Beitrag: Arbeitsplätze für Flüchtlinge - Haben wir das geschafft?

Transkript

1 Manuskript Beitrag: Arbeitsplätze für Flüchtlinge - Haben wir das geschafft? Sendung vom 6. September 2016 von Anke Becker-Wenzel und Tine Kugler Anmoderation: Wir schaffen das, behauptete die Kanzlerin vor einem Jahr. Das Ausrufungszeichen war hinter dem Satz deutlich zu hören. Und auch die deutsche Wirtschaft gab ihm Nachdruck. Fachkräftemangel, fast eine Million unbesetzte Stellen, schon aus Eigeninteresse waren ihr Flüchtlinge willkommen. Unsere Reporterinnen Anke Becker-Wenzel und Tine Kugler besuchten damals Flüchtlinge und Firmen und waren jetzt, ein Jahr später, erneut bei ihnen. Die Bilanz ihrer Begegnungen: Hinter den Satz Wir schaffen das gehört bislang ein Fragezeichen. Text: Ahmad hat es geschafft: Er arbeitet als Beifahrer bei Allgäu Medical, einem mittelständischen Fahrdienst. 42-Stunden-Woche, Mindestlohn: 8,50 Euro. Zusammen mit seinem Allgäuer Kollegen bringt er Patienten zum Arzt oder ins Krankenhaus. Ahmad stammt aus Afghanistan, seit 2015 lebt er in Deutschland und ist gerade umgezogen. Nach Feierabend zeigt er uns sein neues Zuhause. O-Ton Ahmad, Beifahrer: Es war ein gutes Jahr für mich. Ich habe eine gute Arbeit bei Allgäu Medical Service und jetzt ich habe eine eigene Wohnung mit einem Freund. Vor einem Jahr war Frontal21 schon einmal bei Ahmad. Damals lebte er noch in einem Container, war auf der Suche nach Arbeit. O-Ton Frontal 21-Sendung am : Eine Stelle ist so wichtig, um hier etwas aufzubauen, meine Wünsche zu erfüllen. Eine Stelle hat er, jetzt hofft er, als Asylberechtigter auch dauerhaft anerkannt zu werden.

2 O-Ton Ahmad, Beifahrer: Ich möchte gerne hier bleiben in Deutschland und mir eine sichere Zukunft aufbauen. Allgäu Medical bietet Ahmad und vier weiteren Asylbewerbern die Chance dazu. Doch die Integration ist viel aufwändiger als gedacht. O-Ton Wolfgang Strahl, Allgäu Medical: Dass man natürlich auch als Arbeitgeber besonders gefordert ist mit neuen Mitarbeitern, die sprachliche Probleme haben, aber auch mit Kultur, mit Deutschland, mit Behördengängen, mit Krankenkassen und allem Drum und Dran einfach zurechtkommen müssen. Das ist eine große Herausforderung, wenn man das neben dem Tagesgeschäft meistern muss. Viele Mittelständler machen sich die Mühe, die meisten großen Konzerne aber nicht: Bislang sind laut Umfragen bei den 30 Dax- Unternehmen weniger als 100 Flüchtlinge angestellt, davon allein 50 bei der Post. Dabei gibt es deutschlandweit eine Million offene Stellen. Im Hotel- und Gaststättengewerbe werden Mitarbeiter dringend gesucht, zum Beispiel in der Pfalz. O-Ton Frank Darstein, Hotelier: Wir haben Kollegen, die haben nur noch am Wochenende auf, weil einfach die Arbeitskräfte fehlen. Hotelier Darstein nahm im vergangenen Jahr an der Initiative 300 teil. O-Ton Frank Darstein, Hotelier: Okay? Alles klar, so machen wir das. 300 Ausbildungsplätze speziell für Flüchtlinge waren angeboten. Doch 90 Prozent der Plätze sind unbesetzt geblieben. Und einige, die angefangen haben, haben ihre Lehre schon wieder geschmissen. Vor einem Jahr berichtete Frontal 21 über einen jungen Mann aus Eritrea. O-Ton Frontal 21-Sendung am : Ich möchte eine Ausbildung machen, diese Hotelfachmann. Ein Jahr hat Fesehaye durchgehalten. Doch dann brach er die Lehre ab, Hotelfachmann war ihm nicht genug. O-Ton Frank Darstein, Hotelier: Mir ist der Fesehaye sehr sympathisch gewesen, immer

3 noch. Und er hat jetzt aber seine Perspektiven halt geändert, er würde gerne Elektronik studieren. Was ich mir persönlich nicht vorstellen kann, da der Fesehaye in Eritrea keine Schulbildung in dem Sinn bekommen hat. Aber ich konnte da einfach nicht mehr auf ihn einwirken, er war der festen Überzeugung, dass in Deutschland alles möglich ist. Stattdessen jobbt Fesehaye jetzt als Zeitungszusteller. Von seiner Projektbetreuerin der Stadt Landau erhofft sich der anerkannte Asylbewerber Unterstützung, damit sich sein Berufswunsch doch noch erfüllt. O-Ton Fesehaye, 21 Zeitungszusteller: Das war mein Ziel. Ich mag Elektronik. Und das ist mein richtiger Traum, Elektronik zu machen. O-Ton Katarzyna Potepa Haldzinska, Beschäftigungspilotin, Stadt Landau: Manche haben, muss man schon sagen, zu große Erwartungen und aus unserer Erfahrung, viele Personen, die an verschiedenen Projekten teilnehmen, leider, nachdem sie anerkannt werden, aufhören, weil sie denken, sie können dann doch mehr erreichen in ganz anderen Bereichen. Wie Fesehaye haben viele Flüchtlinge überzogene Erwartungen bei häufig geringem Bildungsstand und geringer Qualifikation. 76 Prozent der Flüchtlinge sind männlich, fast die Hälfte 47 Prozent - ist jünger als 30 Jahre. 26 Prozent haben keinen Hauptschulabschluss, 74 Prozent keine formale Ausbildung und nur neun Prozent eine akademische Ausbildung. Aber auch die, die qualifiziert hier ankommen, machen die Erfahrung, es ist viel schwerer als gedacht. Doktor Mohamad Chanan war 20 Jahre im syrischen Aleppo Kinderarzt. Jetzt ist er Praktikant, darf zwar mithelfen, aber kaum etwas alleine machen, solange ihm die Zulassung fehlt. O-Ton Delia Schoemaker, Ärztin: Es kostet natürlich viel Zeit. Zeit, die wir im alltäglichen Ablauf kaum haben. Die Erwartungen an den neuen Kollegen waren hoch: Vor einem Jahr suchten sie in der Landarztpraxis dringend einen vierten Arzt. O-Ton Frontal21-Sendung am : Vor allen Dingen, was den akuten Erkrankungsbereich angeht, da bräuchten wir dringend jemanden, der uns da unterstützt.

4 Doktor Chanan kam da wie gerufen. Doch um selbständig zu praktizieren, fehlt auch noch die fachliche Sprachprüfung. O-Ton Mohamad Chanan, Kinderarzt: Vielleicht brauche ich ein, zwei Monate und dann kann ich bestehen diese Prüfung. Und natürlich kann nach dieser Prüfung als Assistenzarzt in der Praxis arbeiten. Professor Pott übt ehrenamtlich Patientengespräche mit syrischen Ärzten wie Doktor Chanan. Es gibt zu wenig medizinische Intensivsprachkurse. Er will den syrischen Kollegen helfen, die vor Krieg und Zerstörung geflohen sind und hier den schwierigen Neuanfang wagen. O-Ton Prof. Gerhard Pott, Facharzt für Innere Medizin: Ich bewundere, dass die so ruhig sind, meine Kollegen, und dass die das durchziehen. O-Ton Frontal 21: Was ist so kompliziert? O-Ton Prof. Gerhard Pott, Facharzt für Innere Medizin: Ein anderes Land, eine andere Sprache, das Akzeptieren von Normalität, während das eigene Land in einem modernen Krieg zerstört wird. Der Gegensatz könnte kaum größer sein: In Deutschland spielt Mohamad Chanan nach Feierabend Volleyball im Verein, manchmal geht seine Tochter mit. Die Familie fühlt sich wohl in der Gemeinde - endlich in Sicherheit. Doch Syrien ist immer da, im Kopf die Bilder von Tod und Zerstörung. O-Ton Mohamad Chanan, Kinderarzt: Die Nachrichten, besonders in letzter Zeit, sind sehr schlecht, viele von meinen Verwandten haben Verletzungen. Deshalb bin ich immer traurig, aber das ist unser Schicksal. Arbeitsministerin Andrea Nahles besucht eine niedersächsische Kirchengemeinde. Unternehmer, Jobvermittler, Flüchtlingshelfer - sie alle fordern mehr Unterstützung: Es fehlen Sozialpädagogen und Sprachkurse, wie überall. O-Ton Andrea Nahles, SPD, Bundesarbeitsministerin: Versuchen Sie mal Deutschlehrer zu finden und so weiter. Das heißt, wir haben einfach ein Mengenproblem und ein Kapazitätsproblem. Und es tut mir sehr leid, ja, weil wir uns bemühen und es so lange trotzdem dauert. Ihre Bilanz ist ernüchternd. O-Ton Andrea Nahles, SPD, Bundesarbeitsministerin: Ich muss ganz ehrlich sagen, wer denkt, dass das nächstes

5 Jahr geschafft ist, der liegt da falsch. Wir rechnen eher mit fünf Jahren, um jemanden wirklich einen festen Ort - auch in der Arbeitswelt, in der Ausbildung - in diesem Land zu organisieren. Denn von den Flüchtlingen sind immer mehr als Arbeitssuchende registriert: rund im vergangenen Monat. Um sie schneller zu vermitteln, werden die Kompetenzen der Flüchtlinge schon bei der Ankunft erfasst, wie hier in Trier. Das Projekt gibt es seit einem Jahr. Doch trotz aller Mühe: Von im Landkreis registrierten Flüchtlingen haben die wenigsten einen Job. O-Ton Rüdiger Schneider, Jobcenter Trier-Saarburg: Wir haben Einzelfälle, etwa 20 an der Zahl, die haben einen Job gefunden, das sind Jobs im Helferbereich, das sind Jobs in der Gastronomie, bei uns im Weinbau, auch befristete Jobs, auch das ist zu begrüßen, aber letzten Endes muss man abwarten, muss qualifizieren, muss ausbilden, bis hin ins Studium rein. O-Ton Heribert Wilhelmi, Agentur für Arbeit Trier: Ich glaube, sowohl Unternehmer, wie aber auch Flüchtlinge haben geglaubt, es geht schneller. Wir haben die Erfahrung gemacht, sowohl positive wie negative, dass wenn wir die Betriebe frühzeitig darüber informieren, dass es ein hartes Stück Arbeit sein wird zu integrieren, dann haben wir auch eine andere Bereitschaft. Wir besuchen Mohamad Al-Homsi. Der Geschäftsführer einer Maschinenbaufirma floh vor einem Jahr mit seiner Familie aus Damaskus, war in Trier einer der ersten im Projekt. Damals dachte er noch, dass ihm der Neustart in Deutschland schneller gelingt. O-Ton Frontal 21-Sendung am : Deutschland ist die Nummer Eins bei Maschinenbau, Mechanik, Technik - in allem. Und ich hoffe, mein Glück in diesem Land zu machen, ja. In Syrien handelte Al-Homsi mit Generatoren. Hier fängt er wieder ganz von vorne an: Integrationskurs, Praktikum, Sprachschule. O-Ton Mohamad Al-Homsi, Kriegsflüchtling: In Deutschland isst man drei Mal am Tag. Er ist dankbar für die Starthilfe, will aber so schnell wie möglich wieder selbst für sich und seine Familie sorgen können. O-Ton Mohamad Al-Homsi, Kriegsflüchtling: Ich möchte nicht vom Jobcenter Geld haben, okay. Ich

6 möchte haben Geld von selbst, von meiner Arbeit. Ich habe einen Plan, ich habe ein Ziel. Alles, alles für meiner Kinder Zukunft. Geflüchtet vor Krieg und Terror. Menschen, die sich auf das Leben und die Arbeit in Deutschland nicht vorbereiten konnten. - Sie alle brauchen Zeit, um tatsächlich anzukommen. Abmoderation: Und die Gesellschaft braucht Geduld. Anstatt aber die Bürger mitzunehmen auf den langen, harten Weg, hat die Bundesregierung die Härten allzu lang beschönigt. Jetzt, das lehren neun Landtagswahlen in Folge, gewinnt die Ungeduld - und der Protest. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. Die in den Beiträgen dargestellten Sachverhalte entsprechen dem Stand des jeweiligen Sendetermins.