Praxis der Schematherapie

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1 Praxis der Schematherapie Grundlagen - Anwendung - Perspektiven Bearbeitet von Eckhard Roediger 2. Ndr d. 1. Aufl Buch. 304 S. Hardcover ISBN Format (B x L): 16,5 x 24 cm Weitere Fachgebiete > Psychologie > Psychotherapie / Klinische Psychologie > Verhaltenstherapie Zu Inhaltsverzeichnis schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, ebooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

2 1.4 Neurobiologische Grundlagen 23 Symptome bewährtes Prinzip konsequent auf die Behandlung von Beziehungsbzw. Persönlichkeitsstörungen übertragen Neuronale Netze als lernende Strukturen Manfred Spitzer zufolge lernt das Gehirn immer, tut nichts lieber und kann sowieso nichts anderes (2003b, S. 216). Um das Verständnis für therapeutische Lernprozesse zu vertiefen, werden nachfolgend die Prozesse und Bedingungen, unter denen Lernen grundsätzlich geschieht, etwas genauer beschrieben. Grundlegende neuronale Strukturen im Bereich des limbischen Systems werden bereits in der Frühphase der Schwangerschaft angelegt. Die kortikalen neuronalen Verknüpfungen werden aber erst nach der Geburt innerhalb der ersten zwei Lebensjahre aufgebaut. Danach erfolgen eine benutzungsabhängige Selektion und der Abbau nicht benutzter neuronaler Verknüpfungen (sog. Pruning), sodass ab dem zweiten Lebensjahr die Anzahl der neuronalen Verknüpfungen wieder abnimmt, entsprechend dem Motto: Use it, or loose it! Erst danach bilden sich stabile Verknüpfungen aus, die die Grundlage der Bewusstseinsprozesse und des autobiografischen Gedächtnisses bilden. Durch traumatische Erlebnisse können bereits aufgebaute Verknüpfungen blockiert oder sogar nachträglich abgebaut werden (sog. Overpruning), was zu verminderten mnestischen oder kognitiven Leistungen führen kann (Schore 1997). Vor dem dritten Lebensjahr finden emotional bedeutende Ereignisse ihren Niederschlag direkt in den Netzwerken der Emotionsregulation, erst danach werden begleitende Bewusstseinsprozesse neuronal möglich. Dies (und nicht eine sekundäre Verdrängung ) ist die Grundlage der von Freud (1919) beschriebenen kindlichen Amnesie. Bei unbedeutenden, flüchtigen Alltagsaktivierungen werden in den Synapsen bevorzugt die AMPA-Rezeptoren benutzt. Die Unzahl von Hinweisschildern an der Autobahn wird zwar kurzzeitig wahrgenommen und führt zu Aktivierungen dieser AMPA-Rezeptoren, die Erregung flaut jedoch sofort wieder ab und wird durch neue Erregungen überlagert, sodass keine Einprägung erfolgt, die die Voraussetzung für eine Erinnerbarkeit wäre. Erst wenn eine intensive, wiederholte oder stark anhaltende Aktivierung erfolgt, werden etwas entfernt neben den AMPA-Rezeptoren liegende NMDA-Rezeptoren geöffnet. Daraufhin wird eine Kette von biochemischen Prozessen ausgelöst, an deren Ende Gene anders abgelesen und entsprechend Eiweiße gebildet werden können (Zusammenfassung bei Grawe 2004, S. 50 ff.). Diese Eiweiße werden benutzt, um die synaptische Verbindung zwischen zwei Nervenzellen auszubauen, indem an den Nervenendigungen (Dendriten) neue Aussprossungen (Spines) gebildet werden (s. Abb. 1-7, S. 24). Dadurch können mehr Überträgerstoffe (Transmitter) in der Synapse übertragen werden, wodurch die Reizwei-

3 24 1 Grundlagen der Schematherapie Zellkern Dendriten Zellkörper Dendritischer Dorn Axon Synapse Abb. 1-7: Grundlagen des neuronalen Lernens terleitung erleichtert wird. Dies ist die Grundlage der sogenannten Bahnungsprozesse. Durch sie wird ein Reiz bleibend besser weitergeleitet, was Langzeitpotenzierung genannt wird (Bliss et al. 1973). Diese Bahnungsprozesse gehen relativ schnell: In elektronenmikroskopischen Aufnahmen konnte man bereits 30 Minuten nach der verstärkten Reizung neue Dendritenaussprossungen nachweisen. Die im Kindesalter angelegte neuronale Struktur wird benutzungsabhängig durch Veränderung der synaptischen Übertragungsstärken und die bessere Synchronisation von Nervenzellverbänden immer weiter ausdifferenziert (Spitzer 2003a). Ein erstes Maximum ist kurz vor der Pubertät erreicht. In der Pubertät nehmen vermutlich durch hormonelle Einflüsse die Frequenz und die Amplitude der Synchronisationsmuster, die sich im EEG feststellen lassen, vorübergehend stark ab bis etwa auf das Ausmaß, das bei schizophrenen Patienten beobachtet wird (Uhlhaas et al. 2007). Bei manchen schizophrenen Patienten wird dieser Zusammenbruch nur teilweise wieder ausgeglichen, während bei gesunden Menschen bis zum 20. Lebensjahr die Frequenzen und die Amplituden wieder deutlich ansteigen.

4 1.4 Neurobiologische Grundlagen Informationsverarbeitungs- und Gedächtnissysteme im Gehirn Das Gehirn ist in einer kaum vorstellbaren Weise komplex vernetzt. Mittlerweile lassen sich jedoch in funktionell bildgebenden Verfahren manche Funktionen zunehmend besser lokalisieren. Im Folgenden soll in verständlicher (und damit auch vereinfachter) Weise ein kurzer Überblick über die aktuellen Hypothesen zu diesen lokalisierbaren Funktionen gegeben werden (s. auch Abb. 1-6, S. 17), soweit sie für die Psychotherapie relevant sind (Übersicht in Siegel 2006). Eine zentrale Rolle spielen die Strukturen, in denen verschiedene Gedächtnisfunktionen repräsentiert sind. Diesbezüglich können mit Bezug auf Förstl et al. (2006) folgende Funktionen grob unterschieden werden (Zusammenfassung in Tab. 1-1): Subkortikale, emotional gesteuerte Aktivierungen (z. B. in den Mandelkernen und im sogenannten Belohnungssystem): Eine erste implizite, emotionale Bewertung von Aktivierungszuständen erfolgt durch die Mandelkerne (Amygdalae) und den orbitofrontalen Kortex, durch die dann der weitere Fluss der Erregungen gelenkt wird. Emotionen können als Energie mit mobilisierendem Tab. 1-1: Verarbeitungs- und Gedächtnissysteme im Gehirn Explizit-deklarativ, top-down (willentlich) aktivierbar, als Erinnerung erlebt, ermöglicht zielgerichtete Verhaltensänderungen Links-parietaler Kortex (Ausdifferenzierung ab 18 Monaten) Verbal-semantisch, Gedanken Faktisch-abstrakte Inhalte (Symbole, Tatsachenwissen) Analytisch-kategorial, Details Beobachtererinnerung (emotional distanziert) Langsame, sequenzielle, digitale Verarbeitung Rechts-parietaler Kortex und obere limbische Ebene (Ausdifferenzierung ab dem 2. Lebensjahr) Nonverbal-episodisch, Empfindungen Autobiografisch (Zeitreise) (Qualität des persönlich Erlebten) Kontextuell-interpersonell, Muster Felderinnerungen (auch körperlich erlebt; emotional heiß ) Schnelle, parallele, gestaltbildende Verarbeitung Implizit-nondeklarativ, prozedural, bottom-up aktiviert, autonom, nicht als Erinnerung erlebt, reflexhafte Reaktionen Subkortikale mittlere limbische Ebene Von situativ aktivierten emotionalen Bewertungen gesteuert Somatische Repräsentanzen (inneres Körpererleben und Körperhaltungen) Perzeptuell-sensorisch (sinnesorganbezogen)

5 26 1 Grundlagen der Schematherapie Drang zur reaktiven Bewegung verstanden werden. Die unbewusste Wahrnehmung einer potenziell ängstigenden Situation (z. B. eines Stocks in Form einer Schlange) führt vermittelt über das basalste, vom Hypothalamus gesteuerte Reaktionssystem zu einer reflexartigen Körperanspannung und Stressreaktionen, begleitet von einer primären Emotion in Form eines Anspannungsgefühls, während die bewusste Aufmerksamkeit im frontal gelegenen Arbeitsgedächtnis auf den Boden gelenkt wird. Diese (weitgehend angeborenen) autonomen Reaktionsformen werden in eigenen, subkortikalen Gedächtnisstrukturen gespeichert (LeDoux 1998). Subjektiv wird die Aktivierung dieser Ebene als diffuse innere Anspannung im Sinne einer Orientierungs reaktion mit positiver oder negativer emotionaler Tönung erlebt. Einspeicherung in bewusstseinsfähige, kortikale Aktivierungen (über den Hippocampus): Etwas verzögert erfolgt die bewusste, sprachverbundene, sogenannte explizite Weiterverarbeitung über den Hippocampus im limbischen System, wobei bevorzugt vom Arbeitsgedächtnis im präfrontalen Kortex wahrgenommene Inhalte eingespeichert werden. Das Arbeitsgedächtnis kann dabei Verbindungen zu verschiedenen Repräsentationen herstellen und abwägen, welche Bedeutung die aktuelle Wahrnehmung haben könnte (z. B. könnte der Stock eine gefährliche Schlange sein). Diese Gedächtnisspuren werden dadurch in einem assoziativen Gedächtnisfundus konsolidiert. Einspeicherung in das episodische, autobiografische Gedächtnis (rechte Hemisphäre): Im nächsten Schritt wird das emotional gefärbte Erleben als Szene in das autobiografische Gedächtnis eingeprägt, das in der rechten Hemisphäre lokalisiert ist und gewissermaßen den persönlichen Lebensgeschichte- Film darstellt. Diese Einspeicherung ist mit komplexen Aktivierungen des rechten präfrontalen Kortex, des anterioren cingulären, des insulären und des orbitofrontalen Kortex verbunden, welche eine Gruppe verschiedener Repräsentanzen (einschließlich subkortikal evozierter Körperrepräsentanzen und des Lesens von Gesichtsausdrücken) in ein komplexes Aktivierungsmuster integrieren, das für dieses Erlebnis steht (Recruitment). Das Selbst konstruiert sich in einer sozialen Welt, indem es innere Aktivierungen (z. B. des Körpererlebens) und Repräsentationen des Umwelterlebens (Gesichtsausdrücke, nonverbale Signale) in eine komplexe Szene integriert. Diese zum Teil nicht bewussten Muster bewirken das Selbsterleben und koordinieren spontanes Verhalten im Sinne von Bauchentscheidungen (z. B. sicherheitshalber doch lieber einen Bogen um den Stock zu machen, denn es könnte vielleicht eine Schlange sein). Das Recruitment bewirkt seinerseits die Bildung neuer neuronaler Erregungsbereitschaften (NEBs) und wirkt damit zurück auf die synaptischen Verbindungen (Neuroplastizität), was spätere Wahrnehmungs- und Handlungsprozesse beeinflusst.