Anredeformen in den französisch-basierten Kreolsprachen
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- Norbert Berg
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1 Ludwig-Maximilians-Universität München Institut für Romanische Philologie HS für franz. Sprachwissenschaft: Anredeformen in den romanischen Sprachen PD Dr.phil.habil.Schäfer-Prieß, PD Dr.phil.habil.Merlan Referentinnen: Nadja Barasi, Victoria Morin WiSe 2010/11 am Anredeformen in den französisch-basierten Kreolsprachen I. Geschichtliche Entwicklung (nach COFFEN (2002), ) Seit 16. Jh.: europ. Großmächte nehmen große Gebiete auf ganzen Welt in Besitz Großteil der eroberten Länder (= Kolonien) nehmen afrikan. Sklaven Um Aufstände auf Galeeren/Plantagen zu vermeiden, vermischen Sklavenhändler verschiedene ethnische Gruppen miteinander Siedler bestehen aus 2 Gruppen: a) reiche Europäer, die Unternehmen leiten und Sklavenmarkt finanzieren b) arme, am Rande der Gesellschaft lebende Bevölkerung Dazwischen stehen zunächst Weiße, später Kreolen Koloniale Gesellschaft besteht aus zahlreichen Gruppen unterschiedlichen Ranges und unterschiedlicher Herkunft In folgenden Jahrzehnten: zunehmend mehr Sklaven in Kolonien verkauft Neue Gemeinschaften sociétés de plantation (Chaudenson), im Gegensatz zu sociétés d habitation zu Beginn der Kolonisierung bestehen hauptsächlich aus Sklaven Sklaven: weniger direkter Kontakt zu weißer Bevölkerung und damit einhergehend zu regionalen romanischen Varietäten des 16./17. Jh. II. Begriffsklärung: Kreolsprachen (nach STEIN (1982), 4-11) während Kolonialzeit bilden sich Kreolsprachen heraus Ausgangspunkt der Kreolsprachen: Sprachkontakt zwischen Sprechern zweier bzw. mehrerer Sprachen, um Bedarf einer gemeinsamen Sprache zu entsprechen Pidginsprachen gelten als Vorstufe der Kreolsprachen: Pidginsprache ist im Unterschied zur Kreolsprache keine Muttersprache, d.h. lediglich zur Kommunikation zwischen Sprechern verschiedener Muttersprachen (eine Art lingua franca) genutzt Sprachkontaktsituation während der Kolonialzeit: Sklaven werden zur Arbeit auf Plantagen oder zu sonstiger Gemeinschaftsarbeit aus verschiedenen Regionen, oft sogar aus Übersee (Afrika) zusammengebracht Kommunikationspartner haben keine gemeinsame Sprache Sie verwenden, um sich zu verständigen, die Wörter der Kolonialsprache und fügen diese entweder mit der Grammatik ihrer Muttersprache oder so weit wie möglich ohne jegliche Grammatik zu Sätzen zusammen Die so entstandene Sprache ist eine Pidginsprache Als Superstratsprache des Pidgin gilt die Sprache der Kolonialherren Evolution der Kreolsprachen: Während die Pidginsprache als primäres Kommunikationsmittel zwischen Menschen, die sie lediglich als Zweitsprache verwenden, dient, erlernen die Kinder dieser Generation das Pidgin als Muttersprache Eine so entstandene Sprache heißt Kreolsprache 1
2 III. Sprachliche Entwicklung (nach COFFEN (2002), ) Eine kreolische Standardgesellschaft existiert nicht: wachsendes Verlangen nach gemeinsamem Verständigungsmittel Entstehung eines sprachlichen Codes als Verkehrssprache später: Code kristallisiert sich zur einheimischen Sprache heraus IV. Sprachliche Besonderheiten (Ebd.) Für die Kreolsprache gilt: Eine Kreolsprache hat Muttersprachler. Sie ist aus mehreren Sprachen gemischt, aber die Strukturen ähneln am meisten der Superstratsprache. Das Vokabular erinnert noch deutlich an die europäische Grundsprache. Eine Kreolsprache ist im Hinblick auf die funktionalen Domänen annähernd vollständig (wird allerdings normalerweise nicht zur schriftlichen Kommunikation verwendet und entbehrt insoweit aller Domänen, die davon abhängen). Logischere Konstruktionen werden aus der Superstratsprache übernommen. Sprachliche Unregelmäßigkeiten werden entfernt. Die Grammatik ist einfach, aber Rudimente einer Morphologie sind bereits vorhanden. Dennoch dürfen Kreolsprachen aber nicht einfach nur als Sprachen mit afrikanischer Syntax und romanischem Vokabular bezeichnet werden. Bei der Kreolisierung werden wir mit einer Art Treibhauseffekt konfrontiert: ebenso wie Pflanzen in einem Treibhaus schneller und in größerer Zahl wachsen, als in ihrer natürlichen Umgebung, so geht auch bei der Kreolisierung der Wandel schneller und drastischer von Statten als normalerweise. Die Unterschiede zwischen der Kreolisierung und dem natürlichen Sprachwandel beruhen jedoch nicht auf Gattungsunterschieden, sondern auf Unterschieden hinsichtlich der Anzahl. Aber sogar in Treibhäusern kann man Tomatensamen und Salatsamen nicht getrennt ziehen. (nach PLAG in COFFEN (2002), 265) V. Etymologie des Wortes Kreole (frz. créole) (nach STEIN (1982), 10 f.) Das Wort Kreole (frz. créole) leitet sich von dem Verb port. criar ( (er)schaffen, nähren, großziehen ) ab. Es trägt die Bedeutung in den Kolonien von Amerika geboren. Das Wort criollos als Bezeichnung für die kreolische Bevölkerung taucht erstmals in spanischen Texten auf. Von dort aus hält das Wort Einzug in das Französische und die anderen europäischen Sprachen. Als Kreole werden sowohl die weißen Europäer als auch der afrikanischen Sklaven bezeichnet. Später bezeichnet frz. criole (> frz. créole 1 ) nicht nur das kreolische Volk, sondern alles, was den Kolonien entstammt und nicht von außen eingeführt wurde. 1 In der Form créole taucht das Wort erstmals in der 1732 erschienenen Auflage des Dictionnaire de Trévoux auf. 2
3 VI. Allgemeines zum französisch-basierten Kreolisch (nach COFFEN (2002), ) Nur wenige Anredepronomen/-wörter in kreolischen Grammatiken Möglicher Grund: morphologische/syntaktische Charakteristika der Kreolsprachen sind im Vergleich zu denen der romanischen Sprachen sehr eigentümlich und verschieden und drängen Anredeformen in den Hintergrund Dennoch zeigt sich: einige Kreolsprachen kodifizieren Unterscheidung zw. T und V und kennen Gebrauch von höflichen Anredepronomen Jedes Kreolisch verfügt über pronominales System, das etymologisch mehr oder weniger bunt gemischt ist. pronominales System kann stark reduziert sein, vgl.: a) Seychellen-Kreolisch: zot = Pronomen der 2. / 3. Pers. Pl. b) Haitianisch: nou = Pronomen der 1. / 2. Pers. Pl. pronominales System kann komplexer sein als romanische Sprache, wenn es typische Züge vom afrikanischen Substrat übernommen hat Pronominalsystem, das von romanischer Sprache abgeleitet ist, kann sich also in original-kreolisches System verwandeln. Pronominalsystem kann zwischen vertrauter und höflicher Anrede differenzieren Manche Kreolsprachen verfügen über feiner differenziertes System von Anredepronomen als das des Superstrats: Beispiel: Tay Bôi (3 Anredepronomen im Singular): a) das T zwischen Gleichgestellten b) das T von Herr zu Diener c) das V von Diener zu Herr VII. Französisch-basiertes Kreolisch (Ebd.) Unter romanisch basierten Kreolsprachen, sind die des Französischen am häufigsten Sie haben sich entwickelt: a) im Karibikraum b) im Gebiet der Inseln La Réunion, Mauritius, Rodrigues Ihre verschiedenen gemeinsamen Züge haben stets Debatten hervorgerufen bzgl. Genese/Entwicklung der Kreolsprachen Heute: französisch-basierte Kreolsprachen unter anderem in Louisiana, Haiti, Antillen, Französisch-Guyana, La Réunion, Mauritius, Seychellen Auf Haiti: weltweit größte kreolophone Gemeinschaft Jede kreolische Varietät: mehr oder weniger nah am europ. Französisch, entsprechend sozio-historischer Voraussetzungen, in denen sie entwickelt wurde Bsp: La Réunion: französischer Teil der Bevölkerung hat lange überwogen => franz. Sprache immer stark repräsentiert => Kreolisch recht nah am Französischen Bsp: Mauritius: mehr versklavte als französischsprachige Bevölkerung => Kreolisch weiter weg von europ. Französisch morphosyntaktische Merkmale aller Varietäten: unbetonte Subjets-/Objektspronomen, durch die die betonten frz. Pronomen/mit autres gebildete Pronomen ersetzt wurden 1. Kreolisierungsphase: betonte Formen werden überall verallgemeinert 2. Kreolisierungsphase: andere Differenzierungen zw. Subjekts-/Objektspronomen werden vorgenommen 3
4 VIII. Pronomen der 2. Pers. Sg. (tu /toi): to in Guyana, Louisiana, Mauritius ou (von vous abgeleitet) auf karibischen Inseln, La Réunion, Seychellen IX. Pronomen der 2. Pers. Pl. (von vous/vous autres abgeleitet): zot in Guyana, Louisiana, auf Antillen, La Réunion, Mauritius, Rodrigues höfliche Anrede durch von vous abgeleitete Formen X. Anredepronomen in Louisiana (siehe auch Tabelle S. 7) 2. Pers. Pl. vu gegenüber älterer Person/Schwarzer gegenüber Weißem 2. Pers. Pl. vuzot als Plural-V-Form weniger gebräuchlich Bsp.: Schwarzer, der Juden anspricht: M a don vu en pjas pu li = Je vais vous donner un dollar pour ça = Dafür werde ich ihnen einen Dollar geben. vu auch gegenüber fremder Person/Person, die Sprecher länger nicht gesehen hat ansonsten: to/ twa als Ergänzung Twa epi Peewee, zot parl pa e ta kreol dõ la mezõ = Toi et Peewee, vous ne parlez pas beaucoup créole chez vous = Du und Peewee, ihr sprecht nicht viel Kreolisch zu Hause XI. Anredepronomen auf den Antillen 2. Pers. Sg. to oft durch ou ersetzt (vertr./höfl. Anredepronomen) 2. Pers. Pl. zot XII. Anredepronomen auf den Seychellen 2. Pers. Sg. u (vertr. und höfl. Anredepronomen im Sg.) U a vin kot mwa demê? = Tu viendras/vous viendrez chez moi demain? = Wirst du /Werden Sie morgen zu mir kommen? XIII. Anredepronomen auf den Inseln im Indischen Ozean 2. Pers. Sg.: to (vertraut), u (höflich) 2. Pers. Pl. zot Sonderfall: Mauritius: bald mehr Sklaven als Europäer größtenteils nicht-französische mauritianische Gesellschaft bildet kreolische Varietät (weit von Standardfranzösisch entfernt, an Substratsprachen orientiert) starke Präsenz indischer Sprachen verkompliziert sprachliche Situation Engl. und Chines. verhindern Näherkommen von Französisch und Kreolisch bzgl. Lexik und Struktur 4
5 ineinandergefügte Diglossie ( diglossie emboîtée ): Diglossie zw. Englisch/Französisch und Kreolisch/Bhojpuri. 2. Pers. Sg. to 2./3. Pers. Pl. zot mehr Pronomen als im Französischen bzgl. inklusiver/exklusiver Formen: nu/nu-tu/nuzot des Pronomens banla (wahrscheinlich aus la bande-là): abwesende, bereits spezifizierte Menschengruppe, von der sich Sprecher ausschließt, und das zum Pronomen der 3.Pers. Pl. zot und zot-tu hinzukommt des u (höflich) Si to na-pas dônne-moi la-peau to bourrique, mo pas pou marié = Si tu ne me donnes pas la peau de ton âne, je refuse de me marier = Wenn du mir nicht die Haut von deinem Esel gibst, weigere ich mich zu heiraten. Bonzour, Missié, ou na-pas bizin di-moune pou gardien lé-zoie? = Bonjour Monsieur. N avez-vous pas besoin de quelqu un pour garder les oies? = Guten Tag mein Herr, brauchen Sie nicht jemanden, der die Gänse bewacht? Auf La Réunion: vertraute Anredeform (von tu entlehnt) wird von vous entlehnten Formen verdrängt Toué/ t- nur noch selten, um große Vertrautheit/Verachtung auszudrücken XIV. Fazit Sprecher eines französisch-basierten Kreolisch benutzen Anredepronomen, die aus Französischem entlehnt sind Alle Kreolsprachen (außer Réunion-Kreolisch): zot (< vous autres) für 2. Pers. Pl. 2. Pers. Sg.: entweder von tu oder vous entlehnt Wenn 2. Pers. Sg. mit französischem Pronomen tu übereinstimmt: von vous entlehnte Formen bleiben für höfliche Anrede erhalten Wenn 2. Pers. Sg. nicht mit franz. Pronomen übereinstimmt (Antillen, Seychellen, La Réunion): ou (vertraut) => kein eigenes Pronomen für höfliche Anrede, keine pronominale Unterscheidung zw. beiden Anredearten Zot kann zudem in Opposition innerhalb des Pluralparadigmas gebraucht werden, um exklusives wir, bei dem sich Sprecher zu einer Gruppe zählt, von der er einige seiner Gesprächspartner ausschließt, dem inklusiven wir und der 2. Pers. Pl. gegenüberzustellen Zòt rès isi. Nou zòt al sas dilo = Vous autres restez ici. Nous autres, nous allons chercher de l eau = Ihr bleibt hier, wir (anderen) gehen Wasser holen keine orthographische Norm innerhalb der Kreolsprachen (Haitianisch: am weitesten standardisiert, Mauritianisch überhaupt nicht) Anredeformen der Kreolsprachen für gewöhnlich von denen der Superstrate entlehnt (hier dem Französischen) 5
6 XV. Daten und Fakten (nach BOSSONG (2008), ) 1. Kreolsprachige Länder ehemalige franz. Kolonie Eroberung französisch-basiertes Kreol Kl. Antillen (La Martinique /Guadeloupe) um 1630 Antillen-Kreol Französisch-Guyana 1637 Französisch-Guyana-Kreol La Réunion 1640 Réunion-Kreol (Réunionnais) Louisiana 1682 Louisiana-Kreol Haiti 1697 Haitianisch Mauritius 1715 Mauritius-Kreol (Mauricien) Seychellen 1765 Seychellen-Kreol (Seselwa) Franz.-Indochina (Vietnam, Laos, Kambodscha) 1887 Französisch-Kreol 2. Kreolsprachen in der Karibik Sprache Einwohner Primärsprecher Haitianisch Louisiana-Kreol (Black Creole) Guadeloupe-Kreol Martinique-Kreol Französisch-Guyana-Kreol Kreolsprachen im Indischen Ozean Sprache Einwohner Primärsprecher Mauricien mit Rodriguais Réunionnais Seselwa Gesamtheit aller Primärsprecher französischer Kreolsprachen: ca XVI. Die Personalpronomen eine vergleichende Darstellung (nach DAMOISEAU/GESNER (2002), DAMOISEAU (2003), 49 f., VALDMAN (1997)) Französisch Haitianisch Französ.-Guyana-Kreol Louisiana-Kreol 1. Pers. Sg. je mwen mo mo 2. Pers. Sg. tu / on ou to (vertr.) / ou (höfl.) to (vertr.) / vu, ou (höfl.) 3. Pers. Sg. il / elle li i (li) i (li) 1. Pers. Pl. nous nou nou no, nu 2. Pers. Pl. vous nou zot (höfl. / mehrere) zot, uzot (vertr.) / vu, vuzot (höfl.) 3. Pers. Pl. ils / elles yo yé je Bibliographie: Bossong, Georg (2008): Die romanischen Sprachen: Eine vergleichende Einführung, Hamburg. Coffen, Béatrice (2002): Histoire culturelle des pronoms d adresse. Vers und typologie des systèmes allocutoires dans les langues romanes, Paris. Damoiseau, Robert/ Gesner, Jean-Paul (2002): J apprends le créole haitien, Karthala. Damoiseau, Robert (2003): Eléments de grammaire comparée. Français-Créole Guyanais, Guyane u.a. Stein, Peter (1982): Connaissance et emploi des langues à l Ile Maurice, Hamburg. Valdman, Albert (1997): French and Creole in Louisiana, New York. 6
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