandsaufenthalte nur im Inland erbracht. Ausnahmen bilden die Länder der Europäischen Union und der Schweiz sowie andere benannte Staaten. 2.2 Die Versicherten Nach 1 SGB XI besteht eine Versicherungspflicht für alle gesetzlich krankenversicherten Personen einschließlich der freiwillig Versicherten in der gesetzlichen Pflegeversicherung. Privat Krankenversicherte sind verpflichtet, eine private Pflegeversicherung abzuschließen. 2.3 Träger der sozialen Pflegeversicherung Träger der Pflegeversicherung sind die Pflegekassen. Bei jeder Krankenkasse ist eine Pflegekasse zu errichten ( 46 SGB XI). Es handelt sich dabei um Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung. Die Pflegekassen sind für die Sicherstellung der pflegerischen Versorgung ihrer Versicherten verantwortlich ( 12 SGB XI). Zur Erfüllung dieses Auftrages schließen sie Versorgungsverträge mit den Trägern von Pflegeeinrichtungen und sonstigen Leistungserbringern ab ( 69 SGB XI). Darüber hinaus nutzen nach dem Willen des Gesetzgebers die Pflegekassen das Instrument der integrierten Versorgung und wirken zur Sicherstellung der haus-, fach-, und zahn- 24