Handbuch Asyl und Rückkehr
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- Jörn Vogt
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1 Handbuch Asyl und Rückkehr Artikel D6 Die Aktualität der Verfolgung Zusammenfassung Als Flüchtling anerkannt werden kann, wer aktuell verfolgt wird, wer in der Vergangenheit verfolgt wurde oder wer vor zukünftiger Verfolgung flieht. Vom Zeitpunkt der Verfolgung zu unterscheiden ist der Zeitpunkt der Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft. Besteht die Gefahr einer Verfolgung aufgrund einer nachhaltigen Veränderung der Verhältnisse im Herkunftsstaat seit der Flucht der betroffenen Person nicht mehr, kann in Auslegung des Verfolgungsbegriffs der Flüchtlingskonvention FK unter bestimmten Voraussetzungen die Flüchtlingseigenschaft dennoch bejaht werden. 1
2 Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Rechtliche Grundlagen... 3 Kapitel 2 Aktualität der Verfolgung Aktuelle Verfolgung Vergangene Verfolgung Zukünftige Verfolgung Massgeblicher Zeitpunkt für die Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft Asylgewährung trotz Wegfalls der Verfolgungsgefahr... 7 Kapitel 3 Benutzte und weiterführende Literatur
3 Kapitel 1 Rechtliche Grundlagen Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Flüchtlingskonvention; FK), SR Artikel 1C Ziffer 5 Absatz 2 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG); SR Artikel 3 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten für die Schweiz in Kraft getreten am 28. November 1974 (EMRK); SR Artikel 3 3
4 Kapitel 2 Aktualität der Verfolgung 2.1 Aktuelle Verfolgung Artikel 3 AsylG bezeichnet als Flüchtlinge Personen, die in ihrem Heimatstaat aus asylrelevanten Gründen "ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind". Wer zum Zeitpunkt der Ausreise aus dem Heimatstaat von den Behörden verfolgt wird, ist sofern die übrigen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft kumulativ erfüllt sind 1 als Flüchtling anzuerkennen; das Schutzbedürfnis ist offensichtlich. Dies ist beispielsweise der Fall bei einer Person, die knapp einer politisch motivierten Verhaftung entging oder aus dem Gefängnis entwich. 2.2 Vergangene Verfolgung Gemäss Wortlaut des Asylgesetzes und der Flüchtlingskonvention ist vergangene Verfolgung allenfalls insofern beachtlich, als sie noch andauert oder Hinweise auf eine zukünftige Verfolgung bestehen. 2 Der Grund dafür liegt darin, dass Asylgewährung nicht dem Ausgleich für vergangene Unbill dient, sondern derjenigen Person gewährt werden soll, die des Schutzes durch einen ausländischen Staat bedarf. 3 Die schweizerische Praxis anerkennt aber grundsätzlich auch Personen als Flüchtlinge, die nach Abschluss der Verfolgung beispielsweise nach der Entlassung aus dem Gefängnis um Asyl nachsuchen. Kälin begründet dies mit einer Regelvermutung in dem Sinne, dass aufgrund bereits erlittener ernsthafter Nachteile auf begründete Furcht vor zukünftiger Verfolgung geschlossen wird; 4 die Wiederholungsgefahr wird als gegeben erachtet. Diese Regelvermutung gilt jedoch nur, wenn zwischen der Verfolgung und der Flucht in sachlicher und zeitlicher Hinsicht ein Kausalzusammenhang besteht, das heisst, wenn die erlittenen Nachteile der Grund für die Ausreise waren. 5 Der zeitliche Zusammenhang fehlt gemäss Praxis, wenn zwischen der Verfolgung und der Flucht ins Ausland mehrere Monate (je nach Einzelfall länger als sechs bis zwölf Monate) 6 vergangen sind, ohne dass die gesuchstellende Person plausibel erklären kann, weshalb sie nicht sofort geflohen ist. Diese Praxis gründet auf der Vorstellung, dass eine in ihrem Heimatstaat verfolgte Person normalerweise bei der ersten Gelegenheit die Flucht aus dem 1 Vgl. D1 Die Elemente des Verfolgungsbegriffs. Namentlich muss die geltend gemachte Verfolgung zusätzlich aus einem der in Artikel 3 Absatz 1 AsylG genannten Gründe erfolgen (vgl. D4 Die Verfolgungsmotive), genügend intensiv (vgl. D5 Die Auswirkungen der Verfolgung), gezielt gegen die gesuchstellende Person gerichtet (vgl. D3 Die Gezieltheit der Nachteile) und ausweglos sein (vgl. D2 Die Urheberschaft der Verfolgung sowie D10 Die innerstaatliche Fluchtalternative). 2 Vgl. EMARK 1993/11; EMARK 1994/24, E. 8; EMARK 2004/1, E. 6.a; BVGE 2009/51, E ; BVGE 2010/9, E. 5.2; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. März 2011, E-5341/2006, E Kälin, 1990, S Kälin, 1990, S Werenfels, 1987, S Die damalige Asylrekurskommission ARK (heute: Bundesverwaltungsgericht BVGer) geht in EMARK 1998/20 und EMARK 2000/17 davon aus, dass für ein Opfer früherer Verfolgung die Gefahr zukünftiger Verfolgung fortbestehen kann, auch wenn seit der letzten Verfolgungshandlung zwölf Monate vergangen sind, dies umso mehr wenn ausreichende und klare Hinweise in diesem Sinn bestehen. 4
5 Land ergreift. Daraus darf nun aber nicht automatisch im Sinne eines Umkehrschlusses gefolgert werden, wer nicht die erste Möglichkeit zur Flucht genutzt habe, könne in der Heimat nicht ernsthaft verfolgt gewesen sein. Es können nämlich plausible objektive Gründe (das Fehlen von Reisemitteln, Zwangslagen wegen der Situation der zurückbleibenden Familienangehörigen, Reiseunfähigkeit wegen Krankheit usw.) für eine zeitlich verzögerte Ausreise vorliegen. Auch die individuelle Reaktion auf erlittene Repression (Schockzustand, geistige Lähmung nach erlittener Folter o.ä.) kann eine entsprechende Verzögerung erklären. 7 Fehlt der zeitliche Zusammenhang, heisst dies aber nicht, dass die Flüchtlingseigenschaft definitiv ausgeschlossen ist, sondern nur, dass die erwähnte Regelvermutung zerstört ist; die gesuchstellende Person muss nun noch andere Umstände für eine begründete Furcht vor künftiger Verfolgung glaubhaft machen. 8 Ein sachlicher Zusammenhang zwischen Vorverfolgung und Flucht ist dann nicht vorhanden, wenn die im Zeitpunkt der Ausreise befürchtete Verfolgung andere Ursachen hat als die Vorverfolgung: Wurde jemand von einem inzwischen gestürzten Regime während dessen Herrschaft inhaftiert, kann nicht im Sinne einer Regelvermutung auf begründete Furcht vor Verfolgung durch die Putschisten geschlossen werden. 9 Auch hier ist aber im Einzelfall zu prüfen, ob nicht andere Gründe für begründete Verfolgungsfurcht vorliegen. Ausserdem kann der automatische Schluss von Vorverfolgung auf begründete Furcht ebenfalls nicht gezogen werden, wenn sich die Verhältnisse im Heimatstaat in der Zwischenzeit wesentlich zugunsten der asylsuchenden Person verändert haben. Erscheinen diese Veränderungen ernsthaft und von Dauer, so braucht die asylsuchende Person den Schutz des Asylstaates nicht mehr. Ausnahmsweise kann jedoch eine vergangene Verfolgung auch nach Wegfall der Verfolgungsgefahr (wegen dauernder veränderter Verhältnisse im Heimatland) noch asylrelevant sein, wenn die Rückkehr in den früheren Verfolgerstaat aus triftigen, auf diese Verfolgung zurückgehenden Gründen nicht zumutbar ist. In einem solchen Fall muss aber die asylsuchende Person darlegen können, dass sie im Moment der Ausreise aus dem Heimatstaat beziehungsweise Einreise in die Schweiz sämtliche Voraussetzungen zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfüllt hatte. Das Asyl wird dann gestützt auf Artikel 3 AsylG in Verbindung mit Artikel 1C Ziffer 5 Absatz 2 FK (vgl. Kapitel 2.5 unten). 2.3 Zukünftige Verfolgung Von keiner gesuchstellenden Person kann erwartet werden, dass sie im Verfolgerstaat bleibt, bis sie beispielsweise inhaftiert oder misshandelt wird. Deshalb bezeichnet das Asylgesetz auch Personen als Flüchtlinge, welche begründete Furcht haben, ernsthaften Nachteilen ausgesetzt zu werden. Der Begriff der begründeten Furcht (well-founded fear) ist die zentrale Voraussetzung der Flüchtlingskonvention, da diese das Kriterium des erlittenen ernsthaften Nachteils nicht kennt. 7 Vgl. EMARK 1996/25, E. 5.cc, S. 251; EMARK 1996/42, E. 7.d, S. 370f. 8 Kälin, 1990, S. 128f.; Werenfels, 1987, S. 295; EMARK 1999/7, E. 4.b, S Kälin, 1990, S
6 Der Begriff begründete Furcht enthält eine subjektive und eine objektive Komponente: Die betroffene Person muss subjektiv Angst vor Verfolgung haben; diese Angst muss aber beispielsweise auch bei einer überaus ängstlichen Person angesichts der tatsächlichen Situation objektiv gerechtfertigt sein. In der schweizerischen Praxis wird den objektiven Gegebenheiten stärkeres Gewicht zugemessen als dem subjektiven Empfinden. 10 Ähnlich wie bei der Beurteilung der Unerträglichkeit des psychischen Drucks 11 wird auch in der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung begründet sei, von einer objektivierten Betrachtungsweise ausgegangen: Es müssen hinreichende Anhaltspunkte für eine konkrete Bedrohung vorhanden sein, die bei jedem Menschen in vergleichbarer Lage Furcht vor Verfolgung und damit den Entschluss zur Flucht hervorrufen würden. Beispiel: Begründete Furcht vor zukünftiger Verfolgung ist bei einem Zellenmitglied, das heisst einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter einer Untergruppe einer politischen Organisation, gegeben, wenn die restlichen Mitglieder aufgrund ihrer gemeinsamen Tätigkeit bereits verhaftet worden sind; nicht jedoch bei einer Teilnehmerin oder einem Teilnehmer einer tausendköpfigen Demonstration, in deren Folge einige wenige Manifestierende inhaftiert wurden. Die Verfolgung soll also nicht nur eine weit entfernte Möglichkeit darstellen, 12 sondern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Es genügt nicht, dass diese Furcht [vor Verfolgung] lediglich mit Ereignissen oder Umständen, die sich früher oder später möglicherweise ereignen könnten, begründet wird". 13 Es wird darauf abgestellt, ob unter den gegebenen Voraussetzungen der betroffenen Person ein weiterer Verbleib im Heimatstaat bzw. eine Rückkehr dorthin objektiv zumutbar ist oder nicht. Die drohenden staatlichen Massnahmen müssen derart sein, dass jeder Mensch in ähnlicher Lage zur Flucht gezwungen würde. 14 Die Kriterien der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer zukünftigen Verfolgung sind nicht a priori gleichzusetzen mit den Voraussetzungen der überwiegenden Wahrscheinlichkeit der Flüchtlingseigenschaft aus Artikel 7 Absatz 2 AsylG oder mit der erheblichen Wahrscheinlichkeit von Menschenrechtsverletzungen im Sinne von Artikel 3 EMRK. Beachtlich meint mehr als nur zukünftig möglich. Überwiegend bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit des Eintritts grösser ist als die des Nichteintritts. Erheblich hingegen ist eine Drohung von generell ernsthafter Natur. Die Abgrenzungen sind fliessend und verlangen eine Auslegung anhand des konkreten Einzelfalls. So sind bei der Prüfung namentlich individuelle Tatbestandselemente wie frühere Massnahmen gegen die gesuchstellenden Personen 15 und das Vorgehen des Heimatstaates in ähnlich gelagerten Fällen 16 oder gegenüber Angehörigen der asylsuchenden Person 17 zu berücksichtigen. 10 Kälin 1990, S Vgl. D5 Die Auswirkungen der Verfolgung. 12 EMARK 1993/21, E. 3, S Vgl. Botschaft zum Asylgesetz und zu einem Bundesbeschluss betreffenden den Rückzug des Vorbehaltes zu Artikel 24 des Übereinkommens über die Rechtstellung der Flüchtlinge vom 31 August 1977 (BBI 1977 III 105), S Kälin, 1990, S EMARK 1993/11, E. 4.c, S. 71; EMARK 1994/5, E. 3.h, S. 48; EMARK 1994/24, E. 8, S. 177f. 16 EMARK 1993/9, E. 5.c, S. 59; EMARK 1997/10 E. 6, S. 73f. 17 EMARK 1993/6, E. 4, S. 37; EMARK 1993/39, E. 6, S. 283ff.; EMARK 1994/5, E. 3.h, S. 47f.; EMARK 1994/17, E. 4, S
7 2.4 Massgeblicher Zeitpunkt für die Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft Vom Zeitpunkt der Verfolgung zu unterscheiden ist der Zeitpunkt der Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft. Der massgebliche Zeitpunkt dafür ist der Zeitpunkt der Entscheidfällung. Für die folgenden Tatbestände bedeutet dies: 18 - Asylrelevante Gefährdung, die erst nach der Ausreise eingetreten ist, führt zur Asylgewährung, wenn sie losgelöst vom Verhalten der asylsuchenden Person durch Veränderungen im Heimatstaat (beispielsweise politischer Umsturz, verstärkte Repression bestimmter Bevölkerungsteile) hervorgerufen wird (sogenannte objektive Nachfluchtgründe). - Asylrelevante Gefährdung, die die gesuchstellende Person durch ihr Verhalten nach der Ausreise oder durch die Ausreise selbst herbeiführt (sogenannte subjektive Nachfluchtgründe 19 ), führt zwar zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, stellt aber gemäss Artikel 54 AsylG einen Asylausschlussgrund dar. - Verfolgungsmassnahmen, welche der Heimatstaat zwar nach dem Verlassen des Landes, aber wegen Aktivitäten der gesuchstellenden Person vor der Flucht ergriffen hat, sind ebenfalls zugunsten der asylsuchenden Person zu werten (beispielsweise die Erstellung eines Haftbefehls nach der Ausreise). - Verbesserte sich die Situation im Heimatstaat in der Zeit zwischen Ausreise und Asylentscheid, so wird dieser Umstand zulasten der asylsuchenden Person berücksichtigt. Erfolgte beispielsweise nach der Ausreise eine Begnadigung, verliert die entsprechende Verurteilung ihren Verfolgungscharakter. Zu prüfen bleibt aber, ob die gesuchstellende Person nach einer allfälligen Rückkehr nicht erneut von Verfolgung bedroht sein würde. Der Zeitpunkt der Ausreise ist bei der Anwendung der aktuellen Praxis nur insofern von Bedeutung, als zwischen erlittener Verfolgungshandlung und Ausreise nicht mehr Zeit verstreichen darf, als der Grundsatz der Aktualität einer asylrelevanten Verfolgung akzeptiert (vgl. Kapitel 2.2 oben). 2.5 Asylgewährung trotz Wegfalls der Verfolgungsgefahr Grundsätzlich muss eine asylsuchende Person im Zeitpunkt der Entscheidfällung verfolgt sein oder (allenfalls aufgrund vergangener Verfolgung) objektiv begründete Furcht vor künftiger Verfolgung haben, um als Flüchtling anerkannt zu werden. Besteht die Gefahr einer Verfolgung aufgrund einer nachhaltigen Veränderung der Verhältnisse im Herkunftsstaat seit der Flucht der betroffenen Person nicht mehr, kann die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zuerkannt werden. 18 Zum Folgenden vgl. Kälin, 1990, S. 130f. 19 Vgl. D8 Die subjektiven Nachfluchtgründe. 7
8 In Weiterentwicklung ihrer Praxis zu Artikel 1C Ziffer 5 Absatz 2 FK hat bereits die ehemalige Schweizerische Asylrekurskommission ARK Ausnahmen von diesem Grundsatz zugelassen, indem sie den Verfolgungsbegriff von Artikel 3 AsylG im Lichte von Artikel 1C Ziffer 5 Absatz 2 FK ausgelegt hat und unter bestimmten Voraussetzungen die Flüchtlingseigenschaft bejaht hat, auch wenn im Zeitpunkt der Entscheidfällung keine Verfolgungsgefahr für die betroffene Person mehr bestand. Dass bei der Auslegung des Asylgesetzes die Doktrin zur FK zu berücksichtigen ist, entspricht einhelliger Lehrmeinung, zumal Artikel 3 AsylG und Artikel 1 FK grundsätzlich inhaltlich deckungsgleich sind. 20 Abs. 2 des Artikel 1C Ziffer 5 FK statuiert eine Ausnahmeregelung von der grundsätzlichen Beendigung der Flüchtlingseigenschaft 21 wegen wesentlicher Veränderungen im Heimatstaat: Diese Bestimmungen sind jedoch nicht auf die in Ziffer 1 des Abschnittes A erwähnten Flüchtlinge anwendbar, die den Schutz ihres Heimatstaates aus triftigen Gründen, die auf frühere Verfolgungen zurückgehen, ablehnen. Diese Regelung bezieht sich also auf die besondere Lage von Personen, die in der Vergangenheit unter sehr schwerer Verfolgung zu leiden hatten und deren Flüchtlingseigenschaft nicht notwendigerweise beendet wird, auch wenn sich in ihrem Herkunftsland grundlegende Veränderungen vollzogen haben. Gemäss UNHCR ist dieser Absatz Ausdruck eines weitreichenden humanitären Grundsatzes, der nicht nur auf statutäre Flüchtlinge im Sinne des Artikels 1A FK, sondern auch auf andere Flüchtlinge angewendet werden kann. Ratio der Bestimmung ist, dass von einer Person, die selbst (oder deren Familie) besonders schwere Verfolgung zu erdulden hatte, nicht erwartet werden kann, dass sie ins Heimatland zurückkehrt. Auch wenn in dem betreffenden Land eine Änderung des Regimes stattgefunden habe, so bedeute dies nicht immer auch eine völlige Änderung in der Haltung der Bevölkerung; noch bedeute sie, in Anbetracht der Erlebnisse in der Vergangenheit, dass sich der psychische Zustand des Flüchtlings völlig geändert habe. 22 Die ARK hat erstmals in EMARK 1993/31 festgehalten, dass die in Artikel 1C Ziffer 5 Absatz 2 FK erwähnten triftigen Gründe, aufgrund deren die betroffene Person eine Rückkehr ins Herkunftsland ablehnt, nicht erst beim Asylwiderruf, sondern auch schon im Zeitpunkt der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft zu beachten seien. Unter triftigen Gründen sind dabei etwa psychische Blockaden, welche der Rückkehr in den Herkunftsstaat entgegenstehen, zu verstehen. Die psychische Unmöglichkeit einer Rückkehr wird dahingehend konkretisiert, dass bei den betreffenden Personen die physische und/oder psychische Widerstandskraft gebrochen ist. Dies ist der Fall, wenn die asylsuchende Person im Heimatstaat traumatisierende Erlebnisse (schwerwiegende Verfolgungen verbunden mit extremer Gewalt z.b. in Form von unmenschlicher, erniedrigender Behandlung oder Folter) hatte, die zur Flucht geführt und sich als Langzeittrauma ausgewirkt haben. Dabei ist auch möglich, dass die betroffene Person aufgrund von Misshandlungen, die nahen Angehörigen 20 Vgl. Kälin, 1990, S. 28; Werenfels,1987, S. 60f. 21 Vgl. E6 Die Beendigung des Asyls. 22 UNHCR, 1979, S.37. 8
9 zugefügt wurden, traumatisiert ist. Das Langzeittrauma muss sich so auswirken, dass eine Rückkehr ins Heimatland (bzw. eine Kontaktaufnahme mit den heimatlichen Behörden) auch bei objektiver Betrachtung psychisch verunmöglicht ist. 23 Es muss in jedem konkreten Einzelfall in der Regel (aber nicht zwingend) mittels ärztlicher/psychiatrischer Überprüfung abgeklärt werden, ob ein heute noch und bis auf weiteres andauerndes Langzeittrauma besteht. Eine Prognose ist auch aufgrund von Regelvermutungen möglich. Die ARK geht beispielsweise davon aus, dass sowohl die Überlebenden der Massaker von Srebrenica als auch die Überlebenden des Bürgerkrieges in Ruanda objektiv zutiefst traumatisierende Erfahrungen gemacht hatten, weshalb bei diesen Personen im Zweifelsfall ein Trauma zu vermuten sei. 24 Unter den Begriff zwingende Gründe kann auch eine andauernde feindselige Haltung weiter Teile der einheimischen Bevölkerung (insb. Diskriminierung) gegenüber der betroffenen Person subsumiert werden EMARK 1995/16, E. 4.d, S. 166f.; EMARK 1996/10; EMARK 1996/42; EMARK 1997/14; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Februar 2010, D-5906/2006, E EMARK 1997/14; EMARK 1998/ EMARK 1995/16, E. 4.d, S
10 Kapitel 3 Benutzte und weiterführende Literatur Kälin, Walter, 1990: Grundriss des Asylverfahrens. Basel / Frankfurt. Werenfels, Samuel, 1987: Der Begriff des Flüchtlings im schweizerischen Asylrecht. Bern u.a. UNHCR, 1979: Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft. Genf. 10
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