der Unfalluntersuchungsstelle Bahnen und Schiffe über die Entgleisung von Zug ICN 650 vom Freitag, 25. Dezember 2009
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- Linus Heintze
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1 Unfalluntersuchungsstelle Bahnen und Schiffe UUS Service d enquête sur les accidents des transports publics SEA Servizio d inchiesta sugli infortuni dei trasporti pubblici SII Jean Gross 29. Juli 2010 Reg. Nr Schlussbericht der Unfalluntersuchungsstelle Bahnen und Schiffe über die Entgleisung von Zug ICN 650 vom Freitag, 25. Dezember 2009 in Gurtnellen (UR) Jean Gross Utikonerstr Schlieren Tel , Fax jean.gross@uus.admin.ch
2 Dieser Bericht wurde ausschliesslich zum Zweck der Verhütung von Unfällen beim Betrieb von Eisenbahnen, Seilbahnen und Schiffen erstellt. Die rechtliche Würdigung der Umstände und Ursachen von Unfällen ist nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung gemäss Art. 25 der Verordnung über die Meldung und Untersuchung von Unfällen und schweren Vorfällen beim Betrieb öffentlicher Verkehrsmittel (VUU, SR ). 0. ALLGEMEINES 0.1 Kurzdarstellung Am Freitag, 25. Dezember 2009 um ca Uhr entgleiste Zug ICN 650 (SBB Personenverkehr) beim Einfahrsignal Gurtnellen Seite Amsteg mit dem ersten Drehgestell. Verletzt wurde niemand. An den Infrastrukturanlagen von SBB Infrastruktur und am Rollmaterial von SBB Personenverkehr entstand Sachschaden. Ereignisstelle Gelber Pfeil = Fahrrichtung Zug Bahnhof Gurtnellen 0.2 Untersuchung Die Unfalluntersuchungsstelle UUS wurde um Uhr durch die Meldestelle REGA über das Ereignis informiert. Der Untersuchungsleiter Jean Gross rückte unverzüglich an den Unfallort aus. Der Untersuchungsbericht der UUS fasst die Ergebnisse der durchgeführten Untersuchungen zusammen. 1. FESTGESTELLTE TATSACHEN 1.1 Vorgeschichte Zug ICN 650 hat den Bahnhof Chiasso pünktlich verlassen. Der Lokführer (Lf) hat nach eigenen Angaben vor Zugsabfahrt die vorgeschriebenen Kontrollen und die Bremsprobe durchgeführt. Die Fahrt bis Wassen verlief ohne besondere Vorkommnisse. 2/13
3 1.2 Verlauf der Fahrt Fahrdienst Gurtnellen: In der Nacht 24./25. Dezember 2009 war der Bahnhof Gurtnellen fahrdienstlich nicht durchgehend besetzt. Der Fahrdienstleiter (Fdl) in Gurtnellen nahm seinen Dienst um Uhr auf. Auf dem Stellwerk stellte er in Gleis 12 eine Achszählerstörung fest. Der Fdl verständigte den Lokführer (Lf) von Zug ICN 650 am Funk, dass er zur Entgegennahme eines Sammelbefehls in Gurtnellen Höhe AG anhalten müsse. Er übergab dem Lf den Sammelbefehl mit dem Befehl Fahrt auf Sicht innerhalb Bahnhofgebiet (Anlage 3) und orientierte ihn zusätzlich mündlich über die Störung. Zug ICN 650: Der Lf hat Zug 650 in Chiasso übernommen und ist nach den vorgeschriebenen Kontrollen und der Bremsprobe pünktlich um Uhr abgefahren. Bis Wassen verlief die Fahrt ohne besondere Vorkommnisse. Zwischen Wassen und Gurtnellen wurde der Lf mittels Funk über den ausserordentlichen Halt in Gurtnellen zur Entgegennahme eines Sammelbefehls verständigt. Er hielt an und erhielt vom Fdl den Sammelbefehl mit der Anweisung Fahrt auf Sicht innerhalb Bahnhofgebiet infolge einer Achszählerstörung Gleis 12. Der Lf beschleunigte Zug ICN 650 auf 31 km/h. Nach dem kurzen Tunnel in der Linkskurve, entlang der steilen Böschung, Höhe Einfahrsignal Gurtnellen bei Bahn-Km , sah er Steine im Gleis liegen. Er leitete sofort eine Schnellbremsung ein. Zug ICN 650 fuhr mit dem vordersten Drehgestell auf die Steine auf und entgleiste nach rechts. Verletzt wurde niemand. An den Infrastrukturanlagen von SBB Infrastruktur sowie am Rollmaterial von SBB Personenverkehr entstand Sachschaden. Foto 1 Foto 1: Ereignisstelle 1.3 Personenschäden Reisende kamen beim Ereignis keine zu Schaden. 3/13
4 1.4 Sachschäden am Rollmaterial und an der Infrastruktur des Bahnunternehmens Infrastrukturanlagen: An den Infrastrukturanlagen der SBB Division Infrastruktur entstanden Schäden am Oberbau sowie an den Bahnsicherungsanlagen. Rollmaterial: Am Rollmaterial von den SBB AG, Division Personenverkehr entstand Sachschaden im Bereich des ersten Drehgestells sowie an den Verkleidungen des Triebkopfes. Foto 2 Foto Sachschäden Dritter Dritte kamen beim Ereignis keine zu Schaden. 1.6 Beteiligte Personen Lokpersonal Lokführer SBB P Depot Chiasso Reisende In Zug ICN 650 befanden sich ca. 50 Reisende. 1.7 Schienenfahrzeuge Eigentümer: Triebfahrzeug: SBB AG, Division Personenverkehr, Wylerstr. 123/125, 3000 Bern 65 ICN Komposition RABDe , 28 Achsen / 190 m. Zuggewicht 403 t. Spitze RABDe (ICN) Ausgeschaltete Bremsapparate: Keine Zugskomposition: 1.8 Strassenfahrzeuge Strassenfahrzeuge waren keine am Ereignis beteiligt. 4/13
5 1.9 Wetter, Schienenzustand Nacht. Bedeckt. Föhn (+9º). Schienen trocken Bahnsicherungssysteme Der Bahnhof Gurtnellen ist mit einer Sicherungsanlage des Typs Integra (elektrisches Schalterwerk, Weichen mit Weichensignalen) ausgerüstet. Die ICN-Komposition ist mit der elektronischen Sicherheitssteuerung Teloc 2550, der automatischen Zugsicherung mit Magnetfeldsonde sowie mit der Zugbeeinflussung ZUB 262c und dem ETCS-System ausgerüstet Zug- und Rangierfunk Die Funkgespräche sind für den Unfallablauf nicht relevant Bahnanlagen Der Bahnhof Gurtnellen besteht aus einer mehrgleisigen Anlage. Die Streckengleise (Doppelspur) Seite Amsteg und Seite Wassen sind im Wechselbetrieb befahrbar (Gleisplan siehe Anlage 1). Im Bereich des Einfahrsignals A Gurtnellen befindet sich auf der Bergseite unmittelbar neben Gleis 12 eine Verkleidungsmauer. Der Mauerteil Seite Bahnhof Gurtnellen ist eingestürzt, die Steine sind auf Gleis 12 gefallen und haben dabei den Achszählerkontakt beschädigt (Foto 1) Fahrdatenschreiber Der ICN ist mit einer elektronischen Geschwindigkeitsmessanlage Hasler Teloc 2550 ausgerüstet. Die Fahrdaten werden elektronisch aufgezeichnet. Sie wurden durch die Verkehrsunternehmung ausgelesen und durch die Verkehrsunternehmung und die UUS ausgewertet. Die Auswertung der Fahrdaten ergab, dass der Lf unmittelbar vor dem Ereignis mit einer Geschwindigkeit von 31 km/h gefahren ist. Der Lokführer hat die Schnellbremsung beim Erkennen der Gefahr unverzüglich eingeleitet, der Anhalteweg betrug 53 m. Bei einer Geschwindigkeit von 8,7 km/h kam es zur Entgleisung Befunde an den Bahnfahrzeugen Die visuelle Kontrolle der am Ereignis beteiligten Schienenfahrzeuge durch den Untersuchungsleiter ergab keine Beanstandungen Befunde an der Verkleidungsmauer Verkleidungsmauern (auch Futtermauern genannt) dienen dazu, steile Böschungen so zu stabilisieren, dass dahinter liegendes lockeres Gesteinsmaterial nicht auf das zu schützende Gelände gelangen kann. Im vorliegenden Fall soll die Mauer verhindern, dass Erdmaterial und abbröckelndes Gestein auf das Bahntrassee gelangen kann. Die eingestürzte Verkleidungsmauer bestand aus gehauenen Natursteinen mit Mörtelfugen. Entwässerungsschlitze waren im noch erhaltenen Teil der Mauer keine erkennbar. Ingenieurbauwerke werden durch die Verantwortlichen von SBB Infrastruktur regelmässig gemäss den internen Richtlinien (gestützt auf die SIA-Norm 469) überwacht. Im vorliegenden Fall sind Inspektionen aus den Jahren 1989 und 1998 mit dem Befund guter Zustand dokumentiert. Die Inspektion im Jahre 2007 ergab den Befund genügend. Die Inspektion am 11. Februar 2008 führte zu einer genaueren Abklärung am 18. Februar und zu einer Einstufung in die Risikoklasse 1 (nach dem Risikoklassenverzeichnis vom 13. Februar 2008, Anlage 6). Am 21. Februar 2008 wurde festge- 5/13
6 stellt, dass sich die Mauer in den Wintermonaten 07/08 um 3 mm verschoben hatte und Füllbeton ausbrach. Vorgesehen war ein baulicher Eingriff innerhalb der nächsten drei Jahre. Die Begehung durch den Bereichsleiter Ingenieurbau am 20. März 2008 führte zur Einrichtung eines Messrasters mit Rissmonitoren. Am 23. September 2008 erfolgte die O-Messung. Bei den Kontrollmessungen vom , und wurden keine Bewegungen festgestellt. Am 02. Juni 2009 erfolgte eine erneute Inspektion des Bauwerkes mit dem Befund schlechter Zustand, Risikoklasse 1, Baulicher Eingriff innert 2-3 Jahre (gemäss Risikoverzeichnis vom 13. Februar 2008). Die vierte Kontrollmessung vom ergab keinen Hinweis auf eine Bewegung. Am 25. Dezember 2009 stürzte die Mauer nach einem föhnbedingten Wärmeeinbruch (+9º) nach einer länger dauernden Kälteperiode mit bis zu -17º ein. Foto 4 Foto 5 Messpunkte an der Verkleidungsmauer Detail Messpunkt Foto 6 Messpunkte SBB 1.16 Medizinische Feststellungen In Bezug auf medizinische Beschwerden der am Unfall beteiligten Personen ist nichts bekannt. Der Lokführer fühlte sich bei Dienstantritt fit. 6/13
7 1.17 Feuer Beim Ereignis trat kein Feuer auf Informationen über Organisation und Verfahren Bei Zug ICN 650 handelt es sich um einen regelmässig verkehrenden, im offiziellen Kursbuch aufgeführten, Reisezug von Chiasso (ab Uhr) mit Halt in Mendrisio, Lugano, Bellinzona, Arth-Goldau und Zug nach Zürich HB (an Uhr) Verschiedenes - Bei der Untersuchung des Ereignisses durch die UUS sind bei den Mitarbeitern der Verkehrs- und Infrastrukturunternehmungen keine Verstösse gegen arbeitsrechtliche Bestimmungen festgestellt worden. 2. BEURTEILUNG 2.1 Technisches - Die visuelle Kontrolle der am Ereignis beteiligten Schienenfahrzeuge durch den Untersuchungsleiter ergab keine Beanstandungen. - Die Gleisanlage war in einem guten Zustand. - Da Steine der eingestürzten Verkleidungsmauer einen Kontakt der Achszähleinrichtung beschädigt hat und dies im Stellwerk Gurtnellen entsprechend angezeigt wurde, war Zug ICN 650 nicht mit der vollen Streckengeschwindigkeit in die Steine gefahren. - Die durch die SBB durchgeführten Kontrollen der Verkleidungsmauer haben ab September 2007 Hinweise auf eine Verschlechterung des Zustandes der Mauer gegeben. Im Jahr 2008 und im Jahre 2009 wurde die Mauer jeweils in die Risikoklasse 1 (siehe Beilage 6: Bauliche Massnahmen innert zwei bis drei Jahren) eingestuft. Ab September 2008 wurde die Mauer mittels Tachymeter und Rissmonitoren messtechnisch überwacht. - Die Mitarbeiter der SBB gehen davon aus, dass die Verkleidungsmauer aus der Zeit des Baus der Gotthardlinie (XIX. Jahrhundert) stammt. Ein genaues Baujahr ist aus der Dokumentation nicht ersichtlich. Zu dieser Zeit wurden die Mauern mit einem gebundenen Baustoff bestehend aus kleinblöckigem Material und Mörtel hinterfüllt. Eine Entwässerung der Mauer war nicht vorgesehen, da die Mauer samt unversehrter Hinterfüllung als weitgehend dicht galt. - Damit eine solche Mauer ihre Funktionsfähigkeit über lange Jahre erhalten kann, ist auf eine durchgehend dichtende Funktion der Hinterfüllung zu achten, damit sich kein Wasser ansammeln und es im Winter nicht zu einer Eisbildung hinter der Mauer kommt. Auch ist darauf zu achten, dass sich in Ritzen und Spalten keine Pflanzen einnisten können, deren Wurzeln eine gewisse Sprengkraft entwickeln könnten. - Im Falle der Bildung von Hohlräumen in der Hinterfüllung und bei gleichzeitig ungenügender Entwässerung sammelt sich das Wasser hinter der Mauer an. Bei Kälte gefriert dieses Wasser zwischen Mauer und Fels. Bei einem Kälteeinbruch dehnt sich das Eis aus und hat eine entsprechend grosse Sprengkraft. Die erzeugten Verformungen können eine Mauer soweit beschädigen, dass sie einstürzt. 2.2 Betriebliches - Beim Feststellen der Achszählerstörung hat der Fahrdienstleiter in Gurtnellen Zug ICN 650 richtigerweise anhalten lassen und dem Lokführer mittels Sammelbefehl Fahrt auf Sicht für den Ausfahrbereich (Gleis 12 Gurtnellen) vorgeschrieben. - Die vom Lokührer gewählte Fahrgeschwindigkeit erlaubte ihm nicht, vor den im Bereich des Einfahrsignals liegenden Steine der eingestürzten Verkleidungsmauer anzuhalten. 7/13
8 3. SCHLUSSFOLGERUNGEN 3.1 Befunde - Die visuelle Kontrolle der am Ereignis beteiligten Schienenfahrzeuge ergab keine Beanstandungen. - Die Achszählerstörung beim Einfahrsignal A in Gurtnellen führte dazu, dass Zug ICN 650 auf Gleis 12 mit Fahrt auf Sicht verkehrte. - Die Uebermittlung des Befehls Fahrt auf Sicht mit der Begründung Achszählerstörung begünstigte die falsche Erwartungshaltung des Lokführers. - Bei Dienstantritt stellte der Fahrdienstleiter in Gleis 12 eine Achszählerstörung fest. Er hat daher richtigerweise den ersten auf diesem Gleis verkehrende Zug ICN 650 in Gurtnellen anhalten lassen und dem Lokführer mittels Sammelbefehl Fahrt auf Sicht beim Befahren des Aufahrbereiches (Gleis 12) vorgeschrieben. - Die vom Lokführer gewählte Fahrgeschwindigkeit von 31 km/h erlaubt ihm nicht, innerhalb der Sichtdistanz vor dem Hindernis (Steine im Gleis) anzuhalten. 3.2 Ursache Die Entgleisung ist auf den Einsturz der Verkleidungsmauer im Bereich des Einfahrsignals A Gurtnellen sowie auf den Umstand, dass der Zug trotz Fahrt auf Sicht nicht vor dem Hindernis anhalten konnte, zurückzuführen. 4. SICHERHEITSEMPFEHLUNGEN Die Schweizer Bahnen verfügen über viele solche Verkleidungsmauern älterer bis alter Bauart. Die UUS empfiehlt, das Kontrollintervall (6-Jahresrhythmus) beizubehalten und speziell in Perioden, während welchen sich grosse Kälte mit Tauwetter abwechselt, kritische Mauern vermehrt zu kontrollieren. Bei der Kontrolle derartiger Vormauerungen ist insbesondere auch darauf zu achten, dass sowohl die sichtbare Felsoberfläche wie auch die dichtende Hinterfüllung wirklich wasserdicht sind. Ist dies nicht mehr der Fall, müssen die Vormauern Entlastungsschlitze/Entlastungsbohrungen aufweisen bzw. angebracht werden, sodass eingedrungenes Wasser entweichen kann. Bei Fahrt auf Sicht ist die Fahrgeschwindigkeit so zu wählen, dass auch bei schlechten Sichtverhältnissen innerhalb der überblickbaren Strecke angehalten werden kann. Die Untersuchung wurde von Jean Gross geführt. Schlieren, 29. Juli 2010 Unfalluntersuchungsstelle Bahnen und Schiffe Jean Gross Untersuchungsleiter Fotos: Nr. 1 5 UUS/grj Nr. 6 SBB I 8/13
9 Gleisplan Gurtnellen Anlage 1 Gleiskopf Seite Amsteg Entgleisungsstelle Fahrrichtung Zug ICN 650 9/13
10 Fahrdaten Zug ICN 650 Anlage 2 RABDe /13
11 Anlage 3 Sammelbefehl für Zug ICN /13
12 Schweizerische Fahrdienstvorschriften FDV (SR ) Anlage 4 R Allgemeines Fahrt auf Sicht den Sichtverhältnissen angepasste Fahrgeschwindigkeit, höchstens 40 km/h, sodass rechtzeitig vor einem auf Sichtdistanz erkennbaren Hindernis angehalten werden kann. In Einzelfällen sehen die spezifischen hoheitlichen Vorschriften abweichende Höchstgeschwindigkeiten vor Anlage 5 Zusammenfassung Zustandserfassung Verkleidungsmauer 12/13
13 Risikoeinstufung vom Anlage 6 13/13
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