Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Theodor Storm: Der Schimmelreiter Eine Teufelspaktgeschichte als realistische Lebensgeschichte. Von Volker Hoffmann
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- Birgit Becker
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1 Eine Teufelspaktgeschichte als realistische Lebensgeschichte Von Volker Hoffmann Storm hat seine letzte und größte Erzählung von Februar 1885 bis Mitte 1886 vorbereitet, im Juli 1886 begonnen und dann nach monatelanger, zuerst arbeits-, später krankheitsbedingter Unterbrechung von Frühjahr 1887 bis zum 9. Februar 1888 niedergeschrieben. Er hat die Niederschrift, teilweise aufgemuntert durch beschönigende Auskünfte der Familie, seiner Todeskrankheit abgerungen. Die Erstveröffentlichung der Erzählung in der Deutschen Rundschau im April und Mai 1888 sah er noch. Die Buchausgabe, der er Worterklärungen für»binnenländische Leser«beifügte und für die er noch selbst Korrektur gelesen hatte, erlebte er nicht mehr; sie erschien im Herbst 1888, Storm war am 4. Juli 1888 gestorben. Der verteufelte Schreib- und Erzählpakt Der Tod ist End- und zugleich Ausgangspunkt für die Erzählung Der Schimmelreiter. Sie endet mit dem Selbstmord des Deichbauers Hauke Haien und dem Untergang seiner Familie in der Flutkatastrophe von Obwohl die Körper der Ertrunkenen auf dem Meeresgrund»in ihre Urbestandteile aufgelöst«werden (144) 1, bedeutet in diesem Fall der Tod nicht das absolute Ende. Der von Hauke Haien geschaffene neue Deich bleibt als Werk für Jahrhunderte stehen (89, 110, 144), und im Volksglauben kehrt der selbstmörderische Werkschaffer als Schimmelreitergespenst an den Ort seiner Tat
2 zurück, um in Sturmnächten als Warnspuk zu dienen (5, 17, 55, 145). Deich und Gespensterglaube sind die materiell-geistige Basis für eine lange Überlieferungskette. Der Deich und der eingedeichte Koog erhalten im Volksmund inoffiziell den Namen nach ihrem Gründer (110, 124, 144, 146). Um den Anspruch, die wahre Lebensgeschichte des Deichbauers zu tradieren, rivalisieren zwei Typen der mündlichen Volksüberlieferung, das»geschwätz«der abergläubischen Unterschicht, die Hauke Haien dämonisiert, wenn nicht verteufelt, und die»überlieferungen verständiger Leute«(75, vgl. 8 f., 144). In der Überlieferungskette folgt etwa siebzig Jahre nach Hauke Haiens Tod der Schulmeister als erster individueller Überlieferungsträger, der aber noch im Bereich der Mündlichkeit bleibt. In einer stürmischen Oktobernacht der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts erzählt er die Lebensgeschichte Hauke Haiens zuerst einer Männerrunde und einem fremden Reiter, der zwei unheimliche Begegnungen mit dem Schimmelreitergespenst hinter sich hat (5 ff.), später den größeren Teil der Geschichte sogar diesem allein (ab 56). Der unbekannte Gast wird, nachdem er den aufgeklärten Schulmeister gezwungen hat, auch aus der Quelle der abergläubischen Unterschichtüberlieferung für seine Erzählung zu schöpfen (9, 75), in der Überlieferungskette der erste Verschrifter der Lebensgeschichte. Spätestens in den dreißiger Jahren lässt er sie drucken, wohl in einem Journal. Ich nenne ihn im Unterschied zu dem Schulmeister-Binnenerzähler den Journalverschrifter. Über die Vermittlung einer Reader s Digest-ähnlichen Zeitschrift lernt schließlich der Endverschrifter als Junge im Haus seiner Urgroßmutter die Geschichte vor 1838 kennen. Er vergisst sie sein Leben lang nicht mehr. Mehr als fünfzig Jahre nach der Lektüre schreibt er sie in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts aus dem Gedächtnis nieder, ohne noch einmal seine damalige Lektürequelle konsultiert zu haben (3). Die über hundertjährige Überlieferungskette verläuft also von kollektiven zu individuellen Trägern und von mündlicher zu schriftlicher Gestaltung. Was damit an
3 Sicherheit und Endgültigkeit gewonnen wird, scheint durch die Vielheit der Überlieferungsträger mit ihren teilweise widersprüchlichen Standpunkten und ihrem in mancher Hinsicht rätselhaften Status wieder gefährdet zu werden. Es lohnt sich, die drei individuellen Überlieferungsträger, den mündlichen Binnenerzähler und die beiden verschriftenden Rahmenerzähler, von denen der Endverschrifter allerdings nur für den Einleitungsabschnitt als Ich-Erzähler verantwortlich zeichnet, näher unter die Lupe zu nehmen. Es fällt auf, dass der Binnenerzähler viel ausführlicher charakterisiert wird als die beiden Rahmenerzähler. Vom Schulmeister erfahren wir neben zahlreichen Merkmalen sogar die Lebensgeschichte in knapper, aber kontinuierlicher Form (8). Der Journalverschrifter bleibt dagegen fast ganz im Dunkeln, und der Endverschrifter erwähnt nur zwei weit auseinander liegende Zeitpunkte seines Lebens (3). Ein weiterer Unterschied kommt hinzu. Im Gegensatz zu dem mündlichen Binnenerzähler, von dessen langjähriger Stoffsammlung (74 f.) wir ebenso explizit hören wie von seiner nächtlichen Wiedergabe des Erzählstoffs, erfahren wir von dem Journalverschrifter nur, wie er von dem Schulmeister den Erzählstoff mitgeteilt erhält, mit keinem Wort aber, wo, wann und wie er ihn schriftlich gestaltet. Auch der Endverschrifter scheint mehr Gewicht auf die Stoffrezeption im Haus seiner Urgroßmutter als auf die näheren Umstände des gegenwärtigen Verschriftungsaktes, den er mit»berichten«umschreibt und für den er»keinen äußeren Anlaß«(3) anzugeben weiß, zu legen. Mit der Verschriftung und Rahmung der mündlichen Binnengeschichte werden die Erzähler geheimnisvoll. Haben sie etwas zu verbergen, das den Argwohn der auf die Mündlichkeit beschränkten Unterschicht bestätigen könnte, dass das Schreiberhandwerk des Teufels ist (vgl. 30)? Haben sie sich in der Person des Schulmeisters auf einen Gewährsmann eingelassen, der samt seiner Geschichte zweifelhafter Herkunft ist? Stecken sie vielleicht am Ende alle drei unter einer Decke
4 mit dem einzigen Unterschied, dass der Binnenerzähler sich weder über seine Person noch über seinen Erzählstoff richtig im Klaren ist, während die Rahmenverschrifter genau wissen, mit welch anrüchigem Partner und Stoff sie es zu tun haben und deshalb die Beteiligung an der Überlieferung vertuschen oder doch minimalisieren? Die drei individuellen Erzähler haben eine ganze Reihe gemeinsamer Merkmale, die nicht geeignet sind, sie vertrauenerweckender zu machen. Sie bleiben anonym und unter sich, eine Frau wird als Erzählerin nicht zugelassen (8, 144). Alle drei befinden sich in einer isolierten, solitären Position, zwei von ihnen, der Schulmeister und der Endverschrifter, sind Greise. Alle drei agieren am Rande von Leben und Tod. Die Anonymität der drei Erzähler ist hier nicht nur das gewohnte Zeichen für die Überlegenheit des Erzählers übers eine Figuren, deren Namen er kennt und mitteilt und über die er damit nach alter magischer Vorstellung das Verfügungsrecht hat. Das Verschweigen bzw. die Zuteilung von Namen dient hier zusätzlich der Privilegierung der männlichen Erzähler. Die als Konkurrentin drohende Unterschichterzählerin Antje Vollmers erhält, obwohl sie keine Figur der Binnenerzählung ist, den»vollen«namen (8) und wird so von der die Überlieferung tragenden Erzählspitze ausgeschlossen. Für alle im Rahmen explizierten Erzählsituationen trifft zu, dass Frauen ausgeschlossen werden. Der Schulmeister ist»einer verfehlten Brautschaft wegen«(8) Junggeselle geblieben; der Journalverschrifter kommt zwar aus dem sicheren Quartier eines verwandten Ehepaares, findet sich am Erzählabend aber als Reiter allein den tobenden Elementen ausgesetzt und gerät bei seinem Rückzug in das schützende Wirtshaus in eine reine Männergesellschaft; der Endverschrifter lässt an keiner Stelle die Nähe von Frau oder Kindern verspüren. Dem widerspricht nicht, dass er als Junge den Erzählstoff neben dem Lehnstuhl»der alten Frau Senator Feddersen«(3), seiner Urgroßmutter, empfangen hat. Frauen verlieren nach der populären Anthropologie des 19. Jahrhunderts mit zunehmendem Alter ihre weiblichen Merkmale und nähern sich
5 dem männlichen Bereich an. Der extreme Frauenausschluss hindert die Männererzähler aber nicht daran, weibliche Produktionsformen zu imitieren und zu karikieren. Das zeigt neben dem Schulmeister der Endverschrifter am deutlichsten. Von der Hand der uralten Frau überschattet, ist ihm der Erzählstoff als Kind»kund geworden«(3), über fünfzig Jahre lang, also während seines ganzen Jugend- und Erwachsenenalters, hat er den Stoff in seinem Gedächtnis mit sich herumgetragen, um mit ihm schließlich in einem Alter, in dem natürliche Fortpflanzung nicht mehr möglich ist, spontan und von innen heraus (»durch keinen äußeren Anlaß«, 3) schriftlich niederzukommen. Nach einer das biblische Vorbild streifenden Empfängnis bzw.»verkündigung«des Stoffes kommt es zu einer Art männlicher Langzeitschwangerschaft und Spätgeburt in Form der verschrifteten Erzählproduktion, die das künstliche Gegenstück zu der primär von der Frau gesteuerten natürlichen Reproduktion darstellt. Zeugung und Geburt heißt aus dem Nichtleben ins Leben bringen. An dieser Achse von Nicht-Leben oder Tod zu Leben agieren die drei Männererzähler. Der Endverschrifter belebt den Stoff aus neue aus den Gräbern der längst vergangenen Zeit des Journalverschrifters (3). Der Journalverschrifter kommt von dem Deich, der Grenzstelle zwischen Tod und Leben, und von einem förmlichen Nachtstück, der zweimaligen Konfrontation mit einem wiedererstandenen Toten, in den Erzählraum des Schulmeisters. Dieser Raum hat in seiner doppelten Gestalt, der Gaststube und dem Privatzimmer des Schulmeisters, selbst wieder Merkmale des Lebens und des Todes. Einerseits ist er ein Schutzraum vor der elementaren Bedrohung der Sturmnacht, der das totenerweckende Erzählen der Lebensgeschichte des Deichgrafen erst ermöglicht, was die jesuanische»fürchte dich nicht«-pose des Binnenerzählers noch unterstreicht (17, 56, vgl. 7 f.). Andererseits ist er wie jeder nach außen abgeschirmte Binnenraum (vg. 55 f.) ein Abbild des Sarges, der nächstliegenden Vorbedingung für Wiederbelebung. Dass es sich bei den zwei Verschriftern nicht nur um einen
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