Niedrigeinkommen und soziale Exklusion. Die Perpetuierung von Armut im Generationenzusammenhang. 1 Problemstellung und theoretischer Hintergrund
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- Peter Ziegler
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1 PD Dr. Rolf Becker (Dresden) und PD Dr. Wolfgang Lauterbach (Konstanz) Niedrigeinkommen und soziale Exklusion. Die Perpetuierung von Armut im Generationenzusammenhang Vortrag für die Arbeitstagung der Sektion Soziale Indikatoren der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) in Zusammenarbeit mit dem DIW Berlin 1 Problemstellung und theoretischer Hintergrund Zweifelsohne gibt es einen Zusammenhang zwischen Niedrigeinkommen bis hin zur relativen Armut und der sozialen Exklusion. Einerseits beschränken Defizite an verfügbaren ökonomischen Ressourcen die gesellschaftliche Teilhabe von Individuen, Familien und Haushalten. Andererseits bedarf es der sozialen Inklusion, um das Humanvermögen zu erwerben, das für den Zugang zum Arbeitsmarkt und für die Erwirtschaftung ökonomischer Ressourcen notwendig ist. Somit ist die soziale Inklusion oder Exklusion eng verbunden mit dem Erwerb von Humankapital und von psycho-sozialen Kompetenzen. Nunmehr gibt es empirische Hinweise dafür, dass Einkommensverluste bis hin zur relativen Armut und die damit verbundene sozio-ökonomische Deprivation die Produktion und den Erhalt des Humanvermögens von Kindern beeinträchtigen können. Auf der einen Seite wirken sich ökonomische Engpässe vermittelt über ihre Auswirkungen auf das Familienklima, die Paarbeziehung und Eltern-Kind-Beziehungen oftmals ungünstig auf die persönliche Entwicklung und schulische Leistung des Kindes aus, wenn die Einkommensverluste nicht durch geeignete Ressourcen des Haushaltes und angemessenen Bewältigungsstrategien der Eltern ausgeglichen werden können. Auf der anderen Seite zwingen Einkommensdefizite die Eltern unter Umständen 1
2 dazu, die materiellen Investitionen in das Humankapital ihrer Kinder zu verringern. Infolge von Armut und sozio-ökonomischer Deprivation beeinträchtigte psycho-soziale Kompetenzen bei Grundschulkindern können über verminderte Schulleistungen in verringerten Bildungschancen beim Übergang von der Grundschule auf die weiterführenden Schullaufbahnen in der Sekundarstufe I resultieren. Somit wären Einkommensdefizite eine wichtige Komponente des primären Herkunftseffektes für Bildungschancen. Einkommensverluste und langfristige Einkommensdefizite können Eltern dazu bewegen, sich für kürzere und damit kostengünstigere Bildungswege für ihre Kinder zu entscheiden. Durch die ökonomische Schlechterstellung des Elternhauses würden sich die sekundären Herkunftseffekte für die Bildungschancen von Kindern verstärken. Insgesamt würde das bedeuten, dass ungünstige Einkommenslagen wie etwa prekärer Wohlstand oder gar Armut sowohl primäre als auch sekundäre Herkunftseffekte beim Bildungsübergang verstärken. Aus naheliegenden Gründen würde man deswegen bei Kontrolle der sozialen Herkunft annehmen, dass armutsnahe Einkommenslagen einen unmittelbaren NDXVDOHQ (LQIOXVV DXI GLH%LOGXQJVFKDQFHQYRQ LQGHUQ haben. In diesem Falle würde gelten, dass die intergenerationale Vererbung des Humanvermögens durch Armut und sozioökonomische Deprivation beeinträchtigt wird, und dass dadurch über eingeschränkte Arbeitsmarkt- und Einkommenschancen langfristig Armutsrisiken von der Eltern- auf die Kindergeneration übertragen werden. Nicht ausgeschlossen ist daher eine Verfestigung des Zusammenhangs von Niedrigeinkommen und sozialer Exklusion (vgl. $EELOGXQJ). Andererseits kann man argumentieren, dass man einem statistischen Artefakt aufsitzt, wenn man bei den Bildungschancen und den daran geknüpften Armutsrisiken in der Zukunft ausschließlich von einem kausalen Armutseffekt 2
3 ausgeht. Denn wie bei vielen anderen Entscheidungsprozessen stellt sich auch hier das 3UREOHP GHU 6HOHNWLYLWlW. So ist es nicht ausgeschlossen, dass es Schulkinder gibt, die aufgrund ihre sozialen Herkunft gleichermaßen überproportional hohe Armutsrisiken und ungünstige Bildungschancen aufweisen (vgl. $EELOGXQJ). So haben $UEHLWHUNLQGHU wegen primärer und sekundärer Herkunftseffekte nicht nur ungünstigere Bildungschancen als Kinder aus höheren Sozialschichten, sondern sie leben auch eher in Armut als Kinder aus höheren Sozialschichten. Zu überprüfen ist daher, ob Arbeiterkinder unabhängig davon, ob sich das Elternhaus in Armut befindet oder nicht immer besonders ungünstige Bildungschancen haben. In diesem Falle wäre dann für ihre Bildungschancen die soziale Herkunft ausschlaggebend und nicht wie fälschlicherweise angenommen die Armut. Für die Arbeiterkinder ist daher anzunehmen, dass sie im Vergleich zu den Schulkindern aus höheren Sozialschichten immer ungünstigere Bildungschancen haben. In der Arbeiterklasse hat die Armut einen äußerst geringen Effekt auf die elterliche Bildungsentscheidung als ursprünglich angenommen. Weil Arbeiterfamilien ohnehin was die Wahl möglicher Schullaufbahnen für ihre Kinder anbelangt in der Regel suboptimale Bildungsentscheidungen treffen, würden allenfalls Bildungsaufsteiger aufgrund von unerwarteten ökonomischen Defiziten in ihren Bildungschancen benachteiligt. Für die 2EHUVFKLFKW dürfte es ebenfalls keinen Zusammenhang zwischen Armut, elterliche Bildungsentscheidung und Bildungschancen geben. Zum einen ist für die Oberschicht das Risiko, arm zu werden, vernachlässigbar gering. Zum anderen verfügen sie sowohl ökonomische Ressourcen als auch über soziales Kapital, um ökonomische Verluste auszugleichen. Daher ist anzunehmen, dass 3
4 Kinder aus der Oberschicht generell sofern es die schulischen Leistungen zulassen auf das Gymnasium wechseln. Dagegen unterliegen Familien in der 0LWWHOVFKLFKW nicht zuletzt wegen der langanhaltenden Massenarbeitslosigkeit und dem ökonomischen Wandel in beiden Teilen Deutschlands dem Risiko, Einkommenseinbußen hinnehmen zu müssen. Daher dürften in der Mittelschicht Einkommensverluste und sozioökonomische Deprivation gravierende Auswirkungen auf die Bildungschancen von Kindern am Ende der Grundschulzeit. Zum einen sind Mittelschichtkinder auf das Abitur angewiesen, um einen sozialen Aufstieg realisieren zu können, und zum anderen bedeutet das Abitur auch den Statuserhalt in der Generationenabfolge. Unter Umständen müssen aber Familien in der Mittelschicht wegen Einkommensdefizite ihre Bildungsaspirationen absenken und gar auf das Gymnasium als weiteren Bildungsweg für ihr Kind verzichten. Je grösser und dauerhafter diese ökonomischen Verluste sind, desto wahrscheinlicher werden davon die Bildungschancen von Kindern in der Mittelschicht tangiert. Jedoch ist nicht ausgeschlossen, dass dieser selektive Zusammenhang nur bei den Familien in der unteren Mittelschicht zu beobachten ist. In der Regel verfügen sie über deutlich geringere Ressourcen, um Einkommensdefizite und Auswirkungen von sozio-ökonomischer Deprivation auf ihre Kinder auszugleichen. Daher werden sie eher geneigt sein, ihre Bildungsaspirationen ihren ökonomischen Verhältnissen anzupassen. Ähnliches ist auch für die Eltern aus der Mittelschicht zu vermuten, die selbst wiederum Bildungsaufsteiger sind, aber in ökonomisch prekären Einkommensverhältnissen leben. Bei ökonomischen Verlusten sind sie möglicherweise gezwungen, suboptimale Bildungsentscheidungen für ihre Kinder treffen. 4
5 2 Daten und statistische Verfahren Für die empirischen Analysen verwenden wir Daten des 6R]LR NRQRPLVFKHQ 3DQHOV62(3. Im Rahmen dieses Panels werden seit 1984 private Haushalte und ihre Mitglieder in Westdeutschland und seit 1990 auch in Ostdeutschland wiederholt befragt. Es ist als Haushaltspanel konzipiert, das sowohl die wiederholte Befragung von Einzelpersonen als auch die Erhebung von Informationen über Struktur und alle Mitglieder des Haushaltes einschließt. Mit den Daten zur wirtschaftlichen Lage und über Ressourcen des Haushaltes sowie relevanten Informationen über den Bildungsverlauf der Eltern und Kindern ist es möglich, den Zusammenhang zwischen Armut und Bildungschancen von Kindern detailliert zu untersuchen. Für die empirischen Analysen berücksichtigen wir lediglich Familien mit Kinder, für die am Ende der Grundschulzeit der Übergang in die Sekundarstufe I ansteht. Um den kausalen Effekt von Einkommen auf die elterliche Bildungsentscheidung abbilden zu können, untersuchen wir nur die Familien, die an zwei aufeinanderfolgenden Wellen teilgenommen haben. Dieses Vorgehen ist notwendig, um den Einfluß von Armut auf den Selektionsprozeß beim Bildungsübergang von der Grundschule auf die Sekundarstufe I zu messen. Ferner liegen im SOEP weder das exakte Geburtsdatum noch die besuchte Schulklasse vor. So mußte die Vorgeschichte kontrolliert werden, um Bildungsübergänge exakt zu identifizieren. Desweiteren spannen wir für den westlichen Teil Deutschlands ein Beobachtungsfenster von 1984 bis 1995 und für Ostdeutschland liegen den Analysen die wenigen Beobachtungszeitpunkte von 1991 bis 1995 vor. 6
6 Wie in vielen anderen Surveys auch, werden vom SOEP bestimmte Personengruppen kaum oder gar nicht erreicht. In Bezug auf unsere Fragestellung könnten sich daraus unter Umständen Schätzprobleme ergeben, wenn Personengruppen aus der Armutsbevölkerung in systematischer Weise unterrepräsentiert sind und damit das Ausmaß und die Betroffenheit von Armut unterschätzt wird. Desweiteren können selektive Verzerrungen in der Panel- Stichprobe entstehen, wenn Personengruppen mit niedrigem Sozialstatus und hohem Armutsrisiko die Teilnahme am Panel verweigern oder ganz ausscheiden. In gewisser Weise könnte dies bei der Analysestichprobe für die multivariaten Schätzungen der Bildungsübergänge der Fall sein. Allerdings wird bei der geringen Anzahl der betroffenen Fälle von Zufallsschwankungen ausgegangen. Aus entscheidungs- und verteilungstheoretischen Gründen werden die multivariaten Schätzungen mit Hilfe der multinomialen und binären logistischen Regression vorgenommen. Weil wir ausschliesslich an der Richtung der Kausalität und Signifikanz von Einflüssen der Einkommenslage auf die elterliche Bildungsentscheidung und den vollzogenen Bildungsübergang interessiert sind, interpretieren wir nicht die Grösse der einzelnen Effekte. Wir beschränken uns bewußt auf die Frage, ob wir es beim Einfluss von Einkommensdefiziten mit Kausal- oder Selektivitätseffekten zu tun haben. Jedoch sind wir uns der Problematik bewusst, dass wir für diese Prozesse keine Informationen über die primären Herkunftseffekte haben, weil die Schulleistung der Kinder nicht erhoben wurde. 7
7 3 Empirische Befunde 3.1 Kausaleffekte Betrachten wir zunächst die Ergebnisse für den Übergang von der Grundschule auf die weiterführende Schullaufbahnen in der Sekundarstufe I, so sprechen sie zunächst für einen Kausaleffekt von Armutslagen auf Bildungschancen. hier ungefähr Tabelle 1 Für 2VWGHXWVFKODQG ist festzustellen, dass bei Kontrolle der sozialen Herkunft die Bildungschancen von Schulkindern sinken. Bei Armut wechseln sie kaum auf das Gymnasium, während bei prekärem Wohlstand auf die Realschule gewechselt wird. Was die soziale Herkunft anbelangt, so werden die hinlänglich bekannten Zusammenhänge für die Bildungschancen bestätigt. Weil es für Ostdeutschland keine signifikanten Interaktionen für Einkommen unter der Armutsgrenze und soziale Herkunft gibt, kann für diesen Teil Deutschlands vorerst weiter angenommen werden, dass Einkommensdefizite und Klassenlage jeweils eigenständige Auswirkungen auf die elterlichen Bildungsentscheidungen und die Bildungsübergänge haben. Für :HVWGHXWVFKODQG ist festzuhalten, dass es ebenso wie in Ostdeutschland unter Kontrolle der sozialen Herkunft eigenständige Effekte von Armutslagen und prekärem Wohlstand gibt. Im Vergleich zu Kindern, die in finanziell gesicherten Einkommensverhältnissen der Elternhäuser leben, haben Kinder aus Armutslagen sowohl eine niedrigere Wahrscheinlichkeit auf das Gymnasium als auch auf die Realschule zu wechseln. Kinder, die in prekären Einkommenslagen 8
8 leben haben hingegen nur eine niedrigere Wahrscheinlichkeit auf das Gymnasium zu wechseln. Fügt man Interaktionsterme hinzu, die die Mittel- oder Arbeiterschicht, die in prekären Einkommenslagen leben, selektieren, so zeigt sich, dass diese Eltern versuchen, ihren Kindern den Übergang auf das Gymnasium zu ermöglichen. Diese Schlussfolgerung kann wegen der signifikanten positiven Effekten der beiden Interaktionstermen für den Übergang auf das Gymnasium gezogen werden. Gerade diese Eltern in der Arbeiter- und Mittelschicht unternehmen offensichtlich große Anstrengungen, um den Kindern den sozialen Aufstieg zu ermöglichen. Unter Beizug der beiden Haupteffekte (Prekärer Wohlstand (- 1.99) und Mittelschicht (-1.21) oder Arbeiterschicht (-1.64)) wird zwar ersichtlich, dass der Interaktionseffekt die Dominanz der Haupteffekte für prekäre Einkommenslagen nicht gänzlich aufhebt, jedoch merklich verringert. Faßt man diese Befunde zusammen, dann gibt es in Westdeutschland deutliche Hinweise für herkunftsbedingte Selektivitäten von Armutsrisiken und daran geknüpfte Bildungsentscheidungen. In Ostdeutschland scheint dies jedoch nicht der Fall zu sein. Möglicherweise verdecken geringe Fallzahlen für die Bildungsprozesse in Ostdeutschland solche Selektionsprozesse. 9
9 3.2) Selektivitätseffekte Im weiteren gehen wir der Frage nach, worauf diese Selektivität für den Zusammenhang von ökonomischen Einbußen und herkunftsspezifischen Bildungschancen beruhen könnte. Um diese Frage zu klären, gehen wir in zwei Schritten vor. Im ersten Schritt untersuchen wir die Determinanten des Armutsrisikos von Familien mit Schulkindern am Ende der Grundschulzeit. Demnach betrachten wir das Risiko in Armut oder in prekären Einkommenslagen zu leben. Diese Schätzergebnisse werden in einer Instrumentalvariable gespeichert, die die bedingte Wahrscheinlichkeit für Armutsrisiken indiziert. Im zweiten Schritt schätzen wir mit Hilfe dieser Instrumentalvariablen, den Einfluss von ökonomischen Defiziten auf die Bildungschancen der Kinder. hier ungefähr Tabelle 2 Kontrollieren wir zunächst die Armutsrisiken für 2VWGHXWVFKODQG: Demnach hatten Familien mit niedrig gebildeten Haushaltsvorständen sowie Familien in der Arbeiter- und Versorgungsklasse die größten Risiken unter die Armutsgrenze zu geraten. So ist in Ostdeutschland das Armutsrisiko vornehmlich an das Arbeitslosigkeitsrisiko und was die Versorgungsklasse anbelangt auch an die Exklusion von der Teilhabe am Erwerbssystem gekoppelt. Die Arbeitslosigkeitsrisiken sind unter den betrachteten Familien wiederum ausschließlich bildungsabhängig und wie bereits gesehen, gibt es eine bildungsmässige Reproduktion von Bildungschancen in der Generationenabfolge. Nun zu :HVWGHXWVFKODQG: Kontrollieren wir auch hier die Armutsrisiken, so zeigt sich, dass ebenso Familien mit niedrig gebildeten Haushaltsvorständen 10
10 sowie Familien in der Arbeiter- und Versorgungsklasse die größten Risiken aufweisen unter die Armutsgrenze zu geraten (vgl. Tabelle 2). Dies sind insbesondere die Familien, die zur Versorgungsklasse zu rechnen sind, also Sozialhilfeempfänger und Empfänger von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt. Ebenso wie in Ostdeutschland ist auch in Westdeutschland das Armutsrisiko an die Arbeitslosigkeit gekoppelt. Allerdings ist das Abstiegsrisiko durch Arbeitslosigkeit nicht so hoch wie in Ostdeutschland. hier ungefähr Tabelle 3 Sowohl in Ostdeutschland als auch in Westdeutschland gibt es einen unmittelbaren Einfluss von Armutsrisiken auf die Bildungschancen von Kindern. Für Ostdeutschland erklärt dieses sparsame Modell für den Einfluss selektiver Armutsrisiken auf den Bildungsübergang jedoch nicht mehr an statistischer Varianz als das sozialstrukturelle Ausgangsmodell. Anders liegt der Fall für Westdeutschland. Dort sind die sozialen Selektivitäten für Armutsrisiken und Bildungschancen ausgeprägter als im Osten Deutschlands, wobei die Ungleichheitsstrukturen und die zugrundeliegenden Mechanismen für Inklusion und Exklusion sehr ähnlich sind. Jedoch werden Unterschiede zwischen den beiden Teilen Deutschlands sichtbar, wenn wir die Bildungsentscheidungen und -übergänge separat für die Arbeiter- und Mittelschichten betrachten. hier ungefähr Tabelle 4 Die Ergebnisse für 2VWGHXWVFKODQG weisen auf äußerst schwache Selektionseffekte hin, die eingangs vermutet wurden. Kinder aus armen Mittelschichtfamilien haben ungünstigere Bildungschancen als Kinder in 11
11 wohlhabenderen Familien der Mittelschicht. Wie erwartet, wirkt sich Armut bei der Arbeiterschicht allenfalls auf den Übergang auf das Gymnasium aus. Es ist zu vermuten, dass sich die Armut für die wenigen leistungsstarken Arbeiterkinder oder für Kinder aus Facharbeiterfamilien und von Eltern in der Arbeiterelite mit ausgeprägten Bildungsaspirationen negativ auswirkt. Generell gilt jedoch für die Arbeiterkinder, dass sie unabhängig von Vorliegen oder Abwesenheit von Armut ungünstigere Bildungschancen haben als Kinder aus höheren Sozialschichten. Alles in allem sind die Zusammenhänge in Ostdeutschland klar: Es gibt einen durchschlagenden Effekt von Armut auf die Bildungschancen, der über die bildungsabhängigen Arbeitslosigkeitsrisiken verläuft. Von allen ursächlichen Risiken sind neben der sozial benachteiligten Versorgungsklasse wiederum die ohnehin bildungsmäßig benachteiligten Familien in der Arbeiterklasse betroffen. Wenn es einen sozial selektiven Effekt von Armut auf Bildungschancen gibt, dann beschränkt er sich im wesentlichen auf die Arbeiterklasse, gefolgt von der Versorgungsklasse, und nur in einem geringeren Maße auf die armen Kinder in der Mittelschicht. Bei den armen Mittelschichtskinder dürfte es sich angesichts des Bildungseffektes für Armuts- und Arbeitslosigkeitsrisiken hauptsächlich um statusinkonsistente Aufsteiger mit niedrigem Bildungsniveau handeln. Was die Bildungschancen von Arbeiterkinder im Vergleich zu den Kindern in den anderen Sozialschichten anbelangt, so erfahren wir im Osten nichts Neues außer dass die Arbeitslosigkeit zur Verfestigung von herkunftsbedingten Bildungschancen und der intergenerationalen Reproduktion von Bildungsungleichheiten beiträgt. Bei den Arbeiterschichten gibt es was den Bildungsübergang anbelangt vor dem Hintergrund der langanhaltenden Massenarbeitslosigkeit offensichtlich eine Kumulation von Benachteiligungen, die langfristig zur Persistenz von herkunftsspezifischer Bildungsungleichheit in Ostdeutschland beitragen. 12
12 Vergleichbare Befunde liegen auch für Westdeutschland vor, wobei im Unterschied zu Ostdeutschland auch armutsnahe Einkommenslagen wie etwa prekärer Wohlstand die Bildungschancen von Kindern in der Mittelschicht beeinflussen. Damit beeinflussen im Westen Deutschlands Einkommenslagen im Niedrigeinkommensbereich die Bildungschancen von Kindern und damit die Wahrscheinlichkeit für eine intergenerationale Perpetuierung von Armutsrisiken. Dieser regionale Unterschied dürfte zum einen auf den jeweils unterschiedlichen Einkommensverteilungen beruhen. So sind die Einkommen in Ostdeutschland nicht nur niedriger als im Westen Deutschland, sondern auch homogener verteilt. Zum anderen dürften jeweils unterschiedlichen Klassenstrukturen in den beiden Teilen Deutschlands dafür verantwortlich sein. So dominieren in Westdeutschland zahlenmässig die mittleren und unteren Dienstklassen (die Angestellen), während in Ostdeutschland noch weiterhin das klassenstrukturelle Erbe der Arbeits- und Arbeitergesellschaft DDR auch in der zahlenmässigen Dominanz der Arbeiterklasse besteht. 13
13 4 Konsequenzen für die Indikatorenforschung Generell sollten wir in Zukunft bestrebt sein, uns nicht nur mit der theoriegeleiteten, validen und reliablen Messung von Armut zu beschäftigen. Neben der Beschreibung von Armut benötigen wir Theorien und entsprechende Indikatoren für die Genese von Armut. Darüber hinaus benötigen wir zur Bemessung von Armut auch Indikatoren zu den Auswirkungen von Armut und ihre Konsequenzen für Individuen, Familien und die Gesellschaft: 1) Informationen zu den Einkommenslagen von Familien und ihren Kindern im stetigen Zeitverlauf 2) Zeitabhängige Indikatoren für die Untersuchung von Armutsrisiken 3) Zeitabhängige Indikatoren für die Untersuchung von Konsequenzen von Armutsrisiken 4) Subjektive Verarbeitung von Armutsrisiken (z.b. Familienklima und Coping-Strategien) 5) Kurz- und langfristige Auswirkungen auf Lebenschancen 14
14 7DEHOOH %LOGXQJVFKDQFHQ LQ 2VWGHXWVFKODQG XQG LQ:HVWGHXWVFKODQG ² (LQIOXVV YRQ :RKOIDKUWVGLIIHUHQWLDOHQ DXI %LOGXQJV EHUJlQJH DP (QGH GHU *UXQGVFKXOH 0XOWLQRPLDOH 5HJUHVVLRQ ²LQ ODPPHUQ6WDQGDUGIHKOHUGHU RHIIL]LHQWHQ 2VWGHXWVFKODQG 5HDO *\PQD VFKXOH VLXP 5HDO VFKXOH :HVWGHXWVFKODQG *\PQD 5HDO VLXP VFKXOH *\PQD VLXP RQVWDQWH *HVFKOHFKW (Ref.: Mädchen) gnrqrplvfkh/djh (Ref.: Gesicherter Wohlstand) 3UHNlUHU:RKOVWDQG $UPXW 6R]LDOH+HUNXQIW (Ref.: Oberschicht) 0LWWHOVFKLFKW $UEHLWHUVFKLFKW 9HUVRUJXQJVNODVVH,QWHUDNWLRQVWHUPH 0LWWHOVFKLFKW $UPXW $UEHLWHUVFKLFKW $UPXW 0LWWHOVFKLFKW SUHNlUHU:RKOVWDQG $UEHLWHUVFKLFKW SUHNlUHU:RKOVWDQG 3VHXGR5ð0F)DGGHQ )UHLKHLWVJUDGH )looh * p 0.05; ** p 0.01; *** p 0.001; p 0.1 4XHOOH 1 Sozio-ökonomisches Panel (DIW, Berlin): Wellen 1-7 Ost eigene Berechnungen (ungewichtete Ergebnisse von Haushalten, die an zwei aufeinanderfolgenden Wellen teilgenommen haben) 2 Sozio-ökonomisches Panel (DIW, Berlin): Wellen 1-12 West eigene Berechnungen (ungewichtete Ergebnisse von Haushalten) 15
15 7DEHOOH 6R]LDOH6HOHNWLYLWlWYRQ$UPXWVULVLNHQLQ2VWGHXWVFKODQGXQGLQ :HVWGHXWVFKODQG 3URELW5HJUHVVLRQ ² LQ ODPPHUQ 6WDQGDUGIHKOHUGHU RHIIL]LHQWHQ 0RGHOO Ostdeutschland 1 0RGHOO Westdeutschland 2 0RGHOO Ostdeutschland 1 0RGHOO Westdeutschland 2 RQVWDQWH %LOGXQJVQLYHDXGHV +DXVKDOWYRUVWDQGHV (Ref.: POS 8. Klasse bzw. Hauptschule) 326 ODVVHE]Z 0LWWOHUH5HLIH (26E]Z $ELWXU $UEHLWVORVLJNHLW (Ref.: keine Arbeitslosigkeit) 6R]LDOH+HUNXQIW (Ref.: Oberschicht) 0LWWHOVFKLFKW $UEHLWHUVFKLFKW 9HUVRUJXQJVNODVVH 3VHXGR5ð0F)DGGHQ )UHLKHLWVJUDGH )looh * p 0.05; ** p 0.01; *** p 0.001; p 0.1 4XHOOH 1 Sozio-ökonomisches Panel (DIW, Berlin): Wellen 1-7 Ost eigene Berechnungen (ungewichtete Ergebnisse von Haushalten, die an zwei aufeinanderfolgenden Wellen teilgenommen haben) 2 Sozio-ökonomisches Panel (DIW, Berlin): Wellen 1-12 West eigene Berechnungen (ungewichtete Ergebnisse von Haushalten) 16
16 7DEHOOH 6R]LDOH 6HOHNWLYLWlW YRQ $UPXWVULVLNHQ XQG %LOGXQJVFKDQFHQ LQ 2VWGHXWVFKODQG XQG LQ :HVWGHXWVFKODQG ² (LQIOXVV YRQ :RKOIDKUWVGLIIHUHQWLDOHQ DXI %LOGXQJV EHUJlQJH DP (QGH GHU *UXQGVFKXOH 0XOWLQRPLDOH 5HJUHVVLRQ ² LQ ODPPHUQ 6WDQGDUGIHKOHUGHU RHIIL]LHQWHQ 2VWGHXWVFKODQG :HVWGHXWVFKODQG 5HDOVFKXOH *\PQDVLXP 5HDOVFKXOH *\PQDVLXP RQVWDQWH *HVFKOHFKW (Ref.: Mädchen) $UPXWVULVLNR λ 3VHXGR5ð )UHLKHLWVJUDGH )looh 1 Selektionsmodelle siehe Tabelle 2 * p 0.05; ** p 0.01; *** p 0.001; p 0.1 4XHOOH 2 Sozio-ökonomisches Panel (DIW, Berlin): Wellen 1-7 Ost eigene Berechnungen (ungewichtete Ergebnisse von Haushalten, die an zwei aufeinanderfolgenden Wellen teilgenommen haben) 3 Sozio-ökonomisches Panel (DIW, Berlin): Wellen 1-12 West eigene Berechnungen (ungewichtete Ergebnisse von Haushalten) 17
17 7DEHOOH %LOGXQJVFKDQFHQ LQ 2VWGHXWVFKODQG XQG LQ:HVWGHXWVFKODQG ² (LQIOXVV YRQ :RKOIDKUWVGLIIHUHQWLDOHQ DXI %LOGXQJV EHUJlQJH DP (QGH GHU *UXQGVFKXOH 0XOWLQRPLDOH 5HJUHVVLRQ ²LQ ODPPHUQ6WDQGDUGIHKOHUGHU RHIIL]LHQWHQ 2VWGHXWVFKODQG :HVWGHXWVFKODQG 0LWWHOVFKLFKW $UEHLWHUVFKLFKW 0LWWHOVFKLFKW $UEHLWHUVFKLFKW 5HDO VFKXOH *\PQD VLXP 5HDO VFKXOH *\PQD VLXP 5HDO VFKXOH *\PQD VLXP 5HDO VFKXOH *\PQD VLXP RQVWDQWH *HVFKOHFKW (Ref.: Mädchen) gnrqrplvfkh/djh (Ref.: Gesicherter Wohlstand) 3UHNlUHU:RKOVWDQG $UPXW 3VHXGR5ð )UHLKHLWVJUDGH )looh * p 0.05; ** p 0.01; *** p 0.001; p 0.1 4XHOOH 1 Sozio-ökonomisches Panel (DIW, Berlin): Wellen 1-7 Ost eigene Berechnungen (ungewichtete Ergebnisse von Haushalten, die an zwei aufeinanderfolgenden Wellen teilgenommen haben) 2 Sozio-ökonomisches Panel (DIW, Berlin): Wellen 1-12 West eigene Berechnungen (ungewichtete Ergebnisse von Haushalten) 18
18 Abbildung 1: Kausalmodell für den Zusammenhang von Einkommensdefiziten und Bildungschancen Einkommensverluste P(Gymnasium) Soziale Herkunft Abbildung 2: Selektivitätsmodell für den Zusammenhang von selektiven Armutsrisiken und herkunftsbedingten Bildungschancen Soziale Herkunft P(Gymnasium) P(Einkommensverluste) 19
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