Die Schadenminderungspflicht aus Sicht des Klinikers - Chance oder Ärgernis?
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- Holger Bauer
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1 Die Schadenminderungspflicht aus Sicht des Klinikers - Chance oder Ärgernis? Dr. med. Alexander Nydegger, Physikalische Medizin und Rehabilitation FMH Leitender Arzt, Klinik Schloss Mammern Jahrestagung SIM 2015, Olten /02/2015 1
2 Schadenminderungspflicht aus Klinikersicht??? 24/02/2015 2
3 Schadenminderungspflicht ATSG Art Entzieht oder widersetzt sich eine versicherte Person einer zumutbaren Behandlung oder Eingliederung ins Erwerbsleben, die eine wesentliche Verbesserung der Erwerbsfähigkeit oder eine neue Erwerbsmöglichkeit verspricht, oder trägt sie nicht aus eigenem Antrieb das ihr Zumutbare dazu bei, so können ihr die Leistungen vorübergehend oder dauernd gekürzt oder verweigert werden. Sie muss vorher schriftlich gemahnt und auf die Rechtsfolgen hingewiesen werden; ihr ist eine angemessene Bedenkzeit einzuräumen. Behandlungs- oder Eingliederungsmassnahmen, die eine Gefahr für Leben und Gesundheit darstellen, sind nicht zumutbar. 24/02/2015 3
4 Zumutbarkeit und eigener Antrieb Aus Klinikersicht problematische Begriffe Zumutbarkeit: normativer Begriff suggeriert/impliziert, dass eine objektive Instanz bestimmen kann, was vom Individuum erwartet werden kann. Realität in der Arztpraxis ist völlig anders: Die individuelle Wirklichkeit entscheidet, was einer Person als zumutbar erscheint und was nicht! Eigener Antrieb kann aus medizinischen oder anderen Gründen reduziert sein (Depression, PTBS, psychosoziale Belastungssituation) 24/02/2015 4
5 Bedeutung der Schadenminderungspflicht Zweigeteiltes System Im KVG kein Thema Alles muss bezahlt werden. (WZW) bei Erwerbsfähigkeitsminderung (IV, UVG, ALV, TG) Was zumutbar ist muss akzeptiert werden. Im Blick auf therapeutische Entscheide scheint Individualität akzeptiert zu sein kein Herumreiten auf Guidelines. Im Blick auf Taggeldzahlungen / Eingliederung rückt die individuelle Sicht dagegen in den Hintergrund, Therapien können doch verfügt werden! 24/02/2015 5
6 Chance oder Ärgernis? Hilft der Verweis des Versicherers auf die SMP dem Arzt bei seiner Tätigkeit? Behindert die SMP die Arzt-Patient-Beziehung? Gibt es eine Number Needed to Treat (NNT)? Gibt es eine Number Needed to Harm (NNH)? Leider existieren keine Studien hierzu => Rückgriff auf Erfahrung des Klinikers notwendig 24/02/2015 6
7 Schadenminderungspflicht als Chance Es geht ums Geld / meine Existenz Im Hintergrund wirkender starker Motivator für Patient, eine gewünschte therapeutische Massnahme mitzumachen Co-Therapeut der Compliance sichert Nur schon der Hinweis auf die SMP hilft, einen Prozess in Gang zu setzen, der zur Genesung beiträgt. Teil der Realitätskonfrontation Nicht alles ist akzeptiert und versichert, wer Leistungen will muss etwas dafür tun. 24/02/2015 7
8 Schadenminderungspflicht als Ärgernis Unpersönliches Instrument, das nicht unterscheidet aus welcher Motivlage heraus ein Individuum nicht kooperiert Alle werden in denselben Topf geworfen. Versuchung für die Versicherer, die eigenen Interessen durchzusetzen auch gegen die legitimen Interessen des Versicherten (und der Gesellschaft als Ganzes). Kann Behandlung erschweren oder gar blockieren. 24/02/2015 8
9 Schadenminderungspflicht als Ärgernis behindert / verhindert die berufliche Eingliederung kann zusätzliche Gesundheitsprobleme mit sich bringen Entzug von Versicherungsleistungen als traumatische Erfahrung (bei a priori schon vulnerablen Personen) Kann zum Abbruch sinnvoller und teils sogar notwendiger Behandlungen führen und den Gesundheitszustand der betroffenen Person verschlechtern. Kann Rückkehr ins Erwerbsleben definitiv zum Scheitern bringen mit allen daraus resultierenden Folgen. 24/02/2015 9
10 Schadenminderungspflicht gut od. schlecht? Chance fördert Compliance motiviert zu pos. Verhalten hilft Gesundheitszustand zu verbessern fördert Eingliederung Ärgernis behindert Compliance verhindert pos. Verhalten trägt zu Verschlechterung des Gesundheitszustands bei behindert Eingliederung hilft mit dass Patient am Schluss wieder arbeitet bewirkt dass Patient am Schluss nie mehr arbeitet 24/02/
11 ???? Wie kann die gleiche Massnahme bei verschiedenen Einzelfällen das komplette Gegenteil bewirken? 24/02/
12 ICF was ist von Versicherern akzeptiert? Struktur Funktion Aktivität Teilhabe Knochenbruch ROM reduziert Reduzierte Reduzierte AF Hirnblutung Hemisyndrom Gehstrecke Haushaltschaden Rx, CT, MRI Klinische 6 Min. Gehtest Job Match objektiv Untersuchung EFL usw. APA, QEC, etc. Zunehmend subjektiv, abhängig von Sorgfalt/Kenntnissen des Untersuchers Scheinhierarchie! Die kausale Verknüpfung dieser Ebenen ist letztlich entscheidend! 24/02/
13 ICF die weiteren Ebenen subjektiv Befragung PACT Subjektive Arbeitsfähigkeit WAI, FABQ Schaden Aktivität Teilhabe objektiv Klinische Untersuchung Performance Tests: EFL AF angestammt AF Allgemein Berufliche Reintegration Umfeld Personenbezogene Faktoren APA Kontext Faktoren
14 Versicherungsmedizinisches Spannungsfeld Somatik Psyche L Soziales Umfeld Invaliditätsfremd Lebenswirklichkeit des Individuums 24/02/
15 Soziales Umfeld was heisst das? Gesellschaft Arbeit Familie Beruf Soziale Identität Freunde Bildung Hobbies Kultur Spiritualität 24/02/
16 Kritik am Invaliditätsbegriff im ATSG Invalidität gemäss Sozialversicherungsrecht bezieht sich nur auf (bezahlte) Erwerbsarbeit. Invalidität (Handicap) im rehabilitationsmedizinischen oder soziologischen Sinne greift viel weiter aus und beinhaltet alle Ebenen der sozialen Identität. Die Multidimensionalität sozialer Umstände, die unmittelbar auf die psychische/physische Gesundheit rückwirken wird faktisch auf eine Dimension reduziert. 24/02/
17 Kritik an versicherungsrechtlicher Wertung Das biopsychische Modell des Versicherungsrechts ist schlicht lebensfremd wenn es um Eingliederung geht. Eingliederung kann nur dann erfolgreich stattfinden, wenn der Kontext des gesamten sozialen Umfeldes einer Person berücksichtigt wird (Lebenswirklichkeit). Die Schadenminderungspflicht sollte nicht dazu missbraucht werden, diese komplexe soziale Realität zu Ungunsten der Versicherten auszublenden und abzuwehren. Nur wenn unser Versicherungssystem lernt, dieses Umfeld einzubeziehen, wird es bei der Eingliederung effizient sein. 24/02/
18 Negative Folgen Die versicherte Person gerät unter starken Druck durch erzwungene Behandlung / Eingliederungsmassnahme erzwungener Abbruch von Behandlung / Eingliederung unmittelbare oder drohende finanzielle Notlage Druck erzeugt Stresssituation Kann zu traumatisierender Belastungssituation führen Evtl. zusätzliche Gesundheitsschädigung (z.b. art. Hypertonie, psychische Dekompensation) Erwerbsfähigkeit wird zusätzlich geschmälert 24/02/
19 NNT und NNH Number Needed to Treat (NNT): Anzahl Personen, auf die eine bestimmte Handlung angewendet werden muss, um 1 erwünschte Folge herbeizuführen. Number Needed to Harm (NNH): Anzahl Personen, auf die eine bestimmte Handlung angewendet werden muss, um 1 unerwünschte Folge herbeizuführen. Es gibt auch bei Anwendung der Schadenminderungspflicht eine NNT und NNH nur ist diese unbekannt! 24/02/
20 Take home messages Schadenminderungspflicht ist ein machtvolles Instrument kann erwünschte Wirkungen haben aber auch unerwünschte Wirkungen Gesundheit und Erwerbsfähigkeit können bei Einstellung von Versicherungsleistungen zusätzlich Schaden nehmen! Nicht alles was aus Sicht des einzelnen Versicherers eine Verletzung der Schadenminderungspflicht darstellt ist dies auch aus globaler Sicht. 24/02/
21 Take home messages Setzen Sie das Instrument zurückhaltend ein. Seien Sie sich der möglichen Wirkungen bewusst (auch der unerwünschten). Vernetzen sie sich vor einem Entscheid möglichst breit. Beziehen Sie auch die Ärzte mit ein. Aus volkswirtschaftlicher Sicht ist nur derjenige erfolgreich eingegliedert, der auch tatsächlich im Arbeitsprozess steht! 24/02/
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