Macron und das deutsche Projekt

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1 Macron und das deutsche Projekt... Experte Prof. Enrico Colombatto Region: Europäische Union Bundeskanzlerin Angela Merkels Ziel einer inneren Stabilität in der Europäischen Union wird die Kooperation des französischen Präsidenten Emmanuel Macron erfordern (Foto: dpa) Es ist kein Geheimnis, dass sich die Europäische Kommission in Schwierigkeiten befindet. In der Außenpolitik ist die Schwäche des Exekutiv- Organs der Europäischen Union offensichtlich. Die Kommission hat sich wiederholt an die Europäische Zentralbank wenden müssen, um Mitglieder des Euro-Währungsgebiets aus einer politischen Krise zu befreien, sie konnte den Brexit nicht verhindern, sie trägt eine unleugbare Verantwortung für den Euroskeptizismus, der den Kontinent regelmäßig heimsucht, und sie ist noch immer eine kohärente Roadmap für Europa schuldig. Die Zentralbehörden der EU replizieren traditionelle demokratische Institutionen, aber dies hat kaum dazu beigetragen, um ihr Image aufzupolieren. Die Normalbürger sind zum Beispiel davon überzeugt, dass das Europäische Parlament überbezahlt und nutzlos sei. Außerhalb Brüssels Um eine fundierte Auskunft darüber geben zu können, was als nächstes passiert, ist SEITE 1

2 das Beste, Juncker & Co. zu ignorieren und stattdessen die Entwicklungen in den Mitgliedsländern zu beobachten. Diese konnten bis vor kurzem in zwei Gruppen eingeteilt werden: in jene, die zögern, die deutsche Führung anzuerkennen, und in diejenigen, die bereit sind, dies zu tun wenn auch widerwillig. Frankreich und einige Mitgliedsstaaten des früheren Ostblocks gehörten zur ersten Gruppe, Italien und andere Länder mit wirtschaftlichen Problemen repräsentierten die zweite. Alle Mitgliedsländer sind sich seit einiger Zeit bewusst (spätestens seit dem Brexit), dass die EU ihren Charakter verändert. Sie entwickelt sich allmählich von einem autonomen Entscheidungszentrum zu einem Instrument, das von nationalen Akteuren verwaltet wird. Vorläufig ist das Projekt einer immer enger zusammenrückenden Union gestorben. Stattdessen konzentriert sich die interne Debatte darauf, was Deutschland will, in welchem Maße Berlin bereit ist, Kompromisse einzugehen, und auf die möglichen Reaktionen der anderen. In diesem Zusammenhang sind Frankreich und sein neu gewählter Präsident zu entscheidenden Akteuren geworden. Im Herbst, nach der Sommerpause und den Bundestagswahlen in Deutschland, werden eine Menge wichtiger Entscheidungen gefällt werden müssen. An der Spitze dieser Agenda stehen die Brexit-Gespräche und die EU-internen Verhandlungen über Einwanderung, Haushaltsdisziplin und Geldpolitik. Frankreichs Stimme wird eine wichtige Rolle spielen, und die Entscheidungen von Präsident Emmanuel Macron werden nachhaltige Folgen haben. Berlins Herangehensweise Die deutsche Vision ist relativ deutlich. Berlin will politische Stabilität auf dem Kontinent, die es als die wesentliche Garantie für den Freihandel, den freien Kapitalverkehr und eine harmonisierte Regulierung ansieht. Das Überleben des Euro ist ein willkommener Bonus, denn die Garantie für feste Wechselkurse (ein deutscher Euro entspricht stets einem italienischen, französischen oder spanischen Euro) sorgt dafür, dass sich Deutschlands höheres Produktivitätswachstum in noch wettbewerbsfähigere deutsche Güter übersetzt zum Vorteil der deutschen Hersteller. SEITE 2

3 Politische Stabilität ist wichtig, denn falls interne Spannungen schließlich dazu führen, dass die EU kollabiert, wäre Deutschland gezwungen, die Bedingungen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit (Handel und Regulierung) mit jedem einzelnen europäischen Land neu zu verhandeln. Genau wie der Brexit wäre dies ein schmerzhafter, schleppender Prozess mit unvorhersehbaren Ergebnissen. Es ist sicherlich viel bequemer für Berlin, die Europäische Kommission als eine einzelne, fügsame Gegenpartei zu betrachten, die mit der Durchsetzung der Maßnahmen im gesamten Block betraut werden kann. Es ist nicht überraschend, dass die deutschen Führungspersönlichkeiten bereit sind, nahezu jeden Preis zu bezahlen, um ihr Ziel der Stabilität zu erreichen solange dieser Preis bei den Wählern in ihrer Heimat nicht die Befürchtung hervorruft, dass sie für die politischen Misserfolge anderer Regierungen zahlen müssen. Die vergangenen Jahre illustrieren diese deutsche Haltung. Zum Beispiel hat Berlin Brüssel immer dazu veranlasst, ein Auge zuzudrücken, wenn die EU-Mitgliedsländer die Haushaltsregeln verletzten, zu denen sie sich eigentlich verpflichtet hatten. Stattdessen erlaubte man umfangreiche Rettungsprogramme, riskante Buchhaltungsregeln oder verschiedene Formen der Verstaatlichung, als das europäische Bankensystem am Rande des Zusammenbruchs stand. Die lauten Forderungen nach harten Maßnahmen in den Fragen der Staatsschulden oder bei Finanzierungen in einigen schlingernden Volkswirtschaften der Eurozone haben nur wenig mit Berlins Besorgnis um Rechtssicherheit zu tun. Stattdessen entstammen sie der Sorge vor Konkursen, die das Finanzsystem destabilisieren könnten mit weitreichenderen Folgen, als die unmittelbaren Nebenwirkungen für die deutschen Wähler und Steuerzahler. Macrons Glück Während der Präsidentschaft von Francois Hollande spielte Frankreich eine relativ kleine Rolle und es war froh, dass Deutschland die Strippen zog hinter dem Deckmantel, den die von Paris eingesetzten EU-Kommissare und Bürokraten darstellten. Die Wahl von Emmanuel Macron bietet die Möglichkeit für eine neue Vision und eine aktivere Rolle, vielleicht als partielles Gegengewicht zu Berlin. SEITE 3

4 Allerdings gibt es nur wenige Hinweise darauf, dass Paris diese Chance ergreifen wird. Die Europäische Kommission und ihr Präsident, Jean-Claude Juncker, müssen zu einer Melodie tanzen, die von den nationalen Regierungen vorgegeben wird auch wenn diese Brüssel weiterhin den Schwarzen Peter zuschieben (Foto: dpa) Es ist unwahrscheinlich, dass Präsident Macron von sich aus nachhaltige Verpflichtungen präsentiert. Sein Hintergrund ist der eines linken Technokraten. Er entwickelte im Laufe seiner Karriere starke persönliche Verbindungen zu hochrangigen französischen Bürokraten. Und seine Erfahrungen in der Geschäftswelt verdanken der Welt der Politik sehr viel. Macron ist ein vorsichtiger Politiker, kein Querdenker. Selbst Macrons atemberaubender Wahlerfolg hatte mehr mit Glück und Chancen zu tun als mit dem Votum der Wähler für ein klares Programm. Er hatte Glück, dass sich die Sozialisten nicht auf einen gemeinsamen, glaubwürdigen Kandidaten einigen konnten; er hatte Glück, dass sich Francois Fillon, der konservative Spitzenkandidat, durch einen dummen Nepotismus-Skandal selbst torpedierte, und er nutzte geschickt SEITE 4

5 die Gelegenheit aus, zur einzigen vernünftigen Alternative zu Marine Le Pen und dem Front National zu werden. Merkels Verbündeter Die wichtigste Eigenschaft, die Macron bisher an den Tag gelegt hatte, ist seine Fähigkeit, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Erst jetzt nimmt seine Regierungs-Agenda Gestalt an. Die aktuelle Debatte über die Arbeitsmarktreform, ein Herzstück von Macrons Wahlkampf, bietet einige Hinweise darauf, wie es weiter gehen könnte. Es deutet vieles darauf hin, dass der neue französische Staatschef eine Deregulierung bevorzugt, aber es ist unwahrscheinlich, dass die öffentlichen Ausgaben oder der Umfang der staatlichen Intervention in die Wirtschaft abgebaut werden. Das wäre ein sehr deutscher Ansatz. Was die EU anbelangt, so deuten die vage, aber wiederholte Bestätigung des europäischen Ideals durch Macron, und die Geschwindigkeit, mit der Angela Merkel empfahl, dass Frankreich seine Wirtschaft nach deutschem Vorbild reformiere, darauf hin, dass der französische Präsident mehr als bereit ist, auf Berlin zu hören und dass Berlin dessen irgendwie untergeordnete Rolle für selbstverständlich hält. Der einzige erkennbare Schlachtruf von Präsident Macron besteht in seiner Loyalität gegenüber Europa und gegenüber Berlin (wie sich an den kampflustigen Reaktionen von ihm und von Kanzlerin Merkel auf Donald Trump während dessen ersten Staatsbesuchs in Europa ablesen lässt), was sich zu einer Verpflichtung zur Stabilität übersetzen lässt. Deshalb haben die französischen Wähler vor ein paar Wochen für ihn gestimmt. Das bedeutendste Ergebnis der französischen Präsidentschaftswahlen könnte in der Stärkung der deutschen Führung innerhalb der EU bestehen. Falls die Zukunft unsere Vermutung über die Agenda von Präsident Macron bestätigt dass man alles unternimmt, was nötig ist, um den internen Zusammenhalt Europas zu bewahren, und um Berlin zu erfreuen, dann wird Angela Merkel einen wichtigen und zuvorkommenden Verbündeten gefunden haben. Falls dem so ist, wird sie es leichter haben, zwei Initiativen zu fördern, die die EU im SEITE 5

6 Laufe des nächsten Jahrzehnts umgestalten werden: einen für die Überwachung der Politik der Einzelstaaten zuständigen Europäischen Währungsfonds und einen Europäischen Haushaltsfonds zur Finanzierung von in Schwierigkeiten geratenen EU-Regierungen. Die deutsche Entschlossenheit, diese beiden neuen Behörden zu schaffen, steht im Einklang mit der Ausbildung und Erfahrung Macrons in der französischen Verwaltung. Beide begünstigen einen deszendenten, bürokratischen Ansatz der Politikgestaltung. Ein weiterer Zyklus Das Ergebnis ist, dass sich die anderen Akteure Europas mit dem, was Berlin entscheidet und Paris bestätigt, arrangieren müssen vielleicht mit kleineren Anpassungen. Kurz gesagt, das ist eine schlechte Nachricht für einige Staaten, aber nicht unbedingt für alle. Sicherlich werden die Länder, die die deutsche Führung nicht anerkennen, unter zunehmendem Druck geraten. Eine Opposition gegen Berlin ist an sich schon hart, aber eine Opposition gegen Berlin ohne die Aussicht auf eine Unterstützung aus Paris dürfte noch viel härter sein. Dennoch wird man den in Schwierigkeiten befindlichen Ländern versichern, dass sie nicht allein gelassen werden und dass Frankreich ebenfalls seinen Ruf riskiert. Der Druck für eine fiskalische Disziplin dürfte sich erhöhen, aber der Schaden, der durch eine mögliche Zahlungsausfall- oder Bankenkrise verursacht wird, wäre entsprechend größer. Die Ressentiments gegen die deutsch-französische Achse könnten sich zudem verstärken. Macron und Merkel dürften es leicht haben, sich in Brüssel durchzusetzen, aber sie könnten durchaus mehr Probleme damit bekommen, neue Regeln gegen widerspenstige nationale Politiker zu erzwingen. Da die EU als autonomer Akteur weniger wichtig wird, werden die Europäische Kommission und ihre Abteilungen dazu ermutigt, Entscheidungen durchzusetzen, die an anderer Stelle getroffen wurden und für diese auch die Verantwortung zu übernehmen. Das könnte sehr schnell zu einem weiteren Zyklus der Anti-EU-Stimmung führen. SEITE 6