Das Verbot der Demonstration könnte den V in seinem Grundrecht aus Art. 8 GG verletzen.

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1 Fall 1: Nazi-Demo (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 1 Fall 1: Nazi-Demo (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, S. 11) Das Verbot der Demonstration könnte den V in seinem Grundrecht aus Art. 8 GG verletzen. I. Schutzbereich 1. Persönlicher Schutzbereich Art. 8 Abs. 1 GG ist ein Deutschen-Grundrecht. V ist Deutscher i.s.v. Art. 116 Abs. 1 GG. (+) 2. Sachlicher Schutzbereich a) Versammlung i.s.v. Art. 8 Abs. 1 GG Zusammenkunft von mindestens drei (a.a. zwei) Menschen. (+) Zu dem gemeinsamen Zweck der Meinungsbildung und Meinungsäußerung in öffentlichen Angelegenheiten? Kundgabe einer politischen Meinung ist auf jeden Fall ein geeigneter Zweck. (+) Eine Versammlung i.s.v. Art. 8 Abs. 1 GG liegt damit vor. b) Friedlich und ohne Waffen Unfriedlichkeit durch mögliche Störung des öffentlichen Friedens? Unfriedlich ist eine Versammlung immer dann, wenn die Versammlung als Ganzes zu Gewalttätigkeiten und Aufruhr führt und damit kollektive Unfriedlichkeit gegeben ist. Hier keine Anhaltspunkte für Straftaten oder Ausschreitungen Daher keine Unfriedlichkeit i.s.v. Art. 8 Abs. 1 GG. (+) II. Eingriff Das Verbot der Versammlung und aller gleich gelagerter Ersatzveranstaltungen macht die Demonstration vollständig unmöglich, sodass diese staatliche Maßnahme (Verbotsverfügung nach 15 Abs. 1 VersG) in den Schutzbereich des Art. 8 GG eingreift. III. Rechtfertigung 1. Schranken Besteht für das Grundrecht eine Schrankenregelung? Einfacher Gesetzesvorbehalt des Art. 8 Abs. 2 GG, da Versammlung unter freiem Himmel. (+) 2. Schranken-Schranken Ist der Eingriff von den Schranken des Grundrechts gedeckt? a) Verfassungsmäßigkeit des einschränkenden Gesetzes (hier: 15 Abs. 1 VersG)? aa) Formell Gesetzgebungskompetenz: Die Gesetzgebungskompetenz für das Versammlungsrecht ist im Zuge der Föderalismusreform 2006 auf die Bundesländer übergegangen (vgl. Art. 74 Abs. 1 Nr. 3 GG

2 Fall 1: Nazi-Demo (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 2 a.f. i.v.m. Art. 72 Abs. 2 GG a.f.). Jedoch gilt das hier in Rede stehende Versammlungsgesetz als auf diesem Kompetenztitel erlassenes Bundesrecht nach Art. 125a Abs. 1 S. 1 GG fort, solange und soweit es nicht durch Landesrecht ersetzt wurde (Art. 125a Abs. 1 S. 2 GG). Hierfür bestehen keine Anhaltspunkte, sodass der Bund die Verbandskompetenz für den Erlass des VersG hatte. Verfahren und Form: Das Gesetzgebungsverfahren wurde ordnungsgemäß durchlaufen (Art. 76 ff. GG), sodass das VersG ausgefertigt und im Bundesgesetzblatt verkündet werden konnte (Art. 82 Abs. 1 GG). bb) Materiell 15 Abs. 1 VersG nennt als Verbotsgründe eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Zwar ist zweifelhaft, inwieweit der Begriff der öffentlichen Ordnung zur Einschränkung von Grundrechten taugt. Einerseits könnte der Begriff zu unbestimmt sein, um Grundrechtseingriffe zu ermöglichen. Mittlerweile hat allerdings die Rechtsprechung eine ausreichende Konkretisierung herbeigeführt; auch verwendet die Verfassung den Begriff selbst in Art. 13 Abs. 7 GG. Andererseits stellt sich die Frage, ob die öffentliche Ordnung hinreichend gewichtig ist, um zu deren Schutz die Versammlungsfreiheit einzuschränken. Soweit aber 15 Abs. 1 VersG verfassungskonform dahingehend ausgelegt wird, dass nur der Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter zu einem Verbot führen kann, ist die Vorschrift verfassungsmäßig (a.a. vertretbar). b) Verfassungsmäßigkeit des Einzelaktes Ist die Gesetzesanwendung durch die Versammlungsbehörde verfassungsmäßig? aa) Formell (+) bb) Materiell Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. (1) Legitimer Zweck Schutz des öffentlichen Friedens. (+) (2) Eignung (+) Förderung des Zwecks durch das Verbot. (+) (3) Erforderlichkeit Milderes Mittel: Auflage, die Demonstration auf einen anderen Tag zu verschieben? Nein, da gezielt der 1. Mai als symbolträchtiger Tag ausgewählt worden ist und bei einer Verschiebung die Demonstration einen anderen Charakter bekäme. Sonst kein milderes Mittel ersichtlich. (+) (4) Angemessenheit Abwägung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit mit der Wertigkeit des Zwecks: Missbrauch eines symbolträchtigen Tages? Aber keine Anhaltspunkte für Straftaten oder Ausschreitungen. Art. 8 GG schützt gerade auch die Wahl des Zeitpunkts. Meinungsäußerungen, die provozieren? Aber: Staat darf Meinungsäußerungen inhaltlich nicht bewerten, solange keine Straftaten begangen werden. Bloße Gefährdung der öffentlichen Ordnung genügt nicht. Keine Wertneutralität des GG: GG enthält zahlreiche Vorschriften, die eine Absage an den Nationalsozialismus bedeuten, daher doch Befugnis der Behörden zum Einschreiten bei Bedrohung der öffentlichen Ordnung? Nein, GG schützt gerade auch die Rechte von politisch missliebigen Minderheiten; Staat muss ggf. Möglichkeit des Parteiverbots nutzen. Wesensverwandtschaft der N-Partei mit der NSDAP? Mag zutreffen, aber Sperrwirkung des Art. 21 Abs. 2 S. 2 GG (Parteienprivileg). Nur das BVerfG darf Parteien verbieten; solange dies nicht erfolgt ist, muss die Partei wie jede andere behandelt werden.

3 Fall 1: Nazi-Demo (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 3 Das Versammlungsverbot ist daher unangemessen und verfassungswidrig. Ergebnis: Das Verbot der Versammlung verletzt den V in seinem Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 GG.

4 Fall 2: Parteiversammlung (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 1 Fall 2: Parteiversammlung (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, S. 28) Das Verbot der Veranstaltung könnte den V in seinem Grundrecht aus Art. 8 GG verletzen. I. Schutzbereich 1. Persönlicher Schutzbereich Art. 8 Abs. 1 GG ist ein Deutschen-Grundrecht. V ist Deutscher i.s.v. Art. 116 Abs. 1 GG. (+) 2. Sachlicher Schutzbereich a) Versammlung i.s.v. Art. 8 Abs. 1 GG (+) Zusammenkunft von mindestens drei (a.a. zwei) Menschen. (+) Zu dem gemeinsamen Zweck der Meinungsbildung und Meinungsäußerung in öffentlichen Angelegenheiten? Kundgabe einer politischen Meinung ist ein geeigneter Zweck. (+) b) Friedlich und ohne Waffen Unfriedlichkeit durch Begehung von Straftaten nach 130 Abs. 3 StGB? Unfriedlich ist eine Versammlung aber nur dann, wenn die Versammlung als Ganzes zu Gewalttätigkeiten und Aufruhr führt; die Verwirklichung von Straftatbeständen allein genügt nicht. Hier keine Unfriedlichkeit i.s.v. Art. 8 Abs. 1 GG. (+) II. Eingriff Durch Verbot wird die Versammlung gänzlich unmöglich gemacht. (+) III. Rechtfertigung 1. Schranken Besteht für das Grundrecht eine Schrankenregelung? a) Art. 8 Abs. 2 GG? Einfacher Gesetzesvorbehalt des Art. 8 Abs. 2 GG (-), da keine Versammlung unter freiem Himmel. b) Schranke des kollidierenden Verfassungsrechts? Begrenzung auch vorbehaltloser Grundrechte durch kollidierende Verfassungsgüter, insbesondere durch Grundrechte Dritter. Kollision nur dann, wenn dem Eingriffsverbot, welches das vorbehaltlose Grundrecht enthält, eine hinreichend konkrete Handlungspflicht aus der Verfassung entgegensteht. Besteht also im Einzelfall eine Handlungspflicht, die den Staat zu einem Grundrechtseingriff zwingen kann?

5 Fall 2: Parteiversammlung (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 2 Hier: Staatliche Schutzpflicht für das Recht der persönlichen Ehre (Art. 2 Abs. 1 i.v.m. Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 5 Abs. 2 GG) enthält einen Auftrag an den Staat, die Ehre u.a. der verfolgten Juden und ihrer Nachfahren zu verteidigen. (+) Ggf. auch staatliche Schutzpflicht für die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) einschlägig (eher [-], wenn man der engen Auslegung des BVerfG folgt). 2. Schranken-Schranken Ist der Eingriff von den Schranken des Grundrechts gedeckt? a) Verfassungsmäßigkeit des einschränkenden Gesetzes (hier: 5 Nr. 4 VersG)? aa) Formell Gesetzgebungskompetenz: Die Gesetzgebungskompetenz für das Versammlungsrecht ist im Zuge der Föderalismusreform 2006 auf die Bundesländer übergegangen (vgl. Art. 74 Abs. 1 Nr. 3 GG a.f. i.v.m. Art. 72 Abs. 2 GG a.f.). Jedoch gilt das hier in Rede stehende Versammlungsgesetz als auf diesem Kompetenztitel erlassenes Bundesrecht nach Art. 125a Abs. 1 S. 1 GG fort, solange und soweit es nicht durch Landesrecht ersetzt wurde (Art. 125a Abs. 1 S. 2 GG). Hierfür bestehen keine Anhaltspunkte, sodass der Bund die Verbandskompetenz für den Erlass des VersG hat. Verfahren und Form: Das Gesetzgebungsverfahren wurde ordnungsgemäß durchlaufen (Art. 76 ff. GG), sodass das VersG ausgefertigt und im Bundesgesetzblatt verkündet werden konnte (Art. 82 Abs. 1 GG). bb) Materiell Kollision von zwei verfassungsrechtlichen Pflichten (Eingriffsverbot / Schutzpflicht) erfordert einen schonenden Ausgleich der Positionen im Sinne praktischer Konkordanz. Mittels einer Abwägung ist zu bestimmen, welches Maß an Schutz im Hinblick auf das Grundrecht des Vorsitzenden verhältnismäßig ist. (1) Legitimer Zweck Schutz der persönlichen Ehre durch vorbeugende Bekämpfung bestimmter Straftaten und Verhinderung der Leugnung der Judenverfolgung. (+) (2) Eignung (+) (3) Erforderlichkeit Erforderlich ist das mildeste Mittel, das den Zweck mindestens ebenso gut wie das gewählte Mittel erreicht. Genügt nicht in vielen Fällen die Ermächtigung zum Erlass von Auflagen, bestimmte Äußerungen zu unterlassen? Wortlaut des 5 Nr. 4 VersG sieht Auflagen nicht vor. Versammlungsverbot als einzig mögliche Maßnahme wäre unverhältnismäßig. Aber BVerfG: Verfassungskonforme Auslegung, dass 5 Nr. 4 VersG Auflagen als gegenüber dem Verbot mildere sog. Minusmaßnahmen ebenfalls ermöglicht. Versammlungsverbot nur als ultima ratio. In dieser Auslegung ist Erforderlichkeit gegeben. (4) Angemessenheit Stellt das Gesetz einen angemessenen Ausgleich zwischen den kollidierenden Verfassungsrechtsgütern im Sinne praktischer Konkordanz her? Reichweite der staatlichen Handlungspflicht (Schutzpflicht)? Nur soweit die staatliche Handlungspflicht reicht, liegt überhaupt eine Kollision vor, die den Staat zu einem Eingreifen ermächtigt.

6 Fall 2: Parteiversammlung (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 3 Maßstab: Untermaßverbot. Wie viel Schutz muss der Staat mindestens gewähren? Das Untermaßverbot bestimmt sich nach Art und Schwere der drohenden Gefahr, der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sowie Art und Gewicht der einem Handeln entgegenstehenden Belange. Gesetz schützt vor der Beeinträchtigung der Grundrechte Dritter durch von Versammlungen ausgehenden Straftaten. Möglichkeit des Schutzes ohne Eingriff in die Versammlungsfreiheit besteht jedenfalls nicht in allen vom Gesetz erfassten Fällen. Schutz durch Eingriffe in die Versammlungsfreiheit ist in der Auslegung durch das BVerfG durch abgestufte Maßnahmen denkbar, die von Auflagen bis hin zum Versammlungsverbot reichen. Versammlungsverbot schon bei Prognose zulässig? Muss Polizei nicht abwarten, bis Straftaten geschehen? (BVerfGE 90, 241 ff.: Nein). Dem Eingriff entgegenstehende Belange? Empfindliche Eingriffe in die Versammlungsfreiheit möglich, aber nur bei bestimmten schwer wiegenden Straftaten. Aber: Kein Hinweis im Gesetz, dass Straftat zugleich auch Verfassungsgüter verletzen muss. Nur dann Rechtfertigung durch kollidierendes Verfassungsrecht (etwa Schutzpflicht für die persönliche Ehre) möglich. Das Untermaßverbot erfordert daher nur, dass der Staat bei schwer wiegenden Straftaten gegen Dritte einschreitet. Dies muss u.u. auch durch das Verbot einer Versammlung erfolgen, wenn weniger einschneidende Maßnahmen nicht ausreichen. 5 Nr. 4 VersG ist daher unter der Maßgabe angemessen, dass nur gravierende Straftaten gegen von der Verfassung selbst geschützte Rechtsgüter einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit rechtfertigen können ( verfassungskonforme Reduktion, a.a.: Verfassungsverstoß wegen des eindeutigen Wortlauts ebenfalls gut vertretbar). b) Verfassungsmäßigkeit des Einzelaktes Ist die Gesetzesanwendung durch die Versammlungsbehörde verfassungsmäßig? aa) Formell (+) bb) Materiell Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (1) Legitimer Zweck (+) (2) Eignung (+) (3) Erforderlichkeit Auflage, strafbare Äußerungen zu unterlassen, als milderes Mittel (Minusmaßnahme gem. 5 Nr. 4 VersG)? Aber geringere Effektivität (a.a. vertretbar). (4) Angemessenheit Angemessener Ausgleich der kollidierenden Verfassungsrechtsgüter im Einzelfall ( praktische Konkordanz)? Reichweite der konkreten Handlungspflicht (Schutzpflicht)? Welches Maß an Schutz verlangt das Untermaßverbot? Leugnung der Judenverfolgung stellt empfindlichen Angriff auf die Ehre der Verfolgten und ihrer Nachfahren dar, der ein staatliches Eingreifen verlangt. Gerade die deutsche Geschichte verlangt eine besondere Sensibilität gegenüber der größten Opfergruppe des Nazi-Regimes und verpflichtet zu besonderen Anstrengungen zum Schutz dieser Gruppe. Insofern erfordert die staatliche Schutzpflicht, dass der Staat gegenüber der mit hoher Wahrscheinlichkeit eintretenden Leugnung der Judenverfolgung einschreitet.

7 Fall 2: Parteiversammlung (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 4 Stehen einem Eingreifen gegenläufige Belange entgegen? Hier: Empfindliche Beeinträchtigung der Versammlungsfreiheit durch Totalverbot. Möglicher Maßstab zur Entscheidung: Anlass des Verbots ist eine befürchtete Meinungsäußerung. Schutz von Meinungsäußerungen durch Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG; volksverhetzende Äußerungen dürfen jedoch verboten werden (vgl. Fall 6). Daher: Versammlung mit dem Ziel, volksverhetzende Meinungsäußerungen zu tätigen, ebenfalls wenig schutzwürdig. Gegenläufige Belange stehen daher dem Schutzbedürfnis nicht entgegen. Daher erfordert das Untermaßverbot in diesem Fall ein Verbot der Versammlung; Maßnahmen geringerer Effektivität (Auflagen) können keinen ausreichenden Schutz gewährleisten. Das Verbot stellt im Einzelfall einen angemessenen Ausgleich in Sinne praktischer Konkordanz her. Ergebnis: Das Verbot der Versammlung verstößt nicht gegen Art. 8 GG.

8 Fall 3: Liquorentnahme (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 1 Fall 3: Liquorentnahme (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, S. 43) Die zulässige Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG) hat Erfolg, wenn sie begründet ist. A. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG Die Anordnung der Liquorentnahme könnte den G in seinem Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG) verletzen. I. Schutzbereich: Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG 1. Persönlicher Schutzbereich Jedermann-Grundrecht. (+) 2. Sachlicher Schutzbereich Körperliche Unversehrtheit = Gesundheit im biologisch-physiologischen Sinne sowie im geistigseelischen Bereich; Schutz vor Zufügung von Schmerzen bzw. psychischem Terror oder seelischen Folterungen; Schutz der körperlichen Substanz/Integrität. (+) II. Eingriff Eingriff: Jede Verkürzung einer grundrechtlich geschützten Position. Der Beschluss des Amtsgerichts verpflichtet G zur Duldung der Liquorentnahme. Diese erfolgt durch einen Einstich in den Wirbelkanal mittels einer Hohlnadel; hierdurch wird der G in seiner körperlichen Substanz verletzt und damit die körperliche Integrität des G beeinträchtigt. III. Rechtfertigung 1. Schranken Das Recht auf körperliche Unversehrtheit steht nach Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG unter einem einfachen Gesetzesvorbehalt; Eingriffe sind auf Grund eines Gesetzes möglich. 2. Schranken-Schranken a) Verfassungsmäßigkeit des einschränkenden Gesetzes Nach dem Vorbehalt des Gesetzes müssen Grundrechtseingriffe auf ein Gesetz zurückzuführen sein. Welche Anforderungen an das Gesetz zu stellen sind, bestimmt sich nach der Wesentlichkeitstheorie: Alle Entscheidungen, die für die Verwirklichung der Grundrechte wesentlich sind und insofern eine gesteigerte Grundrechtsrelevanz aufweisen, sind vom Parlament selbst zu treffen, sodass sich der Vorbehalt des Gesetzes zum Parlamentsvorbehalt verdichtet. Da die Liquorentnahme einen schwer wiegenden Eingriff in die körperliche Unversehrtheit darstellt, reicht eine untergesetzliche Rechtsnorm nicht aus. Es findet der Parlamentsvorbehalt Anwendung, sodass ein förmliches Gesetz (Parlamentsgesetz) erforderlich ist. 81a StPO, der als förmliches Gesetz zu körperlichen Eingriffen ermächtigt, müsste seinerseits verfassungsgemäß sein. aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit (1) Zuständigkeit des Bundes Gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG ist der Bund für den Erlass des 81a StPO zuständig.

9 Fall 3: Liquorentnahme (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 2 (2) Verfahren und Form Das Gesetzgebungsverfahren ist ordnungsgemäß durchgeführt worden (vgl. Art. 76 ff. GG), sodass das Gesetz ausgefertigt und im Bundesgesetzblatt verkündet werden konnte (Art. 82 Abs. 1 GG). bb) Materielle Verfassungsmäßigkeit (1) Verhältnismäßigkeit Für die Wahrung der Interessen des Beschuldigten spricht der Richtervorbehalt nach 81a Abs. 2 StPO. Dieser gewährleistet, dass Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit erst nach Prüfung durch eine neutrale Instanz, die kein eigenes Interesse an der Strafverfolgung hat, vorgenommen werden. Auch berücksichtigt 81a StPO die Belange des Beschuldigten bei der Anordnung der körperlichen Untersuchung (... wenn kein Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist. ). Bedenken: 81a StPO fordert keinen bestimmten Grad von Tatverdacht und könnte deshalb gegen die Unschuldsvermutung verstoßen; jedoch kann im Einzelfall geprüft werden, ob der Grad des Tatverdachts die jeweilige Maßnahme rechtfertigt. Deshalb ermöglicht 81a StPO eine verfassungskonforme (verhältnismäßige) Anwendung im Einzelfall. 81a StPO ist verfassungsgemäß. (2) Zitiergebot (Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG) Weder 81a StPO noch das Gesetz, durch das dieser in die StPO eingefügt wurde, nennen den Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG als eingeschränktes Grundrecht. Jedoch besteht eine Ausnahme vom Zitiergebot, wenn lediglich bestehende - durch vorkonstitutionelles Recht gezogene - Regelungen vom Gesetzgeber weitergeführt werden: 81a StPO beruht auf einer gesetzlichen Ermächtigung aus dem Jahre 1933, die vom nachkonstitutionellen Gesetzgeber nicht verschärft worden ist. b) Verfassungsmäßige Anwendung im Einzelfall Verhältnismäßigkeit: aa) Legitimer Zweck Öffentliches Interesse an der Aufklärung von Straftaten (vgl. das Legalitätsprinzip, 152 StPO); durch die Liquorentnahme soll die Zurechnungsfähigkeit des G ermittelt werden. (+) bb) Eignung Die Liquorentnahme fördert diesen Zweck. (+) cc) Erforderlichkeit Fraglich ist, ob die Liquorentnahme erforderlich ist, um den Geisteszustand des G zu ermitteln, oder ob mildere, aber gleich effektive Mittel zur Verfügung stehen. Ein milderes Mittel, das zur Zweckerreichung gleich effektiv ist, ist nicht ersichtlich. (+) dd) Angemessenheit Dem G wird vorgeworfen, ein Geheimnis, das für die GmbH wirtschaftlich unbedeutend ist, verraten zu haben. Weder ist durch den Verrat ein Schaden entstanden, noch drohte ein solcher. Es handelt sich nur um eine Bagatellsache, deretwegen allein eine geringe Strafe, wenn nicht sogar die Einstellung wegen Geringfügigkeit in Betracht kommen dürfte. Dagegen stellt die Liquorentnahme in beiden Ausführungsmöglichkeiten einen nicht geringfügigen körperlichen Eingriff dar. Auch ist zu berücksichtigen, dass G bereits ein Jahr zuvor auf seine Zurechnungsfähigkeit untersucht worden ist. Anhaltspunkte, dass sich sein Zustand seitdem grundlegend verschlechtert hat, bestehen nicht. (-)

10 Fall 3: Liquorentnahme (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 3 Verletzung des Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG (+). B. Art. 2 Abs. 1 GG Das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) tritt aus Subsidiaritätsgründen hinter Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG zurück. Ergebnis: Durch die Anordnung der Liquorentnahme wird G in seinem Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG) verletzt. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet und hat Erfolg.

11 Fall 4: Mobilfunk (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 1 Fall 4: Mobilfunk (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, S. 49 f.) Die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG; 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG) hat Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist. A. Zulässigkeit I. Zuständigkeit des BVerfG Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG. (+) II. Beteiligtenfähigkeit 90 Abs. 1 BVerfGG: Jedermann, der Träger der in Betracht kommenden Grundrechte ist. E ist Träger der in Betracht kommenden Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG und damit Jedermann i.s.d. 90 Abs. 1 BVerfGG. III. Beschwerdegegenstand 90 Abs. 1 BVerfGG: Akt öffentlicher Gewalt. Hier: Unterlassen der Verwaltungsbehörde, eine Anordnung nach 24 BImSchG zu erlassen sowie die bestätigenden Gerichtsurteile. Ggf. auch Unterlassen des Gesetzgebers, strengere Grenzwerte zu erlassen. Ist ein Unterlassen ein tauglicher Beschwerdegegenstand? Grds. ja, vgl. 95 Abs. 1 S. 1 BVerfGG. IV. Beschwerdebefugnis 90 Abs. 1 BVerfGG: Behauptung einer Grundrechtsverletzung. 1. Geltendmachung einer Grundrechtsverletzung Verletzung von Grundrechten durch das Unterlassen (!) muss als möglich erscheinen. Hier: Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG könnte verletzt sein; auf die Einhaltung der Schutzpflicht hat der Einzelne einen entsprechenden Anspruch. 2. Selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen (+) V. Erschöpfung des Rechtswegs und Grundsatz der Subsidiarität (+) VI. Ordnungsgemäßer Antrag, Frist ( 23 Abs. 1, 92, 93 BVerfGG) (+) Zwischenergebnis: Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. B. Begründetheit Die Verfassungsbeschwerde ist gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG begründet, wenn der Beschwerdeführer durch die angegriffenen Akte der öffentlichen Gewalt in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist.

12 Fall 4: Mobilfunk (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 2 I. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG 1. Schutzbereich a) Persönlicher Schutzbereich (+, s.o. A.II.) b) Sachlicher Schutzbereich Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG schützt das Leben und die körperliche Unversehrtheit. Betroffen könnte hier die körperliche Unversehrtheit, also die menschliche Gesundheit im biologisch-physiologischen und psychologischen Sinn sein. Die Unruhe und die Schlafstörungen des E sind insofern als physiologische, jedenfalls aber als psychische Krankheiten zu bezeichnen. Insoweit ist der Schutzbereich berührt. 2. Eingriff Durch das Unterlassen der Behörde, eine Anordnung nach 24 BImSchG zu erlassen, könnte ein Eingriff in den Schutzbereich vorliegen. Ein Eingriff in das Abwehrrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG liegt nur dann vor, wenn durch ein staatliches Handeln die körperliche Unversehrtheit beeinträchtigt wird. Hier geht die behauptete Beeinträchtigung von der Mobilfunkanlage des privaten Betreibers M aus. Staatliches Handeln greift damit nicht in den abwehrrechtlichen Gehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ein. 3. Verstoß gegen eine staatliche Schutzpflicht Ein Verfassungsverstoß könnte in einer Verletzung einer staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG liegen. Eine solche Schutzpflicht folgt daraus, dass die Grundrechte als objektive Ordnung den Staat verpflichten, sich schützend und fördernd vor das Leben und die körperliche Unversehrtheit zu stellen. Diese Schutzpflicht folgt ihrem Grund nach aus Art. 1 Abs. 1 GG, der den Staat ausdrücklich zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet; ihr Gegenstand und - von ihm her - ihr Maß werden hingegen durch Art. 2 Abs. 2 GG näher bestimmt. Auf die Einhaltung der staatlichen Schutzverpflichtung hat der Betroffene einen Anspruch, sodass die Schutzpflichten i.e. einen Leistungsanspruch begründen. Dem Staat kommt bei der Erfüllung einer Schutzpflicht allerdings ein weiter Gestaltungsspielraum zu, der auch Raum lässt, konkurrierende öffentliche und private Interessen zu berücksichtigen. Die verfassungsrechtliche Schutzpflicht gebietet nicht, alle nur denkbaren Schutzmaßnahmen zu treffen. Deren Verletzung kann nur festgestellt werden, wenn die öffentliche Gewalt Schutzvorkehrungen überhaupt nicht getroffen hat oder die getroffenen Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen oder erheblich dahinter zurückbleiben. Nur in diesen Fällen ist das Untermaßverbot verletzt. a) Verstoß gegen die Schutzpflicht durch unzulängliche Grenzwerte Ein Verstoß gegen die Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG kann daher nur dann festgestellt werden, wenn eine derartige völlige Unzulänglichkeit der getroffenen Maßnahmen festgestellt werden kann. Dies ist hier nur dann der Fall, wenn die gesetzlichen Grenzwerte erheblich hinter dem gebotenen Gesundheitsschutz zurückbleiben, also ein angemessener und wirksamer Schutz nicht erzielt wird (Untermaßverbot). In Bezug auf Mobilfunkstrahlung hat der Verordnungsgeber in der 26. BImSchV Grenzwerte festgelegt, die auf wissenschaftlicher Grundlage beruhen und jedenfalls 1996 den Stand der Wissenschaft repräsentierten. Über die tatsächliche Gefährlichkeit der Mobilfunkstrahlung besteht zwar nach wie vor Ungewissheit. Jedenfalls besteht aber keine Pflicht des Staates zur Vorsorge gegen rein hypothetische Gefährdungen. Die geltenden Grenzwerte können stets nur dann verfassungsrechtlich beanstandet werden, wenn erkennbar ist, dass sie die menschliche Gesundheit völlig unzureichend schützen. Davon kann so lange keine Rede sein, wie sich die Eignung und Erforderlichkeit geringerer Grenzwerte mangels verlässlicher wissenschaftlicher Erkenntnisse noch gar nicht abschätzen lässt. Insofern obliegt es allein der politischen Entscheidung des Verordnungsgebers, ob er - bei gebotener Beachtung konkurrierender öffentlicher und privater Interessen - Vorsorgemaßnahmen in einer solchen Situation der Ungewissheit sozusagen ins Blaue hinein ergreifen will. Dementsprechend verlangt die Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht, auf einer wissenschaftlich ungeklärten Tatsachengrundlage die Grenzwerte herabzusetzen, weil nachteilige Auswirkungen von Immissionen auf die menschliche Gesundheit nicht ausgeschlossen werden können. Ein Verstoß gegen die Schutzpflicht kann insoweit nicht festgestellt werden.

13 Fall 4: Mobilfunk (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 3 b) Verstoß durch fehlende Überprüfung der Grenzwerte durch die Behörde/Gerichte Fraglich ist allerdings, ob nicht die Behörde und die Gerichte selbst wissenschaftliche Gutachten über die Aktualität der 26. BImSchV hätten einholen müssen. Bei komplexen Gefährdungslagen, über die noch keine verlässlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen, kommt jedoch dem Verordnungsgeber ein angemessener Gestaltungsspielraum zu. In einer solchen Situation der Ungewissheit verlangt die staatliche Schutzpflicht von den Gerichten weder, ungesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen mit Hilfe des Prozessrechts zur Durchsetzung zu verhelfen, noch, die Vorsorgeentscheidung des Verordnungsgebers unter Kontrolle zu halten und die Schutzeignung der Grenzwerte jeweils nach dem aktuellen Stand der Forschung zu beurteilen. Es ist vielmehr Sache des Verordnungsgebers, den Erkenntnisfortschritt der Wissenschaft mit geeigneten Mitteln nach allen Seiten zu beobachten und zu bewerten, um gegebenenfalls weiter gehende Schutzmaßnahmen treffen zu können. Eine Verletzung der Nachbesserungspflicht durch den Verordnungsgeber kann gerichtlich erst festgestellt werden, wenn evident ist, dass eine ursprünglich rechtmäßige Regelung zum Schutz der Gesundheit auf Grund neuer Erkenntnisse oder einer veränderten Situation verfassungsrechtlich untragbar geworden ist. Insofern ist die gerichtliche Prüfungsbefugnis in dieser Hinsicht eingeschränkt. Eine eigenständige Risikoeinschätzung auf der Grundlage einer gerichtlichen Beweiserhebung ist stets von der konkreten - hier fehlenden - Darlegung gesicherter Erkenntnisse von erheblichem wissenschaftlichem Gewicht abhängig, die anerkannte Stellen über eine unzureichende Schutzeignung der geltenden Grenzwerte gewonnen haben. Nur eine solche Verteilung der Verantwortung zur Beurteilung komplexer, wissenschaftlich umstrittener Gefährdungslagen zwischen Exekutive und Gerichten trägt den nach Funktion und Verfahrensweise unterschiedlichen Erkenntnismöglichkeiten beider Gewalten - der Exekutive und der Judikative - Rechnung. Auch in der fehlenden Überprüfung der 26. BImSchV durch die Behörde und die Gerichte mittels eigener wissenschaftlicher Begutachtung liegt also kein Verstoß gegen die Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. II. Art. 2 Abs. 1 GG Eine Verletzung des Art. 2 Abs. 1 GG scheidet auf Grund dessen Subsidiarität aus. Ergebnis: Weder ein Unterlassen des Verordnungsgebers und der Behörde noch die bestätigenden Gerichtsurteile verletzen Grundrechte des E. Die Verfassungsbeschwerde wird als unbegründet abgewiesen. Anmerkung: Zahlreiche Passagen der Lösung sind der Entscheidung BVerfG, NJW 2002, 1638 ff., entnommen.

14 Fall 5: Kiesabbau (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 1 Fall 5: Kiesabbau (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, S. 66) Die Verfassungsbeschwerde der K-GmbH hat Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist. A. Zulässigkeit I. Zuständigkeit des BVerfG Das BVerfG ist nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG für Verfassungsbeschwerden zuständig. II. Beteiligtenfähigkeit Die K-GmbH müsste gem. 90 Abs. 1 BVerfGG beteiligtenfähig sein. Bei der K-GmbH handelt es sich um eine juristische Person des Privatrechts. Grundrechte gelten an sich nur für natürliche Personen. Hieraus folgt, dass sich die K-GmbH nur nach Maßgabe des Art. 19 Abs. 3 GG auf Grundrechte berufen kann. Art. 19 Abs. 3 GG bestimmt, dass die Grundrechte nur für inländische juristische Personen gelten. Dass die - nach deutschem Recht gegründete - K-GmbH das Tochterunternehmen eines ausländischen Unternehmens ist, macht sie noch nicht zu einer ausländischen juristischen Person. Entscheidend ist, dass die K-GmbH den tatsächlichen Mittelpunkt ( Sitz ) ihrer Tätigkeit im Bundesgebiet hat. Dies ist bei der K- GmbH der Fall, sodass sie als inländische juristische Person anzusehen ist. Gemäß Art. 19 Abs. 3 GG können sich juristische Personen nur dann auf Grundrechte berufen, soweit diese ihrem Wesen nach anwendbar sind. Art. 14 Abs. 1 GG müsste seinem Wesen nach auf die K-GmbH anwendbar sein. Wesensmäßig anwendbar sind Grundrechte dann, wenn sie kollektiv betätigt werden können und demnach nicht an die natürliche Eigenschaft des Menschen anknüpfen. Art. 14 GG hat keine natürliche Eigenschaft des Menschen zur Voraussetzung; auch juristische Personen können Eigentum erwerben. Eine korporative Betätigung des Art. 14 GG ist also grundsätzlich möglich. Folglich ist Art. 14 GG seinem Wesen nach auf die K-GmbH anwendbar. Die K-GmbH ist beteiligtenfähig. III. Prozessfähigkeit Da die K-GmbH als juristische Person nicht selbstständig handeln kann, ist es erforderlich, dass sie von ihrem Geschäftsführer gem. 35 Abs. 1 GmbHG vertreten wird. IV. Beschwerdegegenstand 90 Abs. 1 BVerfGG: Akt öffentlicher Gewalt. Die K-GmbH wendet sich gegen die genannte Regelung im Einigungsvertrag, die ihre Bergbaurechte bestreitet. Problematisch ist, inwieweit diese einen zulässigen Beschwerdegegenstand darstellt, da es sich um einen Vertrag handelt, der von zwei Staaten geschlossen wurde. Ein Vorgehen direkt gegen den Einigungsvertrag ist jedenfalls nicht möglich, da er erst durch Transformation mittels eines Bundesgesetzes innerstaatliche Geltung erlangt. Jedoch können Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen (Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG) mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden, wenn der Vertrag Regelungen enthält, die unmittelbar in die Rechtssphäre des Einzelnen eingreifen. Gleiches gilt für Zustimmungsgesetze zu Verträgen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, auch wenn diese nach dem Recht des Grundgesetzes nicht Ausland war. BVerfGE 86, 382 (386): Die angegriffene Regelung kann i.v. mit dem Einigungsvertragsgesetz Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein.

15 Fall 5: Kiesabbau (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 2 V. Beschwerdebefugnis Die K-GmbH müsste beschwerdebefugt sein ( 90 Abs. 1 BVerfGG). Die Beschwerdebefugnis bestimmt sich zunächst danach, ob sich aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung ergibt. Es ist nach dem Vortrag der K-GmbH nicht ausgeschlossen, dass ihre Eigentumsrechte an ihrem Grundstück durch die angegriffene Regelung entwertet wurden. Somit erscheint eine Verletzung von Art. 14 Abs. 1 GG möglich. Weiterhin müsste die K-GmbH durch die Regelung im Einigungsvertrag selbst, gegenwärtig und unmittelbar in ihren Rechten betroffen sein. Die K-GmbH ist Eigentümerin eines Grundstückes zum Kiesabbau. Der Einigungsvertrag ist bereits in Kraft getreten; durch die Regelung werden die genannten Bodenschätze als bergfrei behandelt, ohne dass es der Entscheidung einer Behörde bedarf. Folglich ist die K-GmbH durch die Regelung im Einigungsvertrag selbst, gegenwärtig und unmittelbar beschwert. BVerfGE 86, 382 (386): Die Bf. haben auch hinreichend dargelegt, dass sie von der Regelung selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sind. Insbesondere bewirkt die angegriffene Regelung allein - ohne Hinzutreten eines weiteren hoheitlichen Akts (...) -, dass sich das Grundstückseigentum nicht auf den in einem Grundstück liegenden Kies erstreckt. Ob der Sachvortrag, mit dem die Bf. ihre Betroffenheit schlüssig dargelegt haben, tatsächlich zutrifft, wäre eine Frage der Begründetheit der Verfassungsbeschwerde (...). VI. Erschöpfung des Rechtswegs und Grundsatz der Subsidiarität Nach 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG ist zunächst der Rechtsweg zu erschöpfen, bevor eine Klage beim BVerfG erhoben werden kann. Vorliegend richtet sich die Verfassungsbeschwerde der K-GmbH gegen ein Gesetz. Von der Ausnahme des 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO abgesehen, gibt es keinen Rechtsweg gegen ein Gesetz. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde könnte aber der Grundsatz der Subsidiarität entgegenstehen. Die K-GmbH könnte vorrangig auf einen indirekten Rechtsschutz verwiesen werden, da nach dem Grundsatz der Subsidiarität vorrangig ein fachgerichtlicher Rechtsschutz zu suchen ist. Bei Verordnungen ist der fachgerichtliche Rechtsschutz auch hinreichend effektiv, da das Verwerfungsmonopol des BVerfG sich nur auf formelle nachkonstitutionelle Gesetze bezieht. Hält ein Gericht eine Verordnung für verfassungswidrig, ist es verpflichtet, diese im konkreten Fall nicht anzuwenden. Aber auch bei formellen Gesetzen ist ein indirekter Rechtsschutz vorrangig anzustreben, da nur dadurch gewährleistet ist, dass dem BVerfG ein in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht aufbereiteter Sachverhalt vorliegt und die Zuständigkeit der Fachgerichte gewahrt bleibt. Da die K-GmbH weder vorläufigen Rechtsschutz zur Sicherung des status quo begehrt, noch ein Hauptsacheverfahren angestrengt hat, ist die Verfassungsbeschwerde nach dem Grundsatz der Subsidiarität unzulässig. BVerfGE 86, 382 (386 f.): Für die verfassungsrechtliche Beurteilung der mit der Verfassungsbeschwerde erhobenen Rügen bedarf es hier der Klärung sowohl tatsächlicher als auch einfachrechtlicher Fragen. So müsste zunächst das Eigentum der Bf. an den betroffenen Grundstücken festgestellt werden. Des Weiteren müsste geklärt werden, ob das Kiesvorkommen an den Grundstücken, die im Eigentum der Bf. stehen, unter die angegriffene gesetzliche Regelung fällt. Schließlich könnte für die verfassungsrechtliche Beurteilung auch von Bedeutung sein, wie die Kiesausbeutung in der DDR praktisch gehandhabt wurde, insbesondere auch, ob und in welchem Umfang die Eigentümer in der Lage waren, in ihren Grundstücken lagernden Kies zu verwerten. (...) Es könnte jedoch eine Ausnahme vom Grundsatz der Subsidiarität zu machen sein. Nach 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG analog ist eine direkte Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz möglich, wenn ansonsten dem Beschwerdeführer schwere und unabwendbare Nachteile drohen oder ein vorhergehender fachgerichtlicher Rechtsschutz unzumutbar ist. Nach Ansicht des BVerfG liegen beide Fälle nicht vor. BVerfGE 86, 382 (388): Die Voraussetzungen für eine Entscheidung vor Erschöpfung des Rechtswegs nach der - im Rahmen des Subsidiaritätsgrundsatzes sinngemäß anwendbaren - Vorschrift des 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG sind nicht erfüllt. a) Es kann dahingestellt bleiben, ob der Verfassungsbeschwerde allgemeine Bedeutung im Sinne dieser Vorschrift zukommt. Selbst wenn diese unterstellt wird, würde sie nicht für sich allein eine Vorabentscheidung durch das BVerfG gebieten. Sie wäre vielmehr nur ein Moment bei der Abwägung für und wider eine sofortige Sachentscheidung des BVerfG (...). Bei dieser Abwägung wäre insbesondere auch zu bedenken, dass eine Vorabentscheidung in der Regel dann nicht in Betracht kommt, wenn entscheidungserhebliche Tatsachen noch nicht aufgeklärt sind (...). Gegen eine Vorabentscheidung kann ferner sprechen, dass die einfachrechtliche Lage nicht hinreichend geklärt ist (...). Das ergibt sich aus dem Sinn des Subsidiaritätsgrundsatzes. Dieser dient auch einer sachgerechten Aufgabenverteilung zwischen dem BVerfG und den Fachgerichten (...). Danach obliegt es vorrangig den Fachgerichten, einfachrechtliche Vorschriften auszulegen und die zur Anwendung der Vorschriften erforderlichen Ermittlungen sowie die Würdigung des Sachverhaltes vorzunehmen. Das Interesse an der fachgerichtlichen Vorklärung wiegt hier so schwer, dass das allgemeine Interesse an einer sofortigen Entscheidung des BVerfG zurücktreten muss.

16 Fall 5: Kiesabbau (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 3 b) Eine Vorabentscheidung ist auch nicht wegen eines den Bf. drohenden schweren und unabwendbaren Nachteils geboten. Die Verweisung auf den Rechtsweg könnte sich insofern für die Bf. nachteilig auswirken, als nicht auszuschließen ist, dass während des fachgerichtlichen Verfahrens, das möglicherweise längere Zeit in Anspruch nimmt, das Kiesvorkommen auf ihren Grundstücken ausgebeutet wird. Es ist nicht sicher abzusehen, dass sie nach der einfachrechtlichen Lage dafür einen Ausgleich erlangen könnten, wenn die angegriffene Regelung für verfassungswidrig erklärt würde. Ebenso ist nicht vorherzusehen, ob und mit welchem Inhalt der Gesetzgeber, falls die Regelung für verfassungswidrig erklärt wird, nachträglich einen Ausgleich schaffen würde. Die Bf. können jedoch im fachgerichtlichen Verfahren gegen die Inanspruchnahme ihrer Grundstücke für den Kiesabbau vorläufigen Rechtsschutz beantragen. (...) Das dem BVerfG vorbehaltene Verwerfungsmonopol hat zwar zur Folge, dass ein Gericht Folgerungen aus der (von ihm angenommenen) Verfassungswidrigkeit eines formellen Gesetzes - jedenfalls im Hauptsacheverfahren - erst nach deren Feststellung durch das BVerfG ziehen darf (...). Die Fachgerichte sind jedoch durch Art. 100 Abs. 1 GG nicht gehindert, schon vor der im Hauptsacheverfahren einzuholenden Entscheidung des BVerfG auf der Grundlage ihrer Rechtsauffassung vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn dies nach den Umständen des Falles im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten erscheint und die Hauptsacheentscheidung dadurch nicht vorweggenommen wird. (...) Selbst wenn den Bf. vorläufiger Rechtsschutz versagt werden sollte, wäre dieses Verfahren jedenfalls bereits zur Vorklärung der offenen tatsächlichen und einfachrechtlichen Fragen geeignet. Auch insoweit überwiegt bei der zu treffenden Abwägung das Interesse an der fachgerichtlichen Vorklärung das Interesse der Bf. an einer sofortigen Entscheidung des BVerfG jedenfalls so lange, als die Bf. noch nicht einmal vorläufigen Rechtsschutz im fachgerichtlichen Verfahren begehrt haben. Ob darüber hinaus, wenn das Begehren auf vorläufigen Rechtsschutz erfolglos bleiben sollte, auch noch der Rechtsweg in der Hauptsache erschöpft werden muss, hängt von dem Ergebnis des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes und der bis dahin im Übrigen eingetretenen weiteren Entwicklung ab. Der Grundsatz der Subsidiarität steht der Verfassungsbeschwerde der K-GmbH entgegen. Ergebnis: Die Verfassungsbeschwerde der K-GmbH ist unzulässig. Anmerkung: In einer Klausur müsste in einem Hilfsgutachten zur Begründetheit Stellung genommen werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn bestimmte Sachverhaltsangaben nicht verwertet werden können; ein entsprechender Bearbeitervermerk ist dabei nicht erforderlich (vgl. Butzer/Epping, Arbeitstechnik im Öffentlichen Recht, 3. Aufl. 2006, S. 65 ff.). Im vorliegenden Fall wird hierauf aus didaktischen Gründen verzichtet, da der Fall lediglich der Verdeutlichung von Problemen der Zulässigkeit dienen soll und das für die Begründetheitsprüfung maßgebliche Grundrecht des Art. 14 GG erst später behandelt wird.

17 Fall 6: Volksverhetzung (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 1 Fall 6: Volksverhetzung (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, S. 90) Die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG; 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG) hat Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist. A. Zulässigkeit I. Zuständigkeit des BVerfG Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG. (+) II. Beteiligtenfähigkeit 90 Abs. 1 BVerfGG: Jedermann, der Träger der in Betracht kommenden Grundrechte ist. J ist Träger der in Betracht kommenden Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG und damit Jedermann i.s.d. 90 Abs. 1 BVerfGG. III. Beschwerdegegenstand 90 Abs. 1 BVerfGG: Akt öffentlicher Gewalt. Hier: Strafurteil des Oberlandesgerichts. Insofern gilt ein Wahlrecht des Beschwerdeführers. Er kann bloß das letztinstanzliche oder alle Urteile angreifen. Daher: Urteils-Verfassungsbeschwerde. IV. Beschwerdebefugnis 90 Abs. 1 BVerfGG: Behauptung einer Grundrechtsverletzung. 1. Geltendmachung einer Grundrechtsverletzung Verletzung von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG erscheint nach dem Vortrag des Beschwerdeführers zumindest möglich. 2. Selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen (+) V. Erschöpfung des Rechtswegs und Grundsatz der Subsidiarität Erschöpfung des Rechtswegs ( 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG). (+) Subsidiarität (Problem stellt sich i.d.r. nicht bei Urteilsverfassungsbeschwerden). VI. Ordnungsgemäßer Antrag, Frist ( 23 Abs. 1, 92, 93 BVerfGG) (+) Zwischenergebnis: Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. B. Begründetheit Die Verfassungsbeschwerde ist gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG begründet, wenn der Beschwerdeführer durch die angegriffenen Akte der öffentlichen Gewalt in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist.

18 Fall 6: Volksverhetzung (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 2 I. Verletzung von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG? 1. Schutzbereich a) Persönlicher Schutzbereich (+, s.o. A.II.) b) Sachlicher Schutzbereich Kultur: Ein Jude? als Meinung ( jede wertende Stellungnahme ) oder bloße Tatsachenbehauptung? Jedenfalls Verbindung von Tatsachen mit wertenden Elementen allein durch Art und Weise der Äußerung, daher liegt eine Meinung i.s.v. Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG vor. Schutz der Meinungsfreiheit umfasst auch die öffentliche Äußerung. (+) 2. Eingriff Strafrechtliche Verurteilung knüpft an die Äußerung der Meinung unmittelbar nachteilige Rechtsfolgen; ein Eingriff, also eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs durch staatliches Handeln liegt damit vor. 3. Rechtfertigung a) Schranken Besteht für das Grundrecht eine Schrankenregelung? Hier: Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG. b) Schranken-Schranken Ist der Eingriff von den Schranken des Grundrechts gedeckt? aa) Verfassungsmäßigkeit des einschränkenden Gesetzes (hier: 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB)? (1) Formell Gesetzgebungskompetenz: Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG. (+) (2) Materiell (a) Schranke der allgemeinen Gesetze (Art. 5 Abs. 2 GG) 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB als allgemeines Gesetz? Ein allgemeines Gesetz ist ein Gesetz, das sich nicht gegen das Äußern einer Meinung als solche richtet, sondern vielmehr dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, gegenüber der Meinungsfreiheit vorrangig zu schützenden Rechtsguts dient. Hier: Wird nicht ein bestimmter Meinungsinhalt als eine Meinung als solche verboten? Allgemeines Gesetz dann (+), wenn man berücksichtigt, dass 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB die Menschenwürde unabhängig davon schützen soll, ob die Angriffe durch Meinungsäußerungen oder z.b. durch bloße Tatsachenbehauptungen erfolgen (a.a. vertretbar). Außerdem ist die Menschenwürde ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung gegenüber der Meinungsfreiheit abwägungsfest (vgl. BVerfGE 93, 266 [293]) und stellt damit ein vorrangig zu schützendes Rechtsgut dar. Zudem: Gesetz schützt die persönliche Ehre. (b) Verhältnismäßigkeit (Wechselwirkungslehre) Legitimer Zweck: Schutz vor Angriffen auf die Menschenwürde. (+) Eignung. (+)

19 Fall 6: Volksverhetzung (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 3 Erforderlichkeit. Strafrecht als ultima ratio, hier aber wohl kein gleich wirksames Mittel erkennbar. Erforderlichkeit ist daher gegeben. Angemessenheit Wechselwirkungslehre: Auslegung der beschränkenden Norm im Licht des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG. Da die Menschenwürde per se nicht abwägungsfähig ist (vgl. Art. 1 Abs. 1 GG: unantastbar ), können die Belange der Meinungsfreiheit nicht mehr berücksichtigt werden, soweit die tatbestandlichen Voraussetzungen des 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB erfüllt sind. Allerdings ist die Menschenwürde nicht schon immer dann angegriffen, wenn durch eine Äußerung die Ehre oder das allgemeine Persönlichkeit eines anderen tangiert ist (vgl. BVerfG, NJW 2008, 2907 [2909]). Stattdessen muss die angegriffene Person in erniedrigender Weise geradezu als minderwertiges Wesen behandelt werden (BVerfG, NJW 2001, 61 [63]). Folglich ist eine restriktive Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Menschenwürde im Einklang mit der Deutung von Art. 1 Abs. 1 GG geboten, was zur Verhältnismäßigkeit auch im engeren Sinne führt. 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB ist verfassungsgemäß. bb) Verfassungsmäßigkeit des Einzelaktes Ist die Gesetzesanwendung durch die Strafgerichte verfassungsgemäß? (1) Formell (+) (2) Materiell Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. (a) Legitimer Zweck (+) (b) Eignung (+) (c) Erforderlichkeit (+) (d) Angemessenheit Wechselwirkungslehre: Deutung der Meinungsäußerung im Licht des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG und Normanwendung unter Berücksichtigung des Grundrechts? Deutungsebene: Haben die Strafgerichte den Sinngehalt der Aussage richtig erfasst? Äußerung ist mehrdeutig; dies wurde zutreffend erkannt. Aber: Nazi-Jargon jedenfalls nicht der Form nach; der Begriff Jude als solcher beschreibt zunächst nur eine Religionszugehörigkeit und ist damit inhaltlich neutral. Eine Deutung unter Berücksichtigung des geschichtlichen Hintergrundes ist grds. zulässig, wenn der Gesamtzusammenhang eine solche Deutung nahe legt. Mit Art. 5 Abs. 1 GG wäre es nicht vereinbar, wenn Meinungsäußerungen mit dem Risiko verbunden wären, wegen einer nachfolgenden Deutung einer Äußerung durch die Strafgerichte verurteilt zu werden, die dem objektiven Sinn dieser Äußerung nicht entspricht. Denn der Äußernde darf in der Freiheit seiner Meinungsäußerung nicht aufgrund von Meinungen eingeengt werden, die dem Wortsinn und seinen Absicht nur potentiell, nicht aber tatsächlich entsprechen. Auf eine in einer offenen Aussage vermeintlich verdeckt enthaltene zusätzliche Aussage darf die Verurteilung zu einer Sanktion daher nur gestützt werden, wenn sich die verdeckte Aussage dem angesprochenen Publikum als unabweisbare Schlussfolgerung aufdrängt.

20 Fall 6: Volksverhetzung (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 4 Daher: Entgegen der Ansicht der Strafgerichte ist isolierte Interpretation nicht zulässig, da Sinn der Aussage nicht zureichend erfasst wird. Bei Einbeziehung des gesamten Textes ist durchaus eine Lesart denkbar, die keinen Angriff auf die Menschenwürde enthält (zurückhaltende Interpretation i.s. der Wechselwirkungslehre); volksverhetzender Inhalt drängt sich bei Gesamtschau jedenfalls nicht unabweisbar auf. Daher: Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG auf der Deutungsebene. Verurteilung ist unangemessen und unverhältnismäßig. Zwischenergebnis: Verstoß gegen Grundrechte durch fehlerhafte Auslegung der geäußerten Meinung im Hinblick auf Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG. Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG ist verletzt. II. Verletzung von Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG (Pressefreiheit)? Schutzbereich der Pressefreiheit erfasst nach h.m. nur pressespezifische Betätigungen, nicht aber einen bestimmten Meinungsinhalt (a.a. Spezialität des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG gegenüber Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG mit guter Begründung vertretbar, dann Prüfung als Punkt I.). III. Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG? Wenn der Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG überhaupt die Kundgabe eines bestimmten Meinungsinhalts erfasst, so ist Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG hier lex specialis (str., a.a. Idealkonkurrenz vertretbar). IV. Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG? Art. 2 Abs. 1 GG ist gegenüber Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG subsidiär. Ergebnis: Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet und hat Erfolg.

21 Fall 7: Presseeinsicht ins Grundbuch (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 1 Fall 7: Presseeinsicht ins Grundbuch (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, S. 96 f.) Verletzt die ablehnende Entscheidung den H-Verlag in seinen Grundrechten? A. Verletzung von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG (Informationsfreiheit) I. Persönlicher Schutzbereich Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG i.v.m. Art. 19 Abs. 3 GG. H-Verlag ist inländische juristische Person des Privatrechts. Grundrecht der Informationsfreiheit kann kollektiv betätigt werden, da es nicht an natürliche Eigenschaften des Menschen anknüpft. (+) II. Sachlicher Schutzbereich Grundbuch als allgemein zugängliche Quelle i.s.v. Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG? Allgemein zugänglich ist eine Informationsquelle, wenn sie technisch geeignet und bestimmt ist, der Allgemeinheit, d.h. einem individuell nicht bestimmbaren Personenkreis, Informationen zu verschaffen. Das Grundbuch ist jedermann unter den Voraussetzungen des 12 Abs. 1 GBO (berechtigtes Interesse) und einer entsprechenden positiven Entscheidung des Grundbuchbeamten zugänglich. Steht die Beschränkung des 12 Abs. 1 GBO einer Einstufung als allgemein zugänglich entgegen? Einerseits keine individuelle Bestimmung des Personenkreises, andererseits aber nur eingeschränkte Zugänglichkeit. Aber BVerfG: Schutzbereich der Informationsfreiheit reicht jedenfalls nur so weit, wie der Zugang durch die Rechtsordnung bereits eröffnet ist; daher kein Anspruch auf Eröffnung einer Informationsquelle. Hier keine Eröffnung im Rahmen des 12 Abs. 1 GBO, da es an einer Darlegung des berechtigten Interesses fehlt. Daher Schutzbereich nicht betroffen (streitig, a.a. vertretbar). Keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG (Informationsfreiheit). B. Verletzung von Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG (Pressefreiheit) I. Schutzbereich 1. Persönlicher Schutzbereich Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG i.v.m. Art. 19 Abs. 3 GG. Grundrecht der Pressefreiheit kann kollektiv betätigt werden (und wird typischerweise kollektiv betätigt), weil es nicht an natürliche Eigenschaften des Menschen anknüpft. (+) 2. Sachlicher Schutzbereich Wirtschaftswoche = Presse (jedes zur Verbreitung geeignete und bestimmte Druckerzeugnis). Umfang des Schutzes: Jede pressespezifische Betätigung, insbesondere also auch die Recherche und der Zugang zu öffentlichen Datensammlungen. Insofern besteht also grds. auch ein Leistungsanspruch auf Verschaffung von Informationen. Wie auch sonst bei Leistungsrechten kommt dem Staat bei der Erfüllung allerdings ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Der Anspruch besteht außerdem nicht verfassungsunmittelbar, sondern bedarf der Ausgestaltung durch die Rechtsordnung (vgl. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. I, 5. Aufl. 2005, Art. 5, Rn. 79). (Anmerkung: Die diesem Fall zu Grunde liegende Entscheidung [BVerfG, NJW 2001, 503 ff.] ist hinsichtlich der Frage, ob die abwehrrechtliche oder die leistungsrechtliche Seite des Grundrechts

22 Fall 7: Presseeinsicht ins Grundbuch (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 2 Maßstab der Prüfung ist, nicht eindeutig. Grds. denkbar ist es daher auch, einen Eingriff in die abwehrrechtliche Seite der Pressefreiheit durch die Verweigerung der Einsicht anzunehmen. Dies setzt allerdings voraus, dass man Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG ein umfassendes Recht auf Information - und damit auch auf umfassende und jederzeitige Einsicht in das Grundbuch - entnimmt, das nur ausnahmsweise verkürzt werden darf.) II. Verletzung eines Leistungsrechts Eine Verletzung des Leistungsrechts könnte einerseits in der Vorschrift des 12 Abs. 1 GBO selbst, andererseits aber auch in dessen Anwendung durch die Gerichte im Einzelfall liegen. 1. Verletzung durch 12 Abs. 1 GBO Die Voraussetzung eines berechtigten Interesses für die Grundbucheinsicht begegnet an sich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. 12 Abs. 1 GBO bietet zumindest einen hinreichenden Spielraum für eine verfassungskonforme Auslegung im Hinblick auf die Pressefreiheit im Einzelfall. 12 Abs. 1 GBO ist daher insoweit verfassungsgemäß. 2. Verletzung durch Anwendung im Einzelfall Ist die Anwendung des 12 Abs. 1 GBO durch den Grundbuchbeamten verfassungsgemäß? Dies ist dann nicht der Fall, wenn der Staat - hier in Form des Grundbuchbeamten - die Bedeutung der Pressefreiheit für die Entscheidung über das Einsichtsrecht nicht erkannt oder grundlegend verkannt und damit seinen Gestaltungsspielraum überschritten hat. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn die vorzunehmende Abwägung der Pressefreiheit mit den Persönlichkeitsrechten des Eigentümers (Art. 2 Abs. 1 GG i.v.m. Art. 1 Abs. 1 GG) evident fehlerhaft ist. a) Verfassungsmäßigkeit der Darlegungspflicht Abwägungsentscheidung des Grundbuchbeamten über die Einsichtgewährung setzt Informationen über Grund der Einsichtnahme voraus. Aber: Garantie der freien Presse, keine staatliche Bewertung des Informationsanliegens. Presse darf nach publizistischen Kriterien selbst frei entscheiden. Grundbuchamt darf daher zwar Darlegung eines Informationsinteresses als solches verlangen. Angaben über Einzelheiten können jedoch nicht verlangt werden; auch Recherche auf Verdacht muss möglich sein. Abwägung des Informationsinteresses mit Eigentümerinteressen ist zulässig. Pressefreiheit hat grds. aber immer schon dann Vorrang, wenn ein öffentliches Interesse am Recherchegegenstand besteht, wenn es also um Fragen geht, die die Öffentlichkeit wesentlich angehen und wenn die Recherche der Aufbereitung einer ernsthaften und sachbezogenen Auseinandersetzung dient. Nach dieser Maßgabe stellt die Darlegungspflicht selbst einen angemessenen Ausgleich der kollidierenden Positionen her und ist daher verfassungsgemäß. b) Verfassungsmäßigkeit der Anhörung des Eigentümers Das Anhörungserfordernis gefährdet die Pressefreiheit, indem dem Eigentümer die Recherche mitgeteilt und damit das Rechercheziel gefährdet wird. 12 Abs. 1 GBO sieht ein solches Anhörungserfordernis nicht vor; der Gesetzgeber hat sich bei Schaffung der GBO vielmehr einen Ausgleich ohne eine solche Anhörung im Einzelfall vorgestellt. Der Ausgleich kollidierender Positionen obliegt jedoch zunächst dem Gesetzgeber. Soweit er keine gesetzliche Grundlage für eine Anhörung geschaffen hat, kann ein grundsätzliches Anhörungserfordernis nicht eigenmächtig vom Grundbuchbeamten bzw. den Gerichten aufgestellt werden. Daher: Anhörungserfordernis ist verfassungswidrig. Der Grundbuchbeamte hätte dementsprechend nach Ablehnung der Anhörung des Eigentümers durch den H-Verlag den Antrag nicht zurückweisen dürfen. Die Entscheidung des Grundbuchbeamten verletzt insoweit das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG (Pressefreiheit).

23 Fall 7: Presseeinsicht ins Grundbuch (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 3 C. Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG (Berufsfreiheit) Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG ist lex specialis (str., a.a. Idealkonkurrenz vertretbar). (-) D. Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG? Art. 2 Abs. 1 GG ist gegenüber Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG subsidiär. (-) Ergebnis: Die ablehnende Entscheidung verletzt den H-Verlag in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG.

24 Fall 8: Pornografie als Kunst? (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 1 Fall 8: Pornografie als Kunst? (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, S. 114) Verletzt die Untersagung Grundrechte des B? A. Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG I. Schutzbereich 1. Persönlicher Schutzbereich Ist auch der Buchhändler Träger der Kunstfreiheit? BVerfG: Ja, Grundrechtsträgerschaft auch des unentbehrlichen Mittlers von Kunst. 2. Sachlicher Schutzbereich a) Ist der Roman Josephine Mutzenbacher Kunst? Definition von Kunst: Drei kumulativ anwendbare Kunstbegriffe des BVerfG. Materialer Kunstbegriff: Künstlerische Betätigung als die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden. Hier: Roman als schöpferische Erzählung, mittels derer ein bestimmtes Thema dargestellt wird. (+) Formaler Kunstbegriff: Zuordnung von Kunstwerken zu einem bestimmten Werktyp. Hier: Roman. (+) Offener Kunstbegriff: Betonung der Mannigfaltigkeit des Aussagegehalts der künstlerischen Äußerungen. Hier: Interpretationsfähigkeit des Romans. (+) Hier: Nach allen Kunstbegriffen ist der Roman als Kunst zu bezeichnen. Kein Entfallen der Eigenschaft als Kunst wegen des - zweifellos - pornografischen Charakters des Werks. b) Reichweite der Kunstfreiheit Erstreckung des Schutzbereichs über den sog. Werkbereich hinaus auch auf den Bereich der Darbietung und Verbreitung (sog. Wirkbereich). (+) II. Eingriff (+) III. Rechtfertigung 1. Schranken Keine ausdrückliche Schranke vorgesehen, Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG ist vorbehaltlos gewährt. Übertragung der Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG ( Schrankenleihe )? Wortlaut ( Diese Rechte... ) bezieht sich ausschließlich auf Art. 5 Abs. 1 GG. Systematik, Schrankenregelung folgt üblicherweise dem Grundrecht, geht ihm aber nicht voraus. Daher: Keine Schrankenleihe möglich. Schranke des kollidierenden Verfassungsrechts ( verfassungsimmanente Schranken ). Vorbehaltlose Grundrechte werden durch kollidierende Verfassungsgüter, insbesondere die Grundrechte Dritter begrenzt.

25 Fall 8: Pornografie als Kunst? (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 2 Kollision nur dann, wenn dem Eingriffsverbot, welches das vorbehaltlose Grundrecht enthält, eine hinreichend konkrete Handlungspflicht aus der Verfassung entgegensteht. Besteht also im Einzelfall eine Handlungspflicht, die den Staat zu einem Grundrechtseingriff zwingen kann? Hier: Schutzpflicht des Staates für die Jugend (vgl. Art. 5 Abs. 2; 6 Abs. 2; 2 Abs. 1 GG i.v.m. Art. 1 Abs. 1 GG). 2. Schranken-Schranken Ist der Eingriff von den Schranken der Kunstfreiheit gedeckt? a) Verfassungsmäßigkeit des einschränkenden Gesetzes ( 3 Abs. 1 Nr. 2, 6 Nr. 2 und 3 GjSM) aa) Formell (+) bb) Materiell Kollision von zwei verfassungsrechtlichen Pflichten (Eingriffsverbot / Schutzpflicht) erfordert einen schonenden Ausgleich der Positionen im Sinne praktischer Konkordanz. Mittels einer Abwägung ist zu bestimmen, ob das Maß an Schutz durch das GjSM im Hinblick auf die Kunstfreiheit verhältnismäßig ist. (1) Legitimer Zweck Schutz der Jugend (+). (2) Eignung, Erforderlichkeit (+) (3) Angemessenheit Angemessener Ausgleich der kollidierenden Verfassungsrechtsgüter durch das GjSM ( praktische Konkordanz )? Reichweite der Handlungspflicht (Schutzpflicht)? Welches Maß an Schutz verlangt das Untermaßverbot? Einerseits: Zulässige gesetzgeberische Einschätzung, dass Schriften Kinder und Jugendliche sittlich zu gefährden im Stande sind. Die Schutzpflicht für die Jugend kann daher durchaus auch Verbote etc. erfordern. Andererseits: Kunstfreiheit erstreckt sich auch auf ungewohnte, provokative Formen, die - möglicherweise - mit anderen Rechtsgütern in Konflikt kommen. Die staatliche Schutzpflicht (Untermaßverbot) reicht nicht so weit, dass sie zu einem generellen Zurücktreten entgegenstehender Belange führt. Folge: Gesetzgeber darf nicht generell Vorrang einräumen, sondern muss Raum für Abwägung lassen. 6 Nr. 2, 3 GjSM ist danach verfassungswidrig und nichtig, wenn eine Ausnahme für Kunstwerke generell ohne Abwägung im Einzelfall ausgeschlossen ist. Verfassungskonforme Auslegung von 6 GjSM? BVerfG: Erstreckung des Kunstvorbehalts des 1 Abs. 2 Nr. 2 GjSM auch auf 6 GjSM, obwohl pornografische Schriften nach 6 Nr. 2 GjSM nicht in die Liste aufgenommen werden müssen, um Beschränkungen in Kraft zu setzen. Aber: Abwägung im Einzelfall, ob der Kunstfreiheit oder dem Jugendschutz der Vorrang zukommt. Nur wenn der Kunstfreiheit der Vorrang zukommt, findet der Kunstvorbehalt Anwendung. Das Untermaßverbot erfordert 6 GjSM nur insoweit, wie es im Einzelfall unter Berücksichtigung entgegenstehender Grundrechte Maßnahmen ermöglicht. In der Auslegung durch das BVerfG ist das GjSM angemessen. b) Verfassungsmäßigkeit des Einzelaktes Einzelfallabwägung zwischen Jugendschutz und Kunstfreiheit bei der Anwendung des GjSM?

26 Fall 8: Pornografie als Kunst? (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 3 aa) Legitimer Zweck Jugendschutz als kollidierendes Verfassungsrechtsgut. (+) bb) Eignung der Untersagung (+) cc) Erforderlichkeit (+) Verbot des Verkaufs nur an Jugendliche als milderes Mittel? Nein, weil weniger effektiv; Roman könnte trotzdem in die Hände von Kindern und Jugendlichen gelangen. dd) Angemessenheit Angemessener Ausgleich der kollidierenden Verfassungsrechtsgüter durch das GjSM ( praktische Konkordanz)? Erfordert die Schutzpflicht (Untermaßverbot) ein Verbot im Einzelfall? Erforderlich ist, dass das die Schutzpflicht erfüllende Organ selbst eine ausreichende Abwägung der kollidierenden Belange vorgenommen hat, um die Anforderungen des Untermaßverbots zu bestimmten. Die Schutzpflicht erfordert nicht unbedingt ein Verbot etc. Sie verlangt aber stets, dass das zuständige Organ sich mit der Gefährdung und allen damit zusammenhängenden Belangen auseinandersetzt und eine eigene Abwägung und Gewichtung vornimmt. Abwägungsgesichtspunkte u.a.: Schädigender Einfluss der konkreten Schrift (abstrakter Hinweis auf Pornografie reicht nicht aus), ggf. Beurteilung durch Sachverständige. Maß der Einbindung der gefährdenden Passagen in künstlerisches Gesamtkonzept? Echo des Werkes beim Publikum ( künstlerische Bedeutung ). Abwägung hier unzureichend (a.a. vertretbar, dann müssten die Anforderungen des Untermaßverbots hinterfragt werden). Zwischenergebnis: Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG ist verletzt. B. Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG (Pressefreiheit) Verbot des Vertriebs unterfällt wohl als pressespezifische Betätigung dem Schutzbereich der Pressefreiheit, jedoch ist nach h.m. Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG lex specialis. (-) C. Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG (Meinungsfreiheit) Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG ist lex specialis. (-) D. Art. 12 Abs. 1 GG Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG ist lex specialis (h.m., a.a. vertretbar). (-) E. Art. 14 Abs. 1 GG Schutzbereich nicht betroffen, da nur Erwerbschancen bzw. Verdienstmöglichkeiten beeinträchtigt. (-) F. Art. 2 Abs. 1 GG? Art. 2 Abs. 1 GG ist gegenüber Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG subsidiär. (-) Ergebnis: Das Verbot verletzt B in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG.

27 Fall 9: Zuchtforschung (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 1 Fall 9: Zuchtforschung (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, S. 117 f.) Die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG; 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG) der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) hat Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist. A. Zulässigkeit I. Zuständigkeit des BVerfG Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG. (+) II. Beteiligtenfähigkeit Ist die MHH Jedermann i.s.d. 90 Abs. 1 BVerfGG? Ja, wenn die MHH Trägerin der in Betracht kommenden Grundrechte aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG (Wissenschaftsfreiheit), Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG jeweils i.v.m. Art. 19 Abs. 3 GG ist? 1. Inländisch i.s.v. Art. 19 Abs. 3 GG (+) 2. Juristische Person i.s.v. Art. 19 Abs. 3 GG? MHH ist juristische Person des öffentlichen Rechts. Erfasst Art. 19 Abs. 3 GG auch juristische Personen des öffentlichen Rechts? Grds. nein, Art. 19 Abs. 3 GG erfasst in systematischer und teleologischer Auslegung nur juristische Personen des Privatrechts. Aber: MHH wird als wissenschaftliche Hochschule unmittelbar im grundrechtlich geschützten Wissenschaftsbereich tätig. Ebenso wie natürliche Personen ist die Hochschule, die eine Zusammenfassung unabhängiger Wissenschaftler darstellt und deshalb die nötige Staatsferne aufweist, einer grundrechtstypischen Gefährdungslage ausgesetzt. Zugleich dient sie den dort beschäftigten Wissenschaftlern zur Verwirklichung ihrer Wissenschaftsfreiheit; sie weist insofern ein personales Substrat auf. Daher erfasst Art. 19 Abs. 3 GG hier ausnahmsweise die MHH als juristische Person des öffentlichen Rechts; allerdings ausschließlich im Hinblick auf Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG. Keine Grundrechtsträgerschaft im Hinblick auf Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG. 3. Grundrecht seinem Wesen nach anwendbar (Art. 19 Abs. 3 GG)? Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG knüpft nicht an natürliche Eigenschaften des Menschen an und kann daher auch korporativ betätigt werden; wesensmäßige Anwendbarkeit ist gegeben. Die MHH ist selbst Trägerin des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG i.v.m. Art. 19 Abs. 3 GG und insoweit beteiligtenfähig. III. Beschwerdegegenstand (+) 90 Abs. 1 BVerfGG: Akt öffentlicher Gewalt. Hier: Ablehnende Entscheidung der Verwaltung und bestätigende Urteile der Verwaltungsgerichte. IV. Beschwerdebefugnis (+) 90 Abs. 1 BVerfGG: Behauptung einer Grundrechtsverletzung.

28 Fall 9: Zuchtforschung (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 2 1. Geltendmachung einer Grundrechtsverletzung Verletzung von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG erscheint nach dem Vortrag der Beschwerdeführerin zumindest als möglich. 2. Selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen (+) V. Erschöpfung des Rechtswegs und Grundsatz der Subsidiarität Erschöpfung des Rechtswegs ( 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG). (+) Subsidiarität (Problem stellt sich i.d.r. nicht bei Urteilsverfassungsbeschwerden). VI. Ordnungsgemäßer Antrag, Frist ( 23 Abs. 1, 92, 93 BVerfGG) (+) Zwischenergebnis: Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. B. Begründetheit Die Verfassungsbeschwerde ist gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG begründet, wenn die Beschwerdeführerin durch die angegriffenen Akte der öffentlichen Gewalt in einem ihrer Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist. I. Verletzung von Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG? 1. Schutzbereich a) Persönlicher Schutzbereich (+, s.o. A.II.) b) Sachlicher Schutzbereich Zuchtprojekt als Wissenschaft i.s.v. Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG (ernsthafter planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit). Umfang der Wissenschaftsfreiheit: Nicht bloß Forschungsinhalt, sondern auch wissenschaftliche Betätigungsfreiheit. (+) 2. Eingriff (+) 3. Rechtfertigung a) Schranken Art. 5 Abs. 3 S. 2 GG bereits sachlich nicht einschlägig. Art. 5 Abs. 2 GG ist nicht auf Art. 5 Abs. 3 GG anwendbar (vgl. Fall 8). Sonst keine ausdrückliche Schranke vorgesehen, Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG ist vorbehaltlos gewährt. Begrenzung auch vorbehaltloser Grundrechte durch kollidierende Verfassungsgüter, insbesondere durch Grundrechte Dritter. Kollision nur dann, wenn dem Eingriffsverbot, welches das vorbehaltlose Grundrecht enthält, eine hinreichend konkrete Handlungspflicht aus der Verfassung entgegensteht. Besteht also im Einzelfall eine Handlungspflicht, die den Staat zu einem Grundrechtseingriff zwingen kann? Tierschutz als kollidierendes Verfassungsrecht (Art. 20a GG)? Streitig, ob aus Staatszielbestimmungen kollidierendes Verfassungsrecht abgeleitet werden kann und insofern Grundrechtseingriffe hierauf gestützt werden können: Dafür: Tierschutz als Aufgabe von Verfassungsrang; formelle Gleichrangigkeit mit den Grundrechten.

29 Fall 9: Zuchtforschung (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 3 Aber: Aus Art. 20a GG müssten sich konkrete Handlungspflichten und nicht bloß ein genereller Auftrag ergeben. Staatszielbestimmungen wie Art. 20a GG sind unbestimmt und enthalten keine konkrete Aussage über Art und Umfang des erforderlichen Tierschutzes. Aber: Art. 20a GG verpflichtet den Staat, ein Minimum an Tierschutz sicherzustellen, damit das Tierschutzgebot nicht verletzt ist. In Bezug auf dieses Minimum besteht eine Handlungspflicht. Art. 20a GG kann daher grundsätzlich als kollidierendes Verfassungsrecht herangezogen werden, soweit der Staat das unabdingbare Minimum sicherstellen will. b) Schranken-Schranken Ist der Eingriff von den Schranken der Wissenschaftsfreiheit gedeckt? aa) Verfassungsmäßigkeit der Eingriffsgrundlage ( 11b Abs. 1 TierSchG) Hinsichtlich der formellen Verfassungsmäßigkeit bestehen keine Zweifel. Bei Kollision von zwei verfassungsrechtlichen Pflichten (Eingriffsverbot / Art. 20a GG) ist ein schonender Ausgleich der Positionen im Sinne praktischer Konkordanz herzustellen. Mittels einer Abwägung ist zu bestimmen, welches Maß an Schutz im Hinblick auf die Mindestanforderungen des Tierschutzgebots verhältnismäßig ist. (1) Legitimer Zweck Tierschutz. (+) (2) Eignung (+) (3) Erforderlichkeit (+) (4) Angemessenheit Angemessener Ausgleich der kollidierenden Verfassungsrechtsgüter im Einzelfall ( praktische Konkordanz )? Reichweite der konkreten Handlungspflicht aus Art. 20a GG? Welches Maß an Schutz erzwingt die Verfassung als Minimum? Von Tierschutz kann dann keine Rede mehr sein, wenn Tieren ohne jeden Grund erhebliche Leiden zugefügt werden dürfen oder aber extreme Qualen zugelassen sind. Daher besteht insoweit eine Pflicht des Staates zum Handeln. 11b Abs. 1 TierSchG enthält generelles Verbot ohne jede Ausnahmemöglichkeit, daher empfindlicher Eingriff in Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG, der dem Tierschutz entgegensteht. Aber: 11b Abs. 1 TierSchG knüpft Untersagung an besondere Voraussetzungen. Allerdings genügen jegliche zu erwartenden Schäden und Schmerzen für Verbot. Daher: Verfassungskonforme Auslegung dahingehend, dass Schäden und Schmerzen erheblich sein müssen. Derartige Auslegung möglich. 11b Abs. 1 TierSchG bewegt sich im Rahmen der staatlichen Handlungspflicht aus Art. 20a GG und ist verfassungsgemäß. bb) Verfassungsmäßigkeit der Gesetzesanwendung Hier waren erhebliche Qualen für die Zuchttiere sicher anzunehmen. Daher ist das Verbot im Einzelfall verhältnismäßig und verfassungsgemäß. Das Verbot verstößt nicht gegen Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG. II. Weitere Grundrechte? MHH ist als juristische Person des öffentlichen Rechts nicht Trägerin weiterer Grundrechte (s.o. A.II.). Ergebnis: Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist unbegründet; sie hat daher keinen Erfolg.

30 Fall 10: Kopftuch (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 1 Fall 10: Kopftuch (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, S. 124 f.) Die Verfassungsbeschwerde der M hat Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist. A. Zulässigkeit I. Zuständigkeit des BVerfG Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG. (+) II. Beschwerdefähigkeit 90 Abs. 1 BVerfGG: Jedermann, der Träger der in Betracht kommenden Grundrechte ist. M ist Trägerin der in Betracht kommenden Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1, 2 GG und Art. 2 Abs. 1 GG und ist damit gemäß 90 Abs. 1 BVerfGG als Jedermann beschwerdefähig. Ihre Beamteneigenschaft hat keinen Einfluss auf ihre Grundrechtsträgerschaft. III. Beschwerdegegenstand 90 Abs. 1 BVerfGG: Akt öffentlicher Gewalt. Hier: Vom Schulamt erlassenes Verbot, ein Kopftuch während des Unterrichts zu tragen, sowie die dem entsprechenden Gerichtsurteile sind Akte öffentlicher Gewalt und damit taugliche Beschwerdegegenstände. IV. Beschwerdebefugnis 90 Abs. 1 BVerfGG: Behauptung einer Grundrechtsverletzung. 1. Geltendmachung einer Grundrechtsverletzung Verletzung der Art. 4 Abs. 1, 2 GG und Art. 2 Abs. 1 GG sowie des Art. 33 Abs. 3 GG erscheint nach dem Vortrag des Beschwerdeführers als möglich. 2. Selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen (+) V. Erschöpfung des Rechtswegs und Grundsatz der Subsidiarität (+) VI. Ordnungsgemäßer Antrag, Frist ( 23 Abs. 1, 92, 93 BVerfGG) (+) Zwischenergebnis: Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. B. Begründetheit Die Verfassungsbeschwerde ist gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG begründet, wenn die Beschwerdeführerin durch die angegriffenen Akte der öffentlichen Gewalt in einem ihrer Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte tatsächlich verletzt ist.

31 Fall 10: Kopftuch (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 2 I. Art. 4 Abs. 1, 2 GG 1. Schutzbereich a) Persönlicher Schutzbereich (+, s.o. A.II.) b) Sachlicher Schutzbereich Verfassungstext: Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses (Art. 4 Abs. 1 GG); ungestörte Religionsausübung (Art. 4 Abs. 2 GG). BVerfG: Einheitlicher Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1, 2 GG als umfassende Religionsfreiheit: Recht jedes Menschen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner Überzeugung gemäß zu handeln. Religion: Nicht bloß christliche Religionen, sondern auch andere/neue Religionen werden erfasst, der Islam ist eine Religion. Hier: Tragen des Kopftuchs Teil des religiösen Bekenntnisses? Ansonsten als glaubensgeleitetes Handeln jedenfalls nach der weiten Definition des BVerfG vom Schutzbereich erfasst. Möglicherweise fallen solche Sachverhalte aus dem Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1, 2 GG heraus, die die Durchführung beamtenrechtlicher Pflichten betreffen. Das BVerfG hat allerdings festgestellt, dass der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung von Dienstpflichten für den öffentlichen Dienst zwar grundsätzlich eine weite Gestaltungsfreiheit hat. Jedoch ergäben sich Grenzen dieser Gestaltungsfreiheit aus den Wertentscheidungen in anderen Verfassungsnormen; insbesondere die Grundrechte setzen der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers Schranken. Auch im Beamtenverhältnis beanspruchen die Grundrechte Geltung, wobei der Pflichtenkreis des Beamten gemäß Art. 33 Abs. 5 GG dessen rechtliche Möglichkeit begrenzt, von Grundrechten Gebrauch zu machen. Anmerkung: Die abweichende Meinung zu BVerfGE 108, 282 ff., hält die Anwendung von Art. 4 Abs. 1, 2 GG für fehlerhaft, da sich Beamte nicht gleichermaßen gegenüber ihrem Dienstherrn auf Grundrechte berufen könnten wie der einzelne Bürger - z.b. die Schüler - gegenüber dem Staat: Die Senatsmehrheit nimmt zu Unrecht einen schwer wiegenden Eingriff in die Religions- und Weltanschauungsfreiheit der Beschwerdeführerin an, um einen Gesetzesvorbehalt zu rechtfertigen. Damit verkennt sie die funktionelle Begrenzung des Grundrechtsschutzes für Beamte. Im Fall des Zugangs zu einem öffentlichen Amt gibt es keine offene Abwägungssituation gleichwertiger Rechtsgüter; das für die Grundrechtsverwirklichung wesentliche Rechtsverhältnis in der Schule wird in erster Linie durch den Grundrechtsschutz von Schülern und Eltern geprägt. Wer Beamter wird, stellt sich in freier Willensentschließung auf die Seite des Staates. Der Beamte kann sich deshalb nicht in gleicher Weise auf die freiheitssichernde Wirkung der Grundrechte berufen wie jemand, der nicht in die Staatsorganisation eingegliedert ist. In Ausübung seines öffentlichen Amtes kommt ihm deshalb das durch die Grundrechte verbürgte Freiheitsversprechen gegen den Staat nur insoweit zu, als sich aus dem besonderen Funktionsvorbehalt des öffentlichen Dienstes keine Einschränkungen ergeben. Der beamtete Lehrer unterrichtet auch im Rahmen seiner persönlichen pädagogischen Verantwortung nicht in Wahrnehmung eigener Freiheit, sondern im Auftrag der Allgemeinheit und in Verantwortung des Staates. Beamtete Lehrer genießen deshalb bereits vom Ansatz her nicht denselben Grundrechtsschutz wie Eltern und Schüler: Die Lehrer sind vielmehr an Grundrechte gebunden, weil sie teilhaben an der Ausübung öffentlicher Gewalt. (...) Diese besondere von Art. 33 Abs. 5 GG verfassungsrechtlich abgesicherte Pflichtenstellung überlagert den grundsätzlich auch für Beamte geltenden Schutz der Grundrechte. (Abweichende Meinung der Richter Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff, BVerfGE 108, 282 [314 ff.]; hieran anschließend bspw. Frenz, JA 2009, 493 [496], der Art. 4 GG mit Blick auf die Neutralitäts- und Mäßigungspflicht der Beamten durch Art. 33 Abs. 5 GG überlagert sieht). 2. Eingriff Die Verbotsverfügung durch das Schulamt, während des Unterrichts ein Kopftuch zu tragen, ebenso wie die Gerichtsurteile machen der M das Kopftuchtragen als Teil ihres glaubensgeleiteten Verhaltens in der Unterrichtszeit unmöglich. Ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1, 2 GG ist demzufolge gegeben.

32 Fall 10: Kopftuch (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 3 3. Rechtfertigung a) Schranken aa) Art. 4 Abs. 1, 2 GG? Vorbehaltlose Gewährleistung nach dem Text des Art. 4 GG. (-) bb) Art. 140 GG i.v.m. Art. 136 Abs. 1 WRV? Allgemeiner Gesetzesvorbehalt? (1) Wortlaut Staatsbürgerliche ( ) Pflichten werden nicht beschränkt. (+) (2) Systematik Stellung des Art. 140 GG i.v.m. Art. 136 Abs. 1 WRV im Bereich Übergangs- und Schlussbestimmungen. Daher: Überlagerung der Art. 140 GG i.v.m. Art. 136 Abs. 1 WRV durch Art. 4 Abs. 1, 2 GG? Aber: Art. 140 GG i.v.m. Art. 136 Abs. 1 WRV sind vollgültiges Verfassungsrecht (so auch BVerfG). Zudem: Überlagerung setzt Art. 140 GG i.v.m. Art. 136 Abs. 1 WRV faktisch außer Kraft. (+/-) (3) Sinn und Zweck Bedeutung der Religionsfreiheit könnte Gesetzesvorbehalt entgegenstehen. Aber: Sehr weiter Schutzbereich nach BVerfG führt zu einer Häufung von Konflikten. Ohne Gesetzesvorbehalt verliert der Staat an Steuerungsmöglichkeiten. Zudem: Wieso ist Art. 4 Abs. 1, 2 GG schlechthin bedeutender als andere Grundrechte mit Gesetzesvorbehalten? (+/-) (4) Entstehungsgeschichte Über Gesetzesvorbehalt für Art. 4 Abs. 1, 2 GG wurde im Parlamentarischen Rat diskutiert; der Vorgängerartikel Art. 135 WRV stand unter einfachem Gesetzesvorbehalt. Daher: Wille des Verfassungsgebers zur vorbehaltlosen Gewährleistung? Aber: Art. 140 GG i.v.m. Art. 136 Abs. 1 WRV wurde bewusst übernommen, was gegen eine vorbehaltlose Gewährleistung spricht. Außerdem wesentlich engeres Schutzbereichsverständnis im Parlamentarischen Rat. Weites Schutzbereichsverständnis des BVerfG relativiert daher etwaigen Willen des Verfassungsgebers zur vorbehaltlosen Gewährleistung ohnehin. Schon daher bloße Indizwirkung historischer Vorstellungen. (+/-) Art. 140 GG i.v.m. Art. 136 Abs. 1 WRV enthält allgemeinen Gesetzesvorbehalt (a.a. gut vertretbar, dann Lösung über kollidierendes Verfassungsrecht. Als kollidierende Verfassungsrechte kommen beispielsweise die Pflichten, das Erziehungsrecht der Eltern sowie die negative Glaubensfreiheit der Schüler zu schützen, in Betracht. Eine Beschränkung der Religionsfreiheit ist aber nur dann verhältnismäßig, wenn die Schutzpflichten das Verbot des Kopftuchs im Unterricht erfordern, der Staat andernfalls also gegen das Untermaßverbot verstoßen würde.). b) Schranken-Schranken Ist der Eingriff von den Schranken des Grundrechts gedeckt? aa) Verfassungsmäßigkeit des einschränkenden Gesetzes Für Eingriffe in Grundrechte gilt der Vorbehalt des Gesetzes, d.h. die Untersagung des Schulamts muss auf ein Gesetz zurückzuführen sein.

33 Fall 10: Kopftuch (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 4 (1) 2 RelEntfG Welche Anforderungen das Gesetz zu erfüllen hat, ergibt sich aus der Wesentlichkeitstheorie. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, die Schranken der widerstreitenden Freiheitsgarantien jedenfalls so weit selbst zu bestimmen, wie eine solche Festlegung für die Ausübung dieser Freiheitsrechte wesentlich ist. Das Verbot, ein Kopftuch zu tragen, greift in das Grundrecht auf Religionsfreiheit der betroffenen Lehrerin ein, welches aufgrund seiner exponierten Stellung im System der Grundrechte (vgl. nur Sodan, in: ders., GG, Art. 4 Rdnr. 1) und wegen des umfassenden Schutzes jedweder Religion und Weltanschauung erhöhte Anforderungen an die Bestimmtheit der gesetzlichen Eingriffsgrundlage stellt. Das RelEntfG muss zudem verhältnismäßig sein. (a) Bestimmtheit BVerwG, NJW 2004, 3581 ff.: Inhaltlich ist insbesondere die Regelung in 2 Abs. 1 S. 1 RelEntfG hinreichend bestimmt. Sie lässt die von ihr erfassten Schutzgüter - die Neutralität des Landes und den Schulfrieden - erkennen. Sie knüpft allein an die abstrakte Eignung eines Verhaltens an, diese Schutzgüter zu gefährden oder zu stören. Sie erfasst, dem generellen Charakter eines Gesetzes entsprechend, jegliche Art von Bekundungen, also auch mündliche oder schriftliche Äußerungen sowie, was 2 Abs. 1 S. 2 RelEntfG klarstellt, auch jedes sonstige äußere Verhalten. Die bewusste Wahl einer religiös oder weltanschaulich bestimmten Kleidung fällt ohne weiteres unter diese Regelung. Die Bestimmtheit des Satzes 1 wird auch nicht durch die gesetzliche Klarstellung in 2 Abs. 2 RelEntfG in Frage gestellt. Die Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte von neutraler Warte ist etwas anderes als die Bekundung eines individuellen Bekenntnisses. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun, weil es bei der Darstellung nicht um persönliche innere Verbindlichkeit geht, die der Darstellende für sich anerkennen müsste. Auch kann und darf es nicht um missionarisches Werben für ein bestimmtes Glaubensbekenntnis gehen. Hiernach lässt sich der Klarstellung in Abs. 2 eine zusätzliche Präzisierung dessen entnehmen, was in Abs. 1 S. 1 mit Bekundung gemeint ist, und nicht etwa eine Unklarheit oder Widersprüchlichkeit ( ). (b) Legitimer Zweck Sicherstellung des schulischen Erziehungsauftrags (Art. 7 Abs. 1 GG), indem das äußere Verhalten der Lehrkräfte nicht im Widerspruch zur Menschenwürde und zur Gleichberechtigung von Mann und Frau nach Art. 3 Abs. 2, 3 GG stehen darf. Schutz der negativen Religionsfreiheit der Schüler sowie des Erziehungsrechts der Eltern in religiösen Dingen (Art. 6 Abs. 2 i.v.m. Art. 4 Abs. 1, 2 GG, Art. 4 Abs. 1, 2 GG), da gerade in der Schule unterschiedliche religiöse und weltanschauliche Überzeugungen aufeinander treffen. Nach 2 Abs. 1 S. 1 dient das RelEntfG auch dem Schutz der religiösen Neutralität des Staates (die Pflicht des Staates zu weltanschaulich religiöser Neutralität ergibt sich aus der Verfassung; vgl. Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3 S. 1, Art. 33 Abs. 3 GG, Art. 140 GG i.v.m. Art. 136 Abs. 2, 137 Abs. 1 WRV). Über Art. 33 Abs. 5 GG ergeben sich besondere Bindungen des Beamten an staatliche Vorgaben. (c) Eignung Dem RelEntfG fehlt allerdings die Eignung, die Neutralität des Staates in religiösen Angelegenheiten zu fördern. Denn wie sich aus dessen 2 Abs. 2 ergibt, sind christliche Religionsbekundungen vom Verbot des Abs. 1 ausgenommen. Die christliche Religion ist auch nicht eine Art Staatsreligion; eine solche kann nicht aus dem Grundgesetz abgeleitet werden. Auch das Bekenntnis zur christlichen Religion verstößt gegen die Neutralitätspflicht des Staates. Dementsprechend kann das RelEntfG nicht den Schutz der negativen Religionsfreiheit fördern, da die negative Religionsfreiheit gegen sämtliche Religionen gerichtet ist. Anders aber BVerwG, NJW 2004, 3581 ff.: Eine unzulässige Bevorzugung der christlichen Konfession ist mit der Klarstellung in 2 Abs. 3 RelEntfG nicht verbunden. Der hier verwendete Begriff des Christlichen ist im Sinne des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Dezember 1975 (BVerfGE 41, 29 [52]) auszule-

34 Fall 10: Kopftuch (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 5 gen. Er bezeichnet ungeachtet seiner Herkunft aus dem religiösen Bereich eine von Glaubensinhalten losgelöste, aus der Tradition der christlich-abendländischen Kultur hervorgegangene Wertewelt, die erkennbar auch dem Grundgesetz zu Grunde liegt und unabhängig von ihrer religiösen Fundierung Geltung beansprucht. Hierzu gehören etwa die Auffassung von der unverfügbaren und unantastbaren Menschenwürde (Art. 1 GG), von der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 GG), von der Gleichheit aller Menschen und Geschlechter (Art. 3 GG) und von der Religionsfreiheit einschließlich der negativen Glaubensfreiheit (Art. 4 GG). Weiter umfasst der Begriff humane Werte wie Hilfsbereitschaft, Sorge für und allgemeine Rücksichtnahme auf den Nächsten sowie Solidarität mit den Schwächeren. Der Auftrag zur Weitergabe christlicher Bildungs- und Kulturwerte verpflichtet oder berechtigt die Schule deshalb keineswegs zur Vermittlung bestimmter Glaubensinhalte, sondern betrifft Werte, denen jeder auf dem Boden des Grundgesetzes stehende Beamte unabhängig von seiner religiösen Überzeugung vorbehaltlos zustimmen kann. Dasselbe gilt von der Bezugnahme auf die ( ) Verfassung des Landes Baden-Württemberg. In diesen Artikeln ist die Pflicht des Landes festgelegt, in den öffentlichen Volksschulen in der Schulform der christlichen Gemeinschaftsschule die Kinder in Ehrfurcht vor Gott, im Geiste der christlichen Nächstenliebe zur Brüderlichkeit aller Menschen und zur Friedensliebe, zur Liebe zu Volk und Heimat, zu sittlicher und politischer Verantwortung, zu beruflicher und sozialer Bewährung und zu freiheitlicher demokratischer Gesinnung zu erziehen. Auch hier bezieht sich die baden-württembergische Verfassung auf christliche Tugenden und nicht auf spezielle Glaubensinhalte. Hinsichtlich der anderen Zwecke Eignung. (+) Anmerkung zur anderen Ansicht: Die Landesregierung in Baden-Württemberg geht wohl von der christlichen und der jüdischen Religion als einer Art Staatsreligion aus, deren Förderung der staatlichen Neutralität nicht widerspricht: Die Anknüpfung an die grundsätzliche Entscheidung der Landesverfassung zur Erziehung im Geiste der christlichen Nächstenliebe (Artikel 12 Abs. 1) und in christlichen Gemeinschaftsschulen (Artikel 15 Abs. 1, 16 Abs. 1) auf der Grundlage christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte (Artikel 16 Abs. 1) verbindet die sachangemessene Austarierung des staatlichen Erziehungsauftrags mit den betroffenen Grundrechten nach Maßgabe der bisherigen Leitentscheidungen des baden-württembergischen Gesetzgebers. Der Rückgriff auf die Landesverfassung berücksichtigt in Übereinstimmung mit dem BVerfG-Urteil die Verfassungstradition des Landes Baden-Württemberg hinsichtlich christlicher und abendländischer Erziehungswerte und Schulen; sie anerkennt z.b. die Beiträge der christlichen und jüdischen Religionen dazu. Entsprechende Darstellungen durch Lehrkräfte, die derartige kulturelle Traditionen und Bildungswerte bekunden, fallen deshalb nicht unter Satz 1. (BT-Drucksache 13/2793). Das BVerwG schließt sich dem an und leitet aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG expressis verbis keinen Anspruch beamteter Lehrer her, ihre religiöse oder weltanschauliche Überzeugung durch entsprechende Kleidungsstücke oder Symbole im Bereich der öffentlichen Schule, insbesondere im Unterricht, zum Ausdruck zu bringen. Dies gelte auch dann, wenn das entsprechende Gesetz die Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen von diesem Verhaltensgebot ausnehme, denn darin liege in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BVerfG keine Bevorzugung des christlichen Glaubens. Vielmehr seien dies vom Glaubensinhalt losgelöste Werte, denen jeder auf dem Boden des Grundgesetzes stehende Beamte unabhängig von seiner religiösen Überzeugung vorbehaltlos zustimmen könne (so zuletzt BVerwG, NJW 2009, 1289 [1290]). Dieser Linie folgend, sah der EGMR (NJW 2001, 2871 ff.) schon 2001 in dem Verbot, bei der Ausübung der Lehrtätigkeit ein islamisches Kopftuch zu tragen, keinen Verstoß gegen die Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK, da der Eingriff im Sinne von von Art. 9 Abs. 2 EMRK gesetzlich vorgesehen sei, ein berechtigtes Ziel verfolge, in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sei und damit im Ergebnis nicht unverhältnismäßig sei. Demgegenüber VG Stuttgart, NVwZ 2006, 1444 (1447), dessen Entscheidung aber durch den VGH Mannheim (VBlBW 2008, 437 ff.) aufgehoben wurde: 38 Abs. 2 S. 3 BadWürttSchulG kann jedoch nicht in dieser vom Landesgesetzgeber beabsichtigten Weise ausgelegt werden. Notwendig ist vielmehr eine verfassungskonforme Auslegung dieser Bestimmung im Sinne einer strikten Gleichbehandlung der Religionsgemeinschaften, wie sie bereits das BVerwG im zitierten Urteil vom vorgenommen hat. Das BVerwG hat hierzu ausgeführt, bei der nach Art. 3 Abs. 1 GG gebotenen verfassungskonformen Auslegung des 38 Abs. 2 S. 3 BadWürttSchulG komme eine Ausnahme für bestimmte Formen religiös motivierter Kleidung in bestimmten Regionen, wie sie der Prozessbevollmächtigte des beklagten Landes in der mündlichen Verhandlung in Erwägung gezogen habe, gerade nicht in Betracht. Der in der Vorschrift verwendete Begriff des Christlichen sei im Sinne des Beschlusses des BVerfG vom zur Verfassungsmäßigkeit der badischen christlichen Simultanschulen auszulegen, in welchem der in der Verfassung des Landes niedergelegte

35 Fall 10: Kopftuch (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 6 christliche Charakter der öffentlichen Volksschulen (Art. 15 Abs. 1 BadWürttVerf.) und deren Erziehungsziele (Art. 16 Abs. 1, 12 Abs. 1 BadWürttVerf.) der glaubensmäßigen Verbindlichkeit entkleidet und auf die Anerkennung des prägenden Kultur- und Bildungsfaktors des Christentums zurückgenommen worden sei. Der Begriff des Christlichen i.s. von 38 Abs. 2 S. 3 BadWürtt- SchulG beinhaltet bei verfassungskonformer Auslegung deshalb keine Privilegierung christlicher Glaubensbekenntnisse, sondern bezeichnet eine von Glaubensinhalten losgelöste, aus der Tradition der christlich-abendländischen Kultur hervorgegangene Wertewelt, die erkennbar auch dem Grundgesetz zu Grunde liegt und unabhängig von ihrer religiösen Fundierung Geltung beansprucht. Hierzu zählen die Menschen- und Grundrechte der Verfassung sowie humanitäre Werte wie z.b. Hilfsbereitschaft, Toleranz und Solidarität mit Schwächeren. Die Darstellung und Vermittlung solcher Werte von neutraler Warte ist etwas anderes als die Bekundung eines individuellen Bekenntnisses mittels entsprechender Symbole. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun, weil es bei der Darstellung nicht um eine persönliche innere Verbindlichkeit geht, die der Darstellende für sich selbst anerkennt. Zu alledem vgl. auch Walter/v. Ungern-Sternberg, DÖV 2008, 488 ff. (d) Erforderlichkeit (+) (e) Angemessenheit Güterabwägung zwischen der positiven Glaubensfreiheit der vom Gesetz betroffenen Lehrkräfte und den Eingriffszielen: Gründe für den Eingriff. Gefahr der religiösen Beeinflussung? Vorbildfunktion der Lehrerin? Jugendliche leichter beeinflussbar? Autoritätsverlust des Lehrers? Verlust von Vertrauen der Eltern in die Schule? Beeinträchtigung der negativen Religionsfreiheit? Ständige Konfrontation mit religiösem Symbol, aber derartige Konfrontation findet täglich im öffentlichen Leben statt. Dennoch: Konfrontation ist mit staatlichem Zwang (Schulpflicht) verbunden, keine Ausweichmöglichkeit. Alle diese Gründe sind nur dann stichhaltig, wenn man als Ziel des RelEntfG die Gewährleistung der staatlichen Neutralität in Religionsfragen ansieht. Zur Erreichung dieser Zwecke fehlt dem RelEntfG jedoch bereits die Eignung. Gefährdung der schulischen Erziehung und damit des Lehrauftrags der Schule, wenn die Lehrerin durch ihr Auftreten dokumentiert, dass Männer und Frauen nicht gleichberechtigt sind? Kopftuch als Ausdruck dafür, dass die Lehrerin auf Grund ihrer durch das Kopftuch zur Schau gestellten religiösen und politischen Einstellung nicht den Anforderungen der 61, 62 LBG nachkommen kann? Bedeutung des Verbots für die betroffenen Lehrerinnen Zwingende Vorschrift des Korans? Wohl nein. Aber: Jedenfalls persönlich empfundener Zwang zum Kopftuchtragen. Glauben ist individuelle Empfindung. Verletzung des weiblichen Schamgefühls ohne Kopftuch (Menschenwürde!)? Daher: Hohe Eingriffsintensität im Hinblick auf die betroffenen Lehrerinnen. Ggf. sogar Berührung der Menschenwürde, wenn Schamgefühl verletzt. Abwägung. Möglicherweise Berührung der Menschenwürde. Es stellt keine Alternative dar, Lehrerinnen muslimischen Glaubens auf den Religionsunterricht zu verweisen, wenn sie ihrer Berufstätigkeit und ihre religiöse Überzeugung in Einklang bringen möchten. Gem. Art. 7 Abs. 3 S. 3 GG darf kein Lehrer verpflichtet werden, gegen seinen Willen Religionsunterricht zu erteilen. Widerspruch des Kopftuchs zu obersten Verfassungswerten; wenn man das Kopftuch als politisches Symbol begreift, das einerseits der Abgrenzung dient und andererseits die Ungleichheit von Mann und Frau propagiert. Für eine solche persönliche Einstel-

36 Fall 10: Kopftuch (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 7 lung kann das Kopftuch ein Indiz sein. Ob mit dem Kopftuch aber immer zwingend und eindeutig eine gegen Verfassungswerte gerichtete Einstellung zum Ausdruck kommt, muss bezweifelt werden. So kann das Kopftuch auch einfach Ausdruck der eigenen Identität und Herkunft sein. Deshalb erscheint ein generelles Verbot des Kopftuchs unangemessen. Das Verbot des Kopftuchs ohne Ausnahmemöglichkeiten für den Einzelfall ist unverhältnismäßig (a.a. mit Blick auf die neuere Rechtsprechung und Literatur ebenfalls gut vertretbar, siehe z.b. BVerwG, NJW 2004, 3581 ff.; Hufen, NVwZ 2004, 575 ff.; BVerwG, NJW 2009, 1289 ff.) (Anmerkung: Würde das Kopftuchverbot der staatlichen Neutralität dienen, würde es nicht auf einzelfallbezogene Ausnahmeregelungen ankommen, da nur ein generelles Verbot effektiv die staatliche Neutralität schützen könnte.) Zwischenergebnis: 2 RelEntfG ist verfassungswidrig, sodass eine dienstliche Anweisung hierauf nicht gestützt werden kann. (2) 61, 62 LBG Die dienstliche Anweisung, das Tragen des Kopftuchs zu unterlassen, könnte auf 61, 62 LBG gestützt werden. Die 61, 62 LBG sind formell und materiell verfassungsgemäß. Ein Verbot des Kopftuchs lässt sich hierauf jedoch nur dann stützen, wenn die betroffenen Lehrerinnen an der Wahrnehmung ihrer beamtenrechtlichen Pflichten durch das Kopftuch gehindert werden. Nach 61 Abs. 1 S. 1 LBG dient der Beamte dem ganzen Volk und hat nach S. 2 der Vorschrift seine Aufgaben unparteiisch und gerecht zu erfüllen sowie bei seiner Amtsführung auf das Wohl der Allgemeinheit Bedacht zu nehmen. Er muss nach 61 Abs. 2 LBG sich durch sein gesamtes Verhalten zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes bekennen und für deren Einhaltung eintreten. Es ist nicht ersichtlich, dass die einzelne Lehrerin durch das Tragen eines Kopftuchs hieran gehindert wäre. Auch das Mäßigungsgebot des 61 Abs. 3 LBG, wonach der Beamte bei politischer Betätigung diejenige Mäßigung und Zurückhaltung zu wahren hat, die sich aus seiner Stellung gegenüber der Gesamtheit und aus der Rücksicht auf die Pflichten seines Amts ergeben, erfasst den Fall des religiös motivierten Tragens eines Kopftuchs nicht. Dasselbe gilt für die Pflicht des Beamten, sich mit voller Hingabe seinem Beruf zu widmen ( 62 S. 1 LBG), sein Amt uneigennützig nach bestem Gewissen zu verwalten ( 62 S. 2 LBG) und sein Verhalten innerhalb und außerhalb des Dienstes danach auszurichten, dass es der Achtung und dem Vertrauen gerecht wird, die sein Beruf erfordern ( 62 S. 3 LBG). Aus diesen allgemeinen beamtenrechtlichen Pflichten lässt sich ein grundrechtsbeschränkendes Verbot, als Lehrerin an einer öffentlichen Realschule aus religiösen Gründen ein Kopftuch zu tragen, nicht herleiten. Es fehlt daher an einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage für das Kopftuchverbot. Eine solche Entscheidung muss der Gesetzgeber i.s.d. Wesentlichkeitstheorie (Art. 20 Abs. 2 GG, Demokratieprinzip) explizit selbst treffen. bb) Verfassungsmäßigkeit des Einzelaktes Ohne gesetzliche Grundlage kann die Religionsfreiheit der M aus Art. 4 Abs. 1, 2 GG nicht rechtmäßig eingeschränkt werden. Anmerkung: Gegen den Einzelakt bestehen die gleichen Bedenken wie gegen die Verhältnismäßigkeit des 2 RelEntfG. Das Schulamt hat nicht dargelegt, dass die M ihre beamtenrechtlichen Pflichten nicht erfüllen kann, wenn sie ein Kopftuch trägt. Da das Schulamt in Vollzug des 2 RelEntfG gehandelt hat, ist nicht davon auszugehen, dass das Ziel des Kopftuchverbots die Wahrung der Neutralität der Schule gewesen ist. II. Verletzung von Art. 12 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG Art. 12 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG treten hinter den spezielleren Art. 4 Abs. 1, 2 GG zurück.

37 Fall 10: Kopftuch (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 8 III. Verletzung von Art. 33 Abs. 3 GG Verbot der Benachteiligung auf Grund des Bekenntnisses im Hinblick auf den öffentlichen Dienst bzw. öffentliche Ämter als besonderer Gleichheitssatz. 1. Rechtlich relevante Ungleichbehandlung Muslimischen Lehrerinnen ist es durch 2 RelEntfG verwehrt, ein Kopftuch zu tragen sowie andere Symbole ihres Glaubens zur Schau zu stellen. Lehrerinnen und Lehrer mit christlichem Glauben dürfen ihre religiöse Überzeugung offen durch Symbole zeigen. Lehrkräfte werden je nach ihrer religiösen Überzeugung unterschiedlich behandelt. Nicht erforderlich ist, dass die religiöse Differenzierung selbst das Ziel der Regelung ist. Dass Religionslehrer und andere Lehrer unterschiedlich behandelt werden, geht hingegen nicht auf die religiöse Überzeugung zurück. Anknüpfungspunkt ist allein das Lehrfach. 2. Rechtfertigung durch kollidierendes Verfassungsrecht Kollision nur dann, wenn dem Gleichbehandlungsgebot, welches das vorbehaltlose Grundrecht enthält, eine hinreichend konkrete Handlungspflicht aus der Verfassung entgegensteht. Besteht also im Einzelfall eine Handlungspflicht, die den Staat zu einer Ungleichbehandlung zwingen kann? Schutz der negativen Religionsfreiheit der Schüler und des Erziehungsrechts der Eltern (Art. 6 Abs. 2 i.v.m. Art. 4 Abs. 1, 2 GG, Art. 4 Abs. 1, 2 GG). Nach 2 Abs. 1 S.1 dient das RelEntfG auch dem Schutz der religiösen Neutralität des Staates (die Pflicht des Staates zu weltanschaulich religiöser Neutralität ergibt sich aus der Verfassung; vgl. Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3 S. 1, Art. 33 Abs. 3 GG, Art. 140 GG i.v.m. Art. 136 Abs. 2, 137 Abs. 1 WRV). Da 2 Abs. 2 RelEntfG christliche und jüdische Religionen von den Restriktionen des 2 Abs. 1 RelEntfG ausnimmt, kann das Verbot, ein Kopftuch zu tragen, weder dem Schutz der negativen Religionsfreiheit noch der Neutralität des Staates dienen. Das Grundgesetz enthält keine Privilegierung des christlichen Glaubens (vgl. VG Stuttgart, NVwZ 2006, 1444 [1447]). Sicherstellung des schulischen Erziehungsauftrags (Art. 7 Abs. 1 GG), indem das äußere Verhalten der Lehrkräfte nicht im Widerspruch zur Menschenwürde und zur Gleichberechtigung von Mann und Frau nach Art. 3 Abs. 2, 3 GG stehen darf. Über Art. 33 Abs. 5 GG ergeben sich besondere Bindungen des Beamten an staatliche Vorgaben. Voraussetzung ist allerdings, dass durch das Kopftuch eine Gesinnung zum Ausdruck kommt, die gegen die genannten Verfassungsgüter gerichtet ist, was in dieser Pauschalität zweifelhaft ist. Zudem gibt es weitere religiöse Symbole muslimischer und anderer - nicht abendländischer - Glaubensgemeinschaften, die die Verfassungsgüter unzweifelhaft nicht in Frage stellen. Trotzdem wäre das Tragen solcher Symbole nach dem RelEntfG unzulässig. Rechtfertigung. (-) IV. Art. 3 Abs. 3, Abs. 1 GG Art. 33 Abs. 3 GG ist lex specialis zu Art. 3 Abs. 3, 1 GG (vgl. Masing, in: Dreier, GG, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 33, Rn. 56). Ergebnis: Das vom Schulamt erlassene Verbot, in der Schule ein Kopftuch zu tragen, sowie die dem entsprechenden Verwaltungsgerichtsurteile verletzen die Grundrechte der M aus Art. 4 Abs. 1, 2 GG und Art. 33 Abs. 3 GG. Die Verfassungsbeschwerde ist damit zulässig und begründet.

38 Fall 11: Gewissensnot am Arbeitsplatz (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 1 Fall 11: Gewissensnot am Arbeitsplatz (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, S. 135) Die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG; 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG) hat Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist. A. Zulässigkeit I. Zuständigkeit des BVerfG Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG. (+) II. Beteiligtenfähigkeit 90 Abs. 1 BVerfGG: Jedermann, der Träger der in Betracht kommenden Grundrechte ist. P ist Träger der in Betracht kommenden Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1, 12 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG und damit Jedermann i.s.d. 90 Abs. 1 BVerfGG. III. Beschwerdegegenstand 90 Abs. 1 BVerfGG: Akt öffentlicher Gewalt. Hier: Klageabweisende Gerichtsentscheidungen, nicht die Kündigung an sich, weil diese von einem Privaten ausgeht und damit kein Akt öffentlicher Gewalt ist. IV. Beschwerdebefugnis 90 Abs. 1 BVerfGG: Behauptung einer Grundrechtsverletzung. 1. Geltendmachung einer Grundrechtsverletzung Klageabweisende Gerichtsurteile verweigern P Schutz vor der Kündigung durch den Arbeitgeber. Verletzung einer Schutzpflicht aus Art. 4 Abs. 1 GG kommt in Betracht und erscheint nach dem Vortrag des Beschwerdeführers auch als möglich. 2. Selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen (+) V. Erschöpfung des Rechtswegs und Grundsatz der Subsidiarität Erschöpfung des Rechtswegs ( 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG). (+) Subsidiarität. (Problem stellt sich hier - wie auch sonst i.d.r. - nicht, da Urteilsverfassungsbeschwerde.) VI. Ordnungsgemäßer Antrag, Frist ( 23 Abs. 1, 92, 93 BVerfGG) (+) Zwischenergebnis: Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. B. Begründetheit Die Verfassungsbeschwerde ist gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG begründet, wenn der Beschwerdeführer durch die angegriffenen Akte der öffentlichen Gewalt in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist.

39 Fall 11: Gewissensnot am Arbeitsplatz (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 2 I. Prüfungsumfang Arbeitsgerichtliche Entscheidungen betreffen den auf der Grundlage von Privatrecht ( 626 BGB) ausgetragenen Streit zwischen Privaten. Wirken Grundrechte auch im Privatrechtsverhältnis ( Drittwirkung ), sodass eine umfassende verfassungsgerichtliche Prüfung erfolgen kann? 1. Unmittelbare Drittwirkung Nach Art. 1 Abs. 3 GG wird allein der Staat durch die Grundrechte gebunden. An anderer Stelle (Art. 9 Abs. 3; 20 Abs. 4; 48 Abs. 1, 2 GG) ordnet das Grundgesetz ausdrücklich eine unmittelbare Drittwirkung an. Hieraus ergibt sich, dass die unmittelbare Drittwirkung die Ausnahme ist, die einer ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung bedarf. Eine solche ist hier nicht vorhanden. Daher: Keine unmittelbare Drittwirkung. 2. Mittelbare Drittwirkung Grundrechte als objektive Wertordnung; Staat ist gehalten, der Wirkung der Grundrechte auch in Privatrechtsverhältnissen im Rahmen seiner Schutzpflicht Geltung zu verschaffen. Das einfache Recht ist grundgesetzkonform auszulegen und anzuwenden. Insbesondere Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe sind Einfallstore für die Auslegung des einfachen Rechts im Sinne der grundrechtlichen Schutzpflicht ( Ausstrahlungswirkung ). Hier: Begriff des wichtigen Grundes in 626 Abs. 1 BGB bzw. des billigen Ermessens in 315 Abs. 1 BGB (bzw. nunmehr 106 GewO, der gemäß 6 Abs. 2 GewO auf alle Arbeitsverhältnisse Anwendung findet), Auslegung dieser Begriffe im Hinblick auf die Grundrechte erforderlich (= mittelbare Drittwirkung). (+) 3. Resultierender Prüfungsumfang Keine Nachprüfung der richtigen Anwendung des Privatrechts selbst, sondern nur Prüfung, ob Einwirkung der Grundrechte auf die Privatrechtsnormen bei der Auslegung vom Zivilrichter in Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht hinreichend beachtet wurde (Verletzung spezifischen Verfassungsrechts). Daher: Etwaiges Fehlen einer Abmahnung und somit eine Verletzung arbeitsrechtlicher Grundsätze ist für die verfassungsrechtliche Prüfung unbeachtlich. Weiter Gestaltungsspielraum des Staates bei Erfüllung von Schutzpflichten; Prüfung daher nur, ob die Bedeutung der Grundrechte nicht erkannt oder grundlegend verkannt worden ist (Untermaßverbot). II. Verletzung von Art. 4 Abs. 1 GG (Gewissensfreiheit)? 1. Schutzbereich a) Persönlicher Schutzbereich (+, s.o. A.II.) b) Sachlicher Schutzbereich Entscheidung, nicht in der Waffenproduktion zu arbeiten, als Gewissensentscheidung ( jede ernste sittliche, d.h. an den Kategorien von Gut und Böse orientierte Entscheidung, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, sodass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte ). (+) 2. Eingriff Jedes staatliche Handeln, das den Schutzbereich eines Grundrechts verkürzt. Die die Gewissensfreiheit beeinträchtigende Kündigung geht vom Arbeitgeber und damit von einem Privaten aus. Die Urteile verweigern lediglich Schutz gegen diese private Entscheidung. Daher: Kein Eingriff durch staatliches Handeln.

40 Fall 11: Gewissensnot am Arbeitsplatz (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 3 3. Verstoß gegen eine staatliche Schutzpflicht a) Bestehen einer Schutzpflicht? Kein Anhalt im Wortlaut des Art. 4 Abs. 1 GG, aber Grundrechte als objektive Wertordnung verpflichten den Staat, für die tatsächliche Wahrung der Grundrechte Sorge zu tragen. Daher: Pflicht des Staates, für den Schutz der Gewissensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG auch innerhalb von Privatrechtsverhältnissen einzutreten. b) Verletzung der Schutzpflicht aus Art. 4 Abs. 1 GG Zutreffende Abwägung und schonender Ausgleich der Gewissensfreiheit des P mit den Rechten des Unternehmers aus Art. 12 Abs. 1 GG (unternehmerische Betätigungsfreiheit), ggf. auch Art. 14 Abs. 1 GG (Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, str.)? aa) Durch Gesetz? Keine Bedenken hinsichtlich der 315 Abs. 1, 626 Abs. 1 BGB, jedenfalls verfassungskonforme Auslegung möglich. bb) Durch Gesetzesanwendung der Gerichte? Haben die Gerichte die 315 Abs. 1, 626 Abs. 1 BGB so ausgelegt, dass ein angemessener Ausgleich zwischen der Gewissensfreiheit des Arbeitnehmers und den wirtschaftlichen Freiheiten des Arbeitgebers hergestellt wird? Fristlose Kündigung sichert wirtschaftliche Freiheit des Arbeitgebers umfassend. Zudem: Einsatz in der Waffenproduktion erfolgt nur gelegentlich. Aber: Auch gelegentlicher Einsatz führt zu Gewissensnöten. Zudem: Arbeitgeber stehen alternative Beschäftigungsmöglichkeiten für P zur Verfügung. Zudem: Lang andauernde Beschäftigung des P. Waffenproduktion wurde erst seit kurzem in die Produktpalette aufgenommen, was für P beim Eintritt in das Unternehmen nicht vorhersehbar war. Zudem: Keine besondere Härte für den Arbeitgeber erkennbar. Daher: Die Fristlose Kündigung verfehlt den gebotenen schonenden Ausgleich zwischen den konfligierenden Grundrechten. Die Auslegung der 315 Abs. 1, 626 Abs. 1 BGB durch die Zivilgerichte verkennt die Anforderungen des Art. 4 Abs. 1 GG grundlegend. Daher: Verletzung spezifischen Verfassungsrechts. Die Gerichtsurteile verletzen P in seinem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 GG. III. Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG? Schutzbereich umfasst nicht das Recht auf den Erhalt eines bestimmten Arbeitsplatzes. (-) IV. Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG? Art. 2 Abs. 1 GG ist gegenüber Art. 4 Abs. 1 GG subsidiär. (-) Ergebnis: Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist wegen einer Verletzung des Art. 4 Abs. 1 GG begründet.

41 Fall 12: Apothekenfall (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 1 Fall 12: Apothekenfall (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, S. 156) Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG begründet, wenn der Beschwerdeführer (A) durch 3 Abs. 1 ApothekenG in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist. A. Art. 12 Abs. 1 GG I. Schutzbereich 1. Persönlicher Schutzbereich Bei Art. 12 Abs. 1 GG handelt es sich um ein Deutschen-Grundrecht. Dass A Deutscher im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG ist, ist im vorliegenden Fall zu unterstellen. 2. Sachlicher Schutzbereich Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG spricht zwar ausdrücklich nur von der Freiheit der Berufswahl. Da sich Berufswahl und Berufsausübung jedoch nicht klar von einander trennen lassen - Anforderungen an die Berufsausübung betreffen auch die Berufswahl; in der Berufsausübung manifestiert sich die Berufswahl - schützt Art. 12 Abs. 1 GG die Berufsfreiheit als einheitliches Grundrecht. Bei der Tätigkeit als Apotheker müsste es sich um einen Beruf im Sinne des Art. 12 Abs. 1 GG handeln. Beruf ist jede auf Dauer angelegte und der Schaffung und Erhaltung der Lebensgrundlage dienende Tätigkeit. Da der selbstständige Betrieb einer Apotheke auf Dauer angelegt ist und mit Gewinnerzielungsabsicht erfolgt, sind die Voraussetzungen der Berufsdefinition gegeben. Der persönliche und der sachliche Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG sind eröffnet. II. Eingriff Es müsste ein Eingriff in die Berufsfreiheit vorliegen. Eingriff ist jede Verkürzung grundrechtlich geschützter Positionen. Nach 1 ApothekenG ist für den Betrieb einer Apotheke eine Genehmigung erforderlich, deren Voraussetzungen sich u.a. nach 3 Abs. 1 ApothekenG richten. Bereits durch die gesetzliche Regelung wird dem Einzelnen aufgeben, vor dem Eröffnen einer Apotheke eine Genehmigung zu beantragen. Somit liegt ein Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG vor. Anmerkung: Auch wenn bereits das ApothekenG die Berufsfreiheit verkürzt, so wäre doch eine Verfassungsbeschwerde unmittelbar hiergegen unzulässig. Der im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung zu prüfende Grundsatz der Subsidiarität würde es erfordern, dass der betroffene Apotheker zunächst einen Antrag auf Erteilung der Genehmigung stellt und dann bei einem ablehnenden Bescheid vor dem zuständigen Fachgericht Rechtsschutz begehrt. Erst nach erfolglosem Durchlaufen des Rechtsweges wäre eine Verfassungsbeschwerde zulässig. Dies entspricht im vorliegenden Fall dem Vorgehen des A. III. Rechtfertigung 1. Schranken Nach dem Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG kann lediglich die Berufsausübung durch den Gesetzgeber geregelt werden. Da jedoch Art. 12 Abs. 1 GG einheitlich die Berufsfreiheit schützt, ist der Regelungsvorbehalt auch auf die Berufswahl auszudehnen. Der Regelungsvorbehalt ist wie ein einfacher Gesetzesvorbehalt zu handhaben.

42 Fall 12: Apothekenfall (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 2 2. Schranken-Schranken: Verhältnismäßigkeitsprüfung a) Legitimer Zweck aa) Eingriffsstufe Bei den Anforderungen an die Eingriffsrechtfertigung ist dem Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 GG Rechnung zu tragen. Dieser stellt lediglich die Berufsausübung unter einen Regelungsvorbehalt, während die Berufwahl keinen Schranken unterliegt. Erstreckt man dennoch den Regelungsvorbehalt auf die Freiheit der Berufswahl, müssen die Eingriffsvoraussetzungen umso höher sein, je stärker in die Berufswahlfreiheit eingegriffen wird. Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, dass Voraussetzungen der Berufswahl den Einzelnen besonders empfindlich treffen, wenn er auf ihr Vorliegen keinen Einfluss hat. Dementsprechend ist zwischen Regelungen der Berufsausübung, subjektiven Zulassungsvoraussetzungen und objektiven Zulassungsvoraussetzungen zu unterscheiden. In der Prüfung nach 3 Abs. 1 ApothekenG könnte eine objektive Zulassungsvoraussetzung zu sehen sein. Kennzeichnend hierfür ist, dass die Wahl eines Berufes von Umständen abhängig gemacht wird, die außerhalb der Person des Berufswilligen liegen. Durch 3 Abs. 1 S. 1 Buchstabe b) ApothekenG wird die Genehmigung zur Errichtung einer Apotheke davon abhängig gemacht, ob die wirtschaftliche Existenz benachbarter Apotheken gefährdet wird. Auch wenn der Berufswillige in seiner Person über sämtliche Voraussetzungen für die Ausübung des Berufes verfügt - insbesondere die notwendige Ausbildung und Qualifikation hat - wird ihm die Berufsausübung unmöglich gemacht. Die Anzahl der zugelassenen Apotheken und ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit liegen ebenso außerhalb der Person des Bewerbers wie auch das öffentlichen Interesse, das unter Buchstabe a) genannt ist. Somit handelt es sich um objektive Zulassungsvoraussetzungen. bb) Schutz eines überragend wichtigen Gemeinschaftsguts Objektive Zulassungsvoraussetzungen sind nur dann verhältnismäßig, wenn sie dem Schutz eines überragend wichtigen Gemeinschaftsgutes vor schweren nachweisbaren bzw. höchstwahrscheinlichen Gefahren dienen. Ziel des ApothekenG ist der Schutz der Volksgesundheit als überragend wichtiges Gemeinschaftsgut. b) Eignung Eine Maßnahme ist dann geeignet, wenn sie den Zweck fördert. Auch wenn zweifelhaft ist, ob durch die Eröffnung einer nur eingeschränkt rentablen Apotheke die Volksgesundheit bedroht wird, ist doch nicht ausgeschlossen, dass von einer Niederlassungsfreiheit Gefahren für die Volksgesundheit ausgehen. Somit kann von einer Eignung des Verbots ausgegangen werden. c) Erforderlichkeit Erforderlich ist eine Maßnahme nur dann, wenn keine weniger beeinträchtigenden, aber gleich wirksamen Maßnahmen in Betracht kommen. Im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung gilt als Folge der Drei-Stufen-Theorie die Besonderheit, dass ein Eingriff nur dann als das mildeste Mittel angesehen werden kann, wenn ein Eingriff auf einer niedrigeren Stufe nicht in gleichem Maße der Gefahrenabwehr dient. Als weniger einschneidend wäre eine Berufsausübungsregelung zu sehen (Eingriff auf der 1. Stufe). Das BVerfG macht hier konkrete Vorschläge wie z.b. das Verbot des Betriebs mehrer Apotheken, damit der Apotheker selbst seine Apotheke leitet und eine Apotheke nicht durch zusätzliche Verwaltungs- oder Verpachtungskosten belastet wird, oder die Einschränkung der Werbemöglichkeiten für Medikamente als Berufausübungsregelung (BVerfGE 7, 377 [437 ff.]). Die Beschränkung der Berufswahl nach 3 Abs. 1 ApothekenG ist unverhältnismäßig. Anmerkung: Die Erlaubnispflicht an sich ist dagegen nach Ansicht des BVerfG als subjektive Zulassungsvoraussetzung verhältnismäßig. BVerfGE 7, 377 (414 ff.): Unbestritten ist, dass die Volksgesundheit ein wichtiges Gemeinschaftsgut ist, dessen Schutz Einschränkungen der Freiheit des Einzelnen zu rechtfertigen vermag; unbestritten auch, dass eine geordnete Arzneimittelversorgung zum Schutz der Volksgesundheit unumgänglich ist. Als geordnet wird dabei eine Versorgung angesehen werden können, die sicherstellt, dass die normalerweise, aber auch für nicht allzu fern liegende Ausnahmesituationen benötigten Heilmittel und Medikamente in ausreichender Zahl und in einwandfreier Beschaffenheit für die Bevölkerung bereitstehen, zugleich aber einem Missbrauch von Arzneimitteln nach Möglichkeit vorbeugt. (...) Die entscheidende Frage ist mithin, ob bei Wegfall der Niederlassungsbeschränkungen des bayerischen Apothekengesetzes mit hinreichender

43 Fall 12: Apothekenfall (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 3 Wahrscheinlichkeit die Entwicklung im oben bezeichneten Sinn verlaufen und dadurch die geordnete Arzneiversorgung so gestört würde, dass eine Gefährdung der Volksgesundheit zu befürchten wäre. Das Bundesverfassungsgericht hat sich nicht davon zu überzeugen vermocht, dass diese Gefahr droht. Das Gericht hat zunächst nicht an der Tatsache vorbeigehen können, dass in anderen, der Bundesrepublik Deutschland zivilisatorisch vergleichbaren Staaten volle Niederlassungsfreiheit besteht, ohne dass deshalb von einer Gefährdung der Volksgesundheit durch Mängel der Arzneiversorgung ernstlich die Rede sein könnte. (...) Das Bundesverfassungsgericht ist nicht davon überzeugt, dass die Niederlassungsfreiheit die Berufsmoral der Apotheker allgemein so gefährden werde, wie das von der Verwaltung befürchtet wird. Verschärfter Konkurrenzkampf mag eine gewisse Versuchung mit sich bringen, Vorschriften zu umgehen, die sich auf den Umsatz hemmend auswirken. Dadurch wird aber der Staat, wenn er einem Beruf im öffentlichen Interesse kostenverursachende Auflagen macht, nicht Schuldner des Berufsstandes in dem Sinne, dass er den Berufsangehörigen ein Mindesteinkommen gewährleisten müsse. Auflagen solcher Art gibt es bei vielen Berufen; sie müssen von jedem, der den Beruf ergreift, in die allgemeine wirtschaftliche Kalkulation seiner Berufschancen mit einbezogen werden. (...) Das Bundesverfassungsgericht hatte in diesem Verfahren nicht darüber zu entscheiden, welches Betriebssystem für die Apotheke rechtspolitisch vorzuziehen wäre, sondern nur darüber, ob das vom bayerischen Gesetzgeber tatsächlich gewählte System mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Diese Frage musste das Gericht verneinen; nach seiner Überzeugung entspricht gegenwärtig allein die Niederlassungsfreiheit, verstanden als Fehlen objektiver Beschränkungen der Zulassung, der Verfassungslage (...). Dass auch weiterhin für den Betrieb einer Apotheke eine Erlaubnis erforderlich ist und diese u.a. von der Erfüllung bestimmter subjektiver Voraussetzungen (...) abhängig gemacht werden kann, ist selbstverständlich und ergibt sich aus den vorstehenden Ausführungen. (...) Art. 3 Abs. 1 ApothekenG ist, wie dargelegt, verfassungswidrig. Die auf dieser Bestimmung beruhenden Bescheide der Regierung von Oberbayern verletzen daher das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 12 Abs. 1 GG und sind aufzuheben. Gleichzeitig ist im Urteil die Nichtigkeit des Art. 3 Abs. 1 ApothekenG - einschließlich des in unlösbarem Zusammenhang mit Satz 1 stehenden Satzes 2 - auszusprechen ( 95 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 BVerfGG). B. Art. 2 Abs. 1 GG Das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG tritt aus Gründen der Subsidiarität hinter Art. 12 Abs. 1 GG zurück. Ergebnis: Die Verfassungsbeschwerde des A ist begründet. Anmerkung: Zahlreiche Beschränkungen des Apothekengesetzes, die zurzeit des Apothekenurteils noch galten, sind mittlerweile aufgehoben worden. Beispielsweise darf ein Apotheker seit der Änderung des Gesetzes über das Apothekenwesen 2003 zusätzlich zu seiner Hauptapotheke noch drei Filialapotheken betreiben. Aus didaktischen Gründen basiert die vorliegende Fallbearbeitung auf der früheren Gesetzeslage.

44 Fall 13: Glykolwarnung (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 1 Fall 13: Glykolwarnung (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, S. 161 f.) Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG begründet, wenn der Beschwerdeführer durch die namentliche Aufnahme in die Liste des BMJFG in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist. A. Art. 12 Abs. 1 GG I. Schutzbereich 1. Persönlicher Schutzbereich (+) A ist Deutscher und damit Träger des Art. 12 Abs. 1 GG ( Deutschen-Grundrecht ). 2. Sachlicher Schutzbereich Art. 12 Abs. 1 GG enthält einen einheitlichen Schutzbereich der Berufsfreiheit. Beruf ist jede auf Dauer angelegte, der Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage dienende Tätigkeit. Durch das dauerhafte Abfüllen und den anschließenden Verkauf der Weine handelt A mit Gewinnerzielungsabsicht; somit dient die Tätigkeit der Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage. Auf den Streit, ob nur erlaubte Tätigkeiten Berufe sind, kommt es im vorliegenden Fall nicht an; schließlich steht nicht das Verkaufsverbot DEG-haltiger Weine in Streit, sondern die befürchteten Umsatzeinbußen hinsichtlich der nicht belasteten (legalen) Weine. Deshalb Beruf (+). Die Warnung der Bundesregierung betrifft die Absatzmöglichkeiten des A und damit sein Auftreten am Markt. Da eine ständige Wechselwirkung zwischen der konkreten Ausübung des Berufs und dem Wettbewerb besteht, erstreckt sich der Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG auch auf die Wettbewerbsfreiheit (a.a. vertretbar; dann müssten die folgenden Überlegungen im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 GG dargestellt werden). Schutzbereich eröffnet. II. Eingriff Durch die Nennung des A in der Liste des BMJFG ist zu befürchten, dass die Verbraucher sämtliche Weine des A boykottieren. Insoweit könnte die durch diese staatliche Einflussnahme auf den Wettbewerb von Art. 12 Abs. 1 GG mitgeschützte Wettbewerbsfreiheit betroffen sein und eine Wettbewerbsverzerrung eintreten. Fraglich ist, ob hierin ein Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG zu sehen ist. 1. Klassischer Eingriffsbegriff Nach dem klassischen Eingriffsbegriff muss das staatliche Verhalten folgenden Merkmale enthalten: Es muss sich um einen Rechtsakt handeln sowie final, unmittelbar sowie imperativ sein. Die Veröffentlichung der Liste stellt keinen Rechtsakt, sondern einen Realakt dar. Bezweckt wird durch die Listenveröffentlichung die Aufklärung der Verbraucher; erst durch deren Verhalten (Kaufzurückhaltung) treten die Umsatzeinbußen bei A ein; allein die Veröffentlichung der Liste hat noch keine Auswirkungen auf die Berufstätigkeit des A. Deshalb fehlt es an der Finalität und an der Unmittelbarkeit. Die Liste dient der Information der Verbraucher; eine Vollstreckung (Durchsetzung mit Befehl und Zwang) ist nicht möglich. Folglich ist auch das Merkmal der Imperativität nicht erfüllt. Die Veröffentlichung der Liste stellt keinen klassischen Eingriff dar.

45 Fall 13: Glykolwarnung (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 2 2. Erweiterter Eingriffsbegriff Durch den erweiterten Eingriffsbegriff werden sämtliche Merkmale des klassischen Eingriffsbegriffs erweitert: Umfasst werden auch Realakte (Veröffentlichung der Liste). (+) Finalität ist nicht erforderlich, es genügt die Vorhersehbarkeit der Grundrechtsbeeinträchtigung. Dass in Folge der Veröffentlichung der Liste die Verbraucher sämtliche Weine der genannten Abfüller boykottieren würden, war durchaus erkennbar. (+) Unmittelbarkeit ist ebenfalls nicht erforderlich. Es genügt Zurechenbarkeit. Die Kaufzurückhaltung der Bürger, durch die erst der Umsatz des A beeinträchtigt wird, stellt zwar eine Zwischenursache dar. Jedoch unterbricht diese den Zurechnungszusammenhang nicht, da sie unmittelbar auf die Listenveröffentlichung folgt. (+) An die Stelle der Imperativität tritt die Intensität; erreicht die Beeinträchtigung eine gewisse Intensität, steht das der Durchsetzbarkeit mit Befehl und Zwang gleich. (+) Weiterhin müsste eine objektiv berufsregelnde Tendenz vorliegen: Erforderlich hierfür ist, dass durch das staatliche Handeln solche Tätigkeiten betroffen sind, die typischerweise beruflich ausgeübt werden. Aufgrund der Berufsnähe der Maßnahmen der Bundesregierung - angeknüpft wird mit der Warnung an Herstellung und Vertrieb von Weinen -, ist eine objektiv berufsregelnde Tendenz gegeben. Eingriff. (+) Anmerkung: In BVerfGE 105, 252 ff. (Glykolwarnung) scheint das BVerfG davon auszugehen, dass marktbezogene Informationen des Staates keinen Eingriff in Art. 12 GG darstellen, auch wenn hierdurch Umsatzeinbußen verursacht werden. Das BVerfG hat diesbezüglich jedoch Anforderungen aufgestellt, die typischerweise auf der Rechtfertigungsebene geprüft werden, sodass im Ergebnis kein Unterschied zu der obigen Falllösung besteht. Das Vorgehen des BVerfG ist dogmatisch allerdings zweifelhaft, da die Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns nicht über das Vorliegen eines Eingriffs entscheidet, sondern die Einhaltung der rechtlichen Vorgaben eine Frage der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung ist. BVerfGE 105, 252 (Ls. 1) (Glykolwarnung): Marktbezogene Informationen des Staates beeinträchtigen den grundrechtlichen Gewährleistungsbereich der betroffenen Wettbewerber aus Art. 12 Abs. 1 GG nicht, sofern der Einfluss auf wettbewerbserhebliche Faktoren ohne Verzerrung der Marktverhältnisse nach Maßgabe der rechtlichen Vorgaben für staatliches Informationshandeln erfolgt. Verfassungsrechtlich von Bedeutung sind dabei das Vorliegen einer staatlichen Aufgabe und die Einhaltung der Zuständigkeitsordnung sowie die Beachtung der Anforderungen an die Richtigkeit und Sachlichkeit von Informationen. III. Rechtfertigung 1. Schranken Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG formuliert einen Regelungsvorbehalt für die Berufsausübung; dieser wirkt wie ein einfacher Gesetzesvorbehalt und gilt (entgegen dem Wortlaut) für das gesamte Grundrecht der Berufsfreiheit. 2. Schranken-Schranken a) Verfassungsmäßige Ermächtigungsgrundlage Der Eingriff müsste auf ein Gesetz zurückzuführen sein (Vorbehalt des Gesetzes). Auch bei Eingriffen nach dem erweiterten Eingriffsbegriff gilt der Vorbehalt des Gesetzes, nach Ansicht des BVerfG jedoch nur in abgeschwächter Form. Dies lässt sich mit Sinn und Zweck des Gesetzesvorbehalts begründen: Er soll staatliches Handeln vorhersehbarer und berechenbarer machen. Die faktisch mittelbaren Wirkungen, die vom erweiterten Eingriffsbegriff erfasst werden, entziehen sich aber typischerweise einer Normierung. Im Zeitpunkt der Warnung (1985) fehlte es an einer ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung für Produktwarnungen. 8 S. 2 ProdSG wurde erst 1997 als Reaktion auf entsprechende Warnfälle eingeführt. Art. 65 GG könnte als Ermächtigungsgrundlage herangezogen werden. Streitig ist, ob für Produktwarnungen Art. 65 GG als ermächtigende Norm ausreicht. An sich ist es unzulässig, von der Kompetenz auf die Eingriffsbefugnis zu schließen.

46 Fall 13: Glykolwarnung (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 3 Soweit der Staat Schutzpflichten zu erfüllen hat (hier: Pflicht zum Schutze der Gesundheit der Bürger aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG), reichen diese als Eingriffsermächtigung nicht aus; in jedem Falle ist eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage erforderlich (wie z.b. auf Landesebene die polizeiliche Generalklausel). Ausnahmsweise kann aber nach Ansicht des BVerfG eine Kompetenznorm ausreichen. Wegen der unbestimmten Weite des erweiterten Eingriffsbegriffs sind auch geringere Anforderungen an den Gesetzesvorbehalt zu stellen. Die der Bundesregierung zukommende Befugnis zur Staatsleitung (Art. 65 GG) lässt sich nur dann sinnvoll wahrnehmen, wenn eine Öffentlichkeitsarbeit möglich ist. Erst durch die Befugnis zur Informationstätigkeit kann eine effektive Problembewältigung ermöglicht werden, sodass der Staat seinen Schutzpflichten (Gesundheit der Bürger, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) gerecht werden kann. Deshalb genügt Art. 65 GG als Ermächtigungsgrundlage dem Vorbehalt des Gesetzes (a.a. gut vertretbar). b) Verfassungsmäßigkeit des Einzelaktes aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit An sich liegt die Kompetenz zur Information nach Art. 30 GG bei den Ländern, wenn nicht das GG eine andere Regelung trifft. Eine solche andere Regelung kann in Art. 65 GG gesehen werden. Die Bundesregierung ist überall dort zur Informationsarbeit berechtigt, wo ihr eine gesamtstaatliche Verantwortung der Staatsleitung zukommt, die mit Hilfe von Informationen erfüllt werden kann. Anhaltspunkte für eine solche Verantwortung lassen sich etwa aus sonstigen Kompetenzvorschriften, beispielsweise denen über die Gesetzgebung (hier Art. 74 Abs. 1 Nr. 20 GG), gewinnen. Der Bund ist zur Staatsleitung insbesondere berechtigt, wenn Vorgänge wegen ihres Auslandsbezugs oder ihrer länderübergreifenden Bedeutung überregionalen Charakter haben und eine bundesweite Informationsarbeit der Regierung die Effektivität der Problembewältigung fördert. Dementsprechend hat der Bund im vorliegenden Fall die Verbandskompetenz, da der Verkauf der mit DEG belasteten Flaschen im gesamten Bundesgebiet stattgefunden hat, die Gefahren für die Bevölkerung also länderübergreifend sind. Nach Art. 65 GG kommt der Bundesregierung die Organkompetenz zu, die vom BMJFG nach S. 2 wahrgenommen wurde. bb) Materielle Verfassungsmäßigkeit Die Nennung der Namen der Abfüller in der Warnliste müsste verhältnismäßig sein: (1) Legitimer Zweck Art. 12 Abs. 1 GG erlaubt seinem Wortlaut nach nur Eingriffe in die Berufsausübungsfreiheit. Dem wird dadurch Rechnung getragen, dass Eingriffe in das einheitliche Grundrecht der Berufsfreiheit an unterschiedliche Voraussetzungen geknüpft werden. Nach der sog. Drei-Stufen-Theorie richtet sich der legitime Zweck danach, ob es sich um eine Berufsausübungsregelung (1. Stufe) oder um eine Regelung der Berufswahl ( Stufe) handelt. Durch die Nennung in der Liste kann es zu Umsatzeinbußen kommen. Der Beruf Weinabfüller kann aber weiterhin ausgeübt werden. Auch dürften die wirtschaftlichen Nachteile nicht so schwer wiegend sein, dass der Eingriff einer objektiven Zulassungsvoraussetzung vergleichbar ist. Somit liegt ein Eingriff in die Berufsausübung vor, die bereits nach dem Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG geregelt werden kann. Anders als bei Berufswahlregelungen sind deshalb keine besonderen Anforderungen an den legitimen Zweck zu stellen. Es genügt der Schutz eines Gemeinschaftsgutes. Die Veröffentlichung der Liste dient der Wahrung der Volksgesundheit und damit dem Schutz eines Gemeinschaftsgutes. (+) (2) Eignung (+) (3) Erforderlichkeit Verzicht auf die Nennung des Abfüllers kein milderes, aber gleich effektives Mittel. Nur durch die Namensnennung wird dem Verbraucher eine schnelle Identifizierung glykolhaltiger Weine ermöglicht. (+)

47 Fall 13: Glykolwarnung (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 4 (4) Angemessenheit Nachteile für A stehen nicht außer Verhältnis zu den Vorteilen für die Volksgesundheit. Es ist zu berücksichtigen, dass der A durch das Abfüllen DEG-haltiger Weine eine Gefahr für die Verbraucher gesetzt hat. (+) Die Warnung der Bundesregierung vor DEG-haltigem Wein ist verhältnismäßig. B. Art. 14 GG: Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb Es fehlt bereits an der Eröffnung des Schutzbereiches, da - unabhängig von dem Streit, ob das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb von Art. 14 GG geschützt wird - bloße Chancen und Hoffnungen von Art. 14 GG nicht umfasst werden. Durch die Warnung der Bundesregierung werden aber nur die Umsatz- und Gewinnchancen des A beeinträchtigt. Vorhandenes Eigentum wird dagegen nicht gemindert. Verletzung von Art. 14 GG. (-) C. Art. 2 Abs. 1 GG Die allgemeine Handlungsfreiheit tritt aus Subsidiaritätsgründen hinter den einschlägigen Art. 12 Abs. 1 GG zurück. Ergebnis: Die Veröffentlichung des Namens verletzt den A nicht in seinem Grundrecht auf Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG bzw. in seinen Eigentumsrechten aus Art. 14 GG. Somit ist die Verfassungsbeschwerde des A unbegründet.

48 Fall 14: Naturschutzgebiet (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 1 Fall 14: Naturschutzgebiet (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, S. 179) Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG begründet, wenn der Beschwerdeführer durch den angegriffenen Akt der öffentlichen Gewalt in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist. A. Art. 14 Abs. 1 GG I. Schutzbereich 1. Persönlicher Schutzbereich Jedermann-Grundrecht. (+) 2. Sachlicher Schutzbereich Art. 14 Abs. 1 GG: Eigentum = Alle vermögenswerten Rechte, die dem Berechtigten durch die Rechtsordnung ebenso ausschließlich wie Eigentum an einer Sache zur privaten Nutzung und zur eigenen Verfügung zugeordnet sind. Umfang des Schutzes: auch Nutzungsrecht wird geschützt. Hier: Sacheigentum ( 903 BGB) am Grundstück, dessen Nutzung verboten wird. Sachlicher Schutzbereich ist betroffen. II. Eingriff Das Nutzungsverbot verkürzt die bestehende Eigentümerposition des B und stellt einen Eingriff dar. III. Rechtfertigung 1. Schranken a) Enteignung gem. Art. 14 Abs. 3 GG? Enteignung = Vollständiger oder teilweiser Entzug konkreter vermögenswerter Rechtspositionen durch gezielten hoheitlichen Rechtsakt zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben. Hier: Kein Entzug des Sacheigentums selbst. Aber: Nutzung wird vollständig verboten; Eigentum bleibt als bloß formale Position erhalten. Liegt damit eine Enteignung vor? Folgt man dem rein formellen Enteignungsbegriff des BVerfG: (-) (anders noch die mittlerweile überholte Rechtsprechung des BGH, die die Abgrenzung nach dem materiellen Kriterium der Schwere des Eingriffs vornahm). b) Inhalts- und Schrankenbestimmung (ISB, Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG)? ISB = Alle rechtlichen Regelungen, mit denen der Gesetzgeber Eigentum abstrakt-generell definiert. Hier: Verbot der Nutzung des Seegrundstücks durch Naturschutzverordnung. (+)

49 Fall 14: Naturschutzgebiet (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 2 2. Schranken-Schranken a) Formelle Verfassungsmäßigkeit der Naturschutzverordnung (+) b) Materielle Verfassungsmäßigkeit aa) Wirksame Verordnungsermächtigung ( 24, 30 NaturschutzG Nds.)? (1) Kompetenz des Landes: Art. 125b Abs. 1 S. 2 GG i.v.m. Art. 75 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 GG a.f., 11 BNatSchG. (+) [Anmerkung: Als der Bundesgesetzgeber das BNatSchG erließ, hatte er noch die Rahmengesetzgebungskompetenz gemäß Art. 75 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 GG a.f. Nach der Föderalismusreform ist Art. 75 GG entfallen. Nunmehr besteht eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz nach Maßgabe des Art. 74 Abs. 1 Nr. 29 GG, wobei die Länder gemäß Art. 72 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 GG abweichende Regelungen erlassen dürfen. Das bestehende BNatSchG gilt nach der Übergangsbestimmung des Art. 125b Abs. 1 S. 1 GG als Bundesrecht fort.] (2) Art. 43 LV Nds. (wie Art. 80 GG) Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt. (+) (3) Vereinbarkeit mit Art. 14 Abs. 1 GG Inhalts- und Schrankenbestimmung gem. Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG, die der weiteren Konkretisierung durch Verordnung bedarf. Verhältnismäßigkeit: Schonender Ausgleich zwischen Eigentümerinteressen und Naturschutzbelangen wird hergestellt (vgl. insbesondere 50, 51 NaturschutzG Nds.). bb) Verhältnismäßigkeit (1) Legitimer Zweck Schutz eines Lebensraums für seltene Tiere und Pflanzen. (+) (2) Eignung (+) (3) Erforderlichkeit (+) (4) Angemessenheit Schwer wiegender Eingriff in die Eigentümerbefugnisse durch vollständiges Nutzungsverbot. Demgegenüber: Durch Art. 20a GG verstärktes öffentliches Interesse an wirksamem Naturschutz. Abwägung: Art. 14 Abs. 2 GG ( Sozialbindung des Eigentums ) verpflichtet den Staat zur Berücksichtigung von öffentlichen Interessen. Zudem: Regelung knüpft an bestehende Merkmale des Seegrundstücks an und reagiert auf eine vorgefundene Situation ( Situationsgebundenheit des Grundeigentums ). Schutzwürdiges Vertrauen des B? Wohl nein, da B das Grundstück erst erworben hat, als es bereits schutzwürdig war. Kommt eine Übergangs- oder Ausnahmevorschrift in Betracht? Wohl nein, da diese dem Schutzzweck entgegensteht. Ist aber ggf. eine Entschädigung notwendig, ohne die die Nutzungsuntersagung unverhältnismäßig ist ( Ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmung )? Dafür: Nutzungsverbot als gravierender Eingriff. Dagegen: Schutzwürdigkeit des Gebietes hätte B beim Erwerb jedenfalls kennen müssen.

50 Fall 14: Naturschutzgebiet (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 3 Daher: Nutzungsverbot ist verhältnismäßig (a.a. insbesondere hinsichtlich der Entschädigungspflicht vertretbar). Das Nutzungsverbot verstößt nicht gegen Art. 14 Abs. 1 GG. B. Art. 12 Abs. 1 GG I. Schutzbereich 1. Persönlicher Schutzbereich Art. 12 Abs. 1 GG als Deutschen-Grundrecht ; B ist Deutscher i.s.v. Art. 116 Abs. 1 GG. (+) 2. Sachlicher Schutzbereich Art. 12 Abs. 1 GG: Beruf. Beruf ist jede auf Dauer angelegte, der Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage dienende Tätigkeit. Hier: Beruf des B als Bauer (+), Erwerbstätigkeit ist betroffen. II. Eingriff 1. Klassischer Eingriff? Final, unmittelbar, durch Rechtsakt, imperativ? Hier: fehlende Finalität, Gesetzgeber will lediglich Eigentümerrechte und Pflichten hinsichtlich des Seegrundstücks regeln, nicht aber Vorgaben zur Berufstätigkeit machen. (-) 2. Sonstiger Eingriff mit objektiv berufsregelnder Tendenz? Jede Verkürzung einer grundrechtlich geschützten Position. (+) Aber Besonderheit bei Art. 12 Abs. 1 GG: Objektiv berufsregelnde Tendenz? Hier: Eingriff knüpft an Eigentümerstellung an, unabhängig davon, ob ein Beruf betroffen ist oder nicht. Berufsregelnde Tendenz dann nicht, wenn bestimmte Rechtsfolgen an eine Sachlage oder ein Verhalten geknüpft werden, unabhängig davon, ob diese Tätigkeit beruflich oder privat ausgeübt wird. Eingriff (-), Art. 12 Abs. 1 GG ist nicht verletzt. C. Art. 2 Abs. 1 GG Subsidiär zu Art. 14 Abs. 1 GG. (-) Ergebnis: Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet.

51 Fall 15: Enteignung für Arbeitsplätze (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 1 Fall 15: Enteignung für Arbeitsplätze (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, S. 211 f.) Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG begründet, wenn der Beschwerdeführer durch den angegriffenen Akt der öffentlichen Gewalt in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist. A. Art. 14 Abs. 1 GG I. Schutzbereich 1. Persönlicher Schutzbereich Jedermann-Grundrecht. (+) 2. Sachlicher Schutzbereich Art. 14 Abs. 1 GG: Eigentum = Alle vermögenswerten Rechte, die dem Berechtigten durch die Rechtsordnung ebenso ausschließlich wie Eigentum an einer Sache zur privaten Nutzung und zur eigenen Verfügung zugeordnet sind. Hier: Sacheigentum ( 903 BGB) am Grundstück. II. Eingriff Vollständiger Entzug des Grundstücks stellt einen Eingriff dar. III. Rechtfertigung 1. Schranken Enteignung gem. Art. 14 Abs. 3 GG? Enteignung = Vollständiger oder teilweiser Entzug konkreter vermögenswerter Rechtspositionen durch gezielten hoheitlichen Rechtsakt zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben. (+) 2. Schranken-Schranken a) Verfassungsmäßigkeit des einschränkenden Gesetzes 85 ff. BauGB. Kompetenz des Bundes: Art. 74 Abs. 1 Nr. 18 GG (Bodenrecht). Kein Verstoß gegen Art. 14 Abs. 1, 3 GG. b) Verfassungsmäßigkeit der Enteignung im Einzelfall aa) Durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes (Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG) Hier: Enteignung auf Grund der 85 ff. BauGB. (+) bb) Das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt (Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG) Entschädigungsregelung in 93 Abs. 1 BauGB, Festlegung der Entschädigung im Einzelnen mittels des Enteignungsaktes.

52 Fall 15: Enteignung für Arbeitsplätze (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 2 cc) Höhe der Entschädigung (Art. 14 Abs. 3 S. 3 GG) Angemessenheit der Entschädigung. (+) dd) Zum Wohle der Allgemeinheit (Art. 14 Abs. 3 S. 1 GG) Unmittelbarer Nutznießer: Daimler-Chrysler AG als juristische Person des Privatrechts. Kein unmittelbares öffentliches Interesse an Grunderwerb durch Privatperson. Aber: Mittelbares Allgemeininteresse, da neue Arbeitsplätze und höhere Steuereinnahmen in Aussicht stehen. Genügt ein derartiges mittelbares Allgemeininteresse? BVerfG: Grds. ja. Aber: Missbrauchsgefahr; es muss gewährleistet sein, dass Privater tatsächlich die mittelbaren Vorteile erbringt. Daher: Gesetz muss ausdrücklich eine Enteignung zu Gunsten Privater erlauben und zudem Vorkehrungen treffen, um die Erreichung des Allgemeinwohlzwecks abzusichern. Hier: 85 ff. BauGB erlauben die Enteignung zu Gunsten Privater nicht ausdrücklich, auch werden keine Sicherungsvorkehrungen getroffen. Daher: Die Enteignung ist verfassungswidrig; sie verstößt gegen Art. 14 Abs. 1 GG. B. Art. 12 Abs. 1 GG Kein Eingriff in die Berufsfreiheit, weil es an einer objektiv-berufsregelnden Tendenz fehlt. C. Art. 2 Abs. 1 GG Subsidiär zu Art. 14 Abs. 1 GG. (-) Ergebnis: Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.

53 Fall 16: Ethikunterricht (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 1 Fall 16: Ethikunterricht (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, S. 224) Die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG; 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG) hat Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist. A. Zulässigkeit I. Zuständigkeit des BVerfG Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG. (+) II. Beteiligtenfähigkeit 90 Abs. 1 BVerfGG: Jedermann, der Träger der in Betracht kommenden Grundrechte ist. Die Eltern sind Träger der in Betracht kommenden Grundrechte aus Art. 7 Abs. 2 GG, Art. 6 Abs. 2 GG (i.v.m. Art. 4 Abs. 1, 2 GG) und Art. 2 Abs. 1 GG und damit Jedermann i.s.d. 90 Abs. 1 BVerfGG. Das Kind ist Träger der Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1, 2 GG und Art. 2 Abs. 1 GG und damit ebenfalls Jedermann i.s.d. 90 Abs. 1 BVerfGG. III. Prozessfähigkeit Die Eltern sind prozessfähig, sodass sie selbst wirksam Verfahrenshandlungen vornehmen können. Minderjährige sind grds. dann prozessfähig, wenn sie in Bezug auf das jeweilige Grundrecht reif und einsichtsfähig sind. Dabei sind die Wertungen der Rechtsordnung zu berücksichtigen. 5 S. 1 RelKEG bestimmt, dass Minderjährige ab Vollendung des 14. Lebensjahres selbst über ihre Religionszugehörigkeit bestimmen können. Erst dann sind Minderjährige nach einfachem Recht also wahrnehmungsberechtigt ( grundrechtsmündig ). Diese Wertung lässt sich auf den Verfassungsprozess übertragen, sodass der zehnjährige S der Vertretung durch seine Eltern bedarf. IV. Beschwerdegegenstand 90 Abs. 1 BVerfGG: Akt öffentlicher Gewalt. Hier: 128 SchG Nds. als Legislativakt (Landesgesetz). (+) V. Beschwerdebefugnis 90 Abs. 1 BVerfGG: Behauptung einer Grundrechtsverletzung. 1. Geltendmachung einer Grundrechtsverletzung Verletzung der Art. 2 Abs. 1; 4 Abs. 1, 2; 6 Abs. 2; 7 Abs. 2 GG zumindest möglich. (+) 2. Selbst, gegenwärtig, unmittelbar betroffen (+) VI. Erschöpfung des Rechtswegs und Grundsatz der Subsidiarität 1. Erschöpfung des Rechtswegs ( 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG)? Aber: Kein Rechtsweg gegen 128 SchG Nds. unmittelbar. 2. Subsidiarität? Hier: Alle Möglichkeiten auch inzidenten Rechtsschutzes sind ausgeschöpft.

54 Fall 16: Ethikunterricht (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 2 VII. Ordnungsgemäßer Antrag, Frist ( 23 Abs. 1, 92, 93 BVerfGG) (+) Zwischenergebnis: Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. B. Begründetheit Die Verfassungsbeschwerde ist gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG begründet, wenn die Beschwerdeführer durch den angegriffenen Akt der öffentlichen Gewalt in einem ihrer Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt sind. I. Art. 7 Abs. 2 GG 1. Direkte Anwendung Art. 7 Abs. 2 GG gibt den Erziehungsberechtigten das Recht, über die Teilnahme ihrer Kinder am Religionsunterricht zu bestimmen. Ethikunterricht ist jedoch angesichts dessen Neutralität kein Religionsunterricht. Eine direkte Anwendung ist ausgeschlossen. 2. Analoge Anwendung Art. 7 Abs. 2 GG könnte jedoch analoge Anwendung auf den Ethikunterricht finden, wenn eine planwidrige Regelungslücke bei vergleichbarer Interessenlage vorliegt. a) Planwidrige Regelungslücke Zunächst müsste eine planwidrige Regelungslücke vorliegen. Zwar sieht das GG eine Befreiungsmöglichkeit von anderen Fächern als dem Religionsunterricht nicht vor. Regelfall ist somit die Teilnahmepflicht an allen im Rahmen des Art. 7 Abs. 1 GG eingeführten Schulfächern, sodass es nahe liegt zu vermuten, der Gesetzgeber habe bewusst nur eine Ausnahme für den Religionsunterricht schaffen wollen. Allerdings stellte sich bei Schaffung des Art. 7 Abs. 2 GG die Frage weiterer wertorientierter Fächer wie Ethik nicht, da diese erst Anfang der 70er-Jahre - zunächst in Bayern, Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz - Eingang in die Lehrpläne fanden. Entsprechend enthalten auch die Materialien zur Entstehung des Art. 7 GG dahingehend keinerlei Anhaltspunkte. Allerdings können Regelungslücken grundsätzlich durch Änderung der tatsächlichen Verhältnisse auch dann entstehen, wenn eine Regelung ursprünglich abschließenden Charakter hatte. Eine planwidrige Regelungslücke lässt sich daher bejahen. b) Vergleichbare Interessenlage Jedoch müsste die von Art. 7 Abs. 2 GG geregelte Interessenlage mit dem vorliegenden Problem vergleichbar sein. Generelle Bedenken gegen eine Übertragung des Regelungsgehalts des Art. 7 Abs. 2 GG könnten zunächst insoweit bestehen, als Art. 7 Abs. 2 GG eine Ausnahme zur generellen Teilnahmepflicht aus Art. 7 Abs. 1 GG darstellt. Eine solche Ausnahmevorschrift müsste überhaupt analogiefähig sein. Dies ließe sich mit dem Argument verneinen, der Gesetzgeber habe mit der Ausnahme bewusst einen einzelnen Bereich vom Normalfall abweichend regeln wollen. Dieser Normzweck könnte bei einer Ausweitung der Ausnahmevorschrift durch eine Analogie in sein Gegenteil verkehrt werden. Stellt man jedoch auf den Normzweck ab, so ergibt sich aus diesem Argument bereits, dass ein generelles Analogieverbot bei Ausnahmen nicht durchgreifen kann: Vielmehr ist wie bei der Auslegung von Ausnahmen auch zu fragen, ob die der Ausnahmevorschrift zu Grunde liegende Interessenlage mit der des ungeregelten Falles übereinstimmt. Dies mag zwar nur selten der Fall sein, entspricht aber nicht einem allgemeinen Analogieverbot. Art. 7 Abs. 2 GG ist analogiefähig. Fraglich ist daher, welcher Interessenlage Art. 7 Abs. 2 GG Rechnung tragen will. Religionsunterricht ist gem. Art. 7 Abs. 3 S. 2 GG bekenntnisgebundener Unterricht, also Glaubensvermittlung und -betätigung in der Schule. Damit stellt der Religionsunterricht die Ausnahme zu den sonstigen Unterrichtsfächern dar, in denen der Stoff neutral im Sinne fehlender Identifikation des Staates mit einzelnen Inhalten vermittelt werden muss. Anders als bei diesen neutral vermittelten Fächern stellte eine Teilnahmepflicht am missionarisch wirkenden Religionsunterricht daher einen emp-

55 Fall 16: Ethikunterricht (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 3 findlichen Eingriff in die negative Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1, 2 GG) der Schüler und Eltern (i.v.m. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) dar. Art. 7 Abs. 2 GG trägt insofern der Situation Rechnung, dass einerseits Glaubensbetätigung als ordentliches Lehrfach zulässig ist, andererseits aber kein staatlicher Zwang zu derartigen religiösen Handlungen erzeugt werden darf. Die Einführung von Ethikunterricht wahrt hingegen die Neutralität und hält sich im Rahmen des Auftrags aus Art. 7 Abs. 1 GG (s.u. II.). Zudem stellt Ethikunterricht verschiedene Religionen dar und ist insofern pluralistisch angelegt. Die beim Religionsunterricht auftretende Konfliktlage stellt sich daher gerade nicht. Aus diesem Grund ist die Interessenlage des von Art. 7 Abs. 2 GG geregelten Falles in keiner Weise mit der Teilnahmepflicht an anderen wertorientierten Fächern vergleichbar. Eine Analogiebildung hinsichtlich des Ethikunterrichts scheidet aus. Ein Verstoß gegen Art. 7 Abs. 2 GG liegt nicht vor. II. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG i.v.m. Art. 4 Abs. 1, 2 GG 1. Schutzbereich a) Persönlicher Schutzbereich (+, s.o. A.II.) b) Sachlicher Schutzbereich Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG gewährleistet im Zusammenhang mit Art. 4 Abs. 1, 2 GG das Recht der Eltern, über die religiöse, weltanschauliche und sittliche Erziehung ihrer Kinder selbst zu bestimmen. Dazu gehört vor allem das Recht, die Kinder zu verantwortungs- und wertbewusstem Verhalten und Moral zu erziehen. Im Ethikunterricht nehmen staatliche Schulen eine wertorientierte Erziehung vor. Damit ist der Schutzbereich betroffen. 2. Eingriff Es müsste ein Eingriff vorliegen, der Schutzbereich also verkürzt werden. Gem. 128 Abs. 2 SchG Nds. sollen die Schulen eine wertorientierte Erziehung vornehmen. Diese erfolgt unabhängig von den Wünschen der Eltern, sodass eine den Erziehungsvorstellungen der Eltern zuwiderlaufende Wirkung eintreten kann. In das Erziehungsrecht der Eltern wird damit eingegriffen. 3. Rechtfertigung Jedoch ist der Eingriff gerechtfertigt, wenn er von den Schranken des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG gedeckt ist. a) Schranken Eine solche Schranke könnte sich aus Art. 7 Abs. 1 GG ergeben. Nach seinem Wortlaut stellt Art. 7 Abs. 1 GG die Schule unter die Aufsicht des Staates. Art. 7 Abs. 1 GG berechtigt und verpflichtet den Staat aber darüber hinaus, das Schulwesen zu organisieren und eigene Erziehungsziele zu setzen, sodass Art. 7 Abs. 1 GG dem elterlichen Erziehungsrecht Schranken zieht. b) Schranken-Schranken aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit (+) bb) Materielle Verfassungsmäßigkeit Art. 7 Abs. 1 GG berechtigt den Staat zur eigenständigen Erziehung in der Schule. Solange er dabei das Gebot der Neutralität wahrt, deckt das Erziehungsrecht auch das Einbringen religiöser und wertorientierter Bezüge. Das Erziehungsrecht der Eltern und das der Schule stehen dabei aber grundsätzlich gleichberechtigt nebeneinander, sodass keinem der beiden Rechte von vornherein der Vorrang zukommt. Lediglich im Bereich der individuellen Erziehung erkennt das BVerfG einen grundsätzlichen Vorrang des elterlichen Rechts an. Ansonsten müssen beide Erziehungsrechte im Sinne praktischer Konkordanz zu einem schonenden Ausgleich gebracht werden. Dies ist dann der Fall, wenn das mit dem Ethikunterricht staatlicherseits verfolgte Ziel gegenüber der damit verbundenen Beschränkung des Elternrechts verhältnismäßig ist. Verhältnismäßig ist eine Maßnahme, wenn sie einem legitimen Zweck dient und zu dessen Erreichung geeignet, erforderlich und angemessen ist.

56 Fall 16: Ethikunterricht (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 4 (1) Legitimer Zweck Der Ethikunterricht müsste einem legitimen Zweck dienen. Gem. 128 SchG Nds. ist primäres Ziel die in jeder Hinsicht neutrale Wissensvermittlung als Basis einer eigenständigen Wertebildung der Schüler ( 128 Abs. 2 SchG Nds.). Dabei sollen aber auch Werte im Unterricht vermittelt werden. In diesem Ziel liegt eine legitime Wahrnehmung des Auftrags aus Art. 7 Abs. 1 GG. (2) Eignung Die Konzeption des Ethikunterrichts ist zur Erreichung der genannten Ziele geeignet. (3) Erforderlichkeit Ethikunterricht müsste als Ersatz-Pflichtfach erforderlich sein. Erforderlich ist das zur Zielerreichung geeignete Mittel mit der vergleichsweise geringsten Eingriffsintensität. Denkbar ist hier, den Ethikunterricht als vollständig freiwilliges Wahlfach auszugestalten und so den Eltern und Schülern die Teilnahme freizustellen. Erziehungsziel ist jedoch eine Erziehung aller Schüler entweder im Religionsunterricht oder aber im Ethikunterricht. Dieses Ziel würde bei der Einrichtung eines Wahlfaches verfehlt. Ein gleichermaßen geeignetes Mittel mit geringerer Eingriffsintensität ist daher nicht gegeben. (4) Angemessenheit Fraglich ist jedoch, ob der Eingriff in das elterliche Erziehungsrecht gegenüber den verfolgten Zielen angemessen ist. Bei der Abgrenzung der Reichweite der jeweiligen Erziehungsrechte ist maßgeblich zu berücksichtigen, welche Institution zur Erreichung der verfolgten Ziele besser geeignet ist. Soweit es dabei um die Wissensvermittlung geht, ist dies traditionelle Aufgabe der Schule. Regelmäßig sind hier die besonders ausgebildeten Lehrkräfte in höherem Maße kompetent als die Eltern. Zudem ist der Eingriff durch die bloße Wissensvermittlung minimal, als damit weder eine Indoktrination noch eine weiter gehende Lenkung stattfinden. Soweit es also um Wissensvermittlung geht, hat das Recht aus Art. 7 Abs. 1 GG gegenüber Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG Vorrang. Dies müsste aber auch für die angestrebte Wertevermittlung gelten. Auch hier ist jedoch die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Unterrichts zu berücksichtigen, die die diesbezügliche Erziehung gerade den Eltern überlässt. Die Wertevermittlung selbst geht nicht über die im GG verankerte Werteordnung hinaus. Eine derart eng begrenzte Wertevermittlung ist vom schulischen Erziehungsrecht aber noch gedeckt und greift nicht in unangemessener Weise in die Elternrechte ein. Auch eine individuelle Erziehung, die nach der Rechtsprechung des BVerfG vorrangig den Eltern zusteht, findet damit nicht statt. Ferner darf der Staat auch der Entstehung von religiös oder weltanschaulich motivierten Parallelgesellschaften entgegenwirken und sich um die Integration von Minderheiten bemühen. Integration setzt nicht nur voraus, dass die religiös oder weltanschaulich geprägte Mehrheit jeweils anders geprägte Minderheiten nicht ausgrenzt; sie verlangt auch, dass diese sich selbst nicht abgrenzt und sich einem Dialog mit Andersdenkenden und Andersgläubigen nicht verschließt. Dies im Sinne gelebter Toleranz einzuüben und zu praktizieren, kann für den Landesgesetzgeber eine wichtige Aufgabe der öffentlichen Schule sein. Die Fähigkeit aller Schüler zu Toleranz und Dialog ist eine Grundvoraussetzung für die spätere Teilnahme nicht nur am demokratischen Willensbildungsprozess, sondern auch für ein gedeihliches Zusammenleben in wechselseitigem Respekt auch vor den Glaubensüberzeugungen und Weltanschauungen. Die Schule ist auch deshalb nicht gehalten, religiöse Bezüge auszuklammern (vgl. BVerfG, LKV 2007, 363 [364]). Das möglicherweise dennoch verbleibende Spannungsverhältnis muss im Sinne praktischer Konkordanz hingenommen werden. Die Einführung von Ethikunterricht durch 128 SchG Nds. nimmt daher den gebotenen schonenden Ausgleich zwischen Art. 7 Abs. 1 GG und Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG i.v.m. Art. 4 Abs. 1, 2 GG vor. Ein Verfassungsverstoß liegt insoweit nicht vor.

57 Fall 16: Ethikunterricht (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 5 III. Art. 4 Abs. 1, 2 GG 1. Schutzbereich a) Persönlicher Schutzbereich (+, s.o. A.II.) b) Sachlicher Schutzbereich Der Ethikunterricht müsste den sachlichen Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1, 2 GG berühren. In seiner Funktion als klassisches Abwehrrecht gewährleistet Art. 4 Abs. 1, 2 GG die negative Religionsfreiheit. Diese umfasst das Recht, eine religiöse Überzeugung abzulehnen ebenso wie das Recht, an Handlungen eines nicht geteilten Glaubens nicht teilzunehmen. Daher darf der Staat niemanden ohne eine Ausweichmöglichkeit religiösen Kundgebungen oder Handlungen aussetzen. Gem. 128 SchG Nds. ist Werte und Normen Ersatz-Pflichtfach an allen Schulen in Niedersachsen. In diesem Rahmen sollen den Schülern gem. 128 Abs. 2 SchG Nds. Grundlagen für eine wertorientierte Lebensgestaltung sowie über Religionen und Weltanschauungen vermittelt werden. Damit findet im staatlichen Bereich ein Kontakt mit Religion statt. Der Schutzbereich ist betroffen. 2. Eingriff Zweifelhaft ist aber, ob diese Berührung des Schutzbereichs schon einen Eingriff darstellt. Eingriff ist jede nachteilige Einwirkung eines Grundrechtsverpflichteten auf den Schutzgegenstand eines Abwehrrechts. Ein Eingriff könnte hier in der Konfrontation der Schüler mit religiösen Bezügen liegen. Zwar ist nach 128 Abs. 2 SchG Nds. eine Befassung auch mit Religionen Unterrichtsinhalt. Die Befassung erfolgt jedoch unter Wahrung der Neutralität. Es geht also nicht um Glaubensvermittlung oder um staatliche Identifikation mit bestimmten religiösen Inhalten sondern um Information und Wissensvermittlung. Bloße Wissensvermittlung kann jedoch nicht in Art. 4 Abs. 1, 2 GG eingreifen, als damit das Recht des Einzelnen zu glauben bzw. nicht zu glauben unangetastet bleibt. Hingegen darf die Schule durchaus Raum für eine sachliche Auseinandersetzung mit Religion als Teil der Gesellschaft geben. Soweit also lediglich Wissen vermittelt wird, liegt kein Eingriff in den Schutzbereich vor. Der Unterricht könnte hingegen über die neutrale Wissensvermittlung hinausgehen. Gem. 128 Abs. 2 SchG Nds. soll der Unterricht Verständnis für die in der Gesellschaft wirksamen Wertvorstellungen wecken. Jede Wertorientierung birgt aber die Gefahr einer Abkehr von der verfassungsrechtlich gebotenen Neutralität. Jedoch ist dabei zu berücksichtigen, dass die in Deutschland wirksame Wertordnung maßgeblich vom GG selbst geprägt wird. Solange der Unterricht im Sinne dieser religiös neutralen Werteordnung stattfindet, kann eine Abweichung von der staatlichen Neutralitätspflicht nicht stattfinden. Insgesamt wahrt 128 SchG Nds. daher die glaubensbezogene Neutralität in ausreichendem Maße. Der Ethikunterricht beeinträchtigt den Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1, 2 GG nicht und stellt folglich keinen Eingriff dar. Ein Verstoß gegen Art. 4 Abs. 1, 2 GG liegt nicht vor. IV. Art. 2 Abs. 1 GG Subsidiär zu Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG i.v.m. Art. 4 Abs. 1, 2 GG. (-) Ergebnis: Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, aber unbegründet.

58 Fall 17: Recht auf Rausch (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 1 Fall 17: Recht auf Rausch (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, S. 236 f.) Die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG; 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG) hat Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist. A. Zulässigkeit I. Zuständigkeit des BVerfG Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG. (+) II. Beteiligtenfähigkeit 90 Abs. 1 BVerfGG: Jedermann, der Träger der in Betracht kommenden Grundrechte ist. J ist Träger des hier in Betracht kommenden Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG (ggf. i.v.m. Art. 1 Abs. 1 GG) und damit Jedermann i.s.d. 90 Abs. 1 BVerfGG. III. Beschwerdegegenstand 90 Abs. 1 BVerfGG: Akt öffentlicher Gewalt. Hier: Verbotsnormen des BtMG als Legislativakte (Bundesgesetz). IV. Beschwerdebefugnis 90 Abs. 1 BVerfGG: Behauptung einer Grundrechtsverletzung. 1. Geltendmachung einer Grundrechtsverletzung Verletzung des Art. 2 Abs. 1 GG zumindest möglich. (+) 2. Selbst, gegenwärtig, unmittelbar betroffen? a) Selbst betroffen? J wird der Cannabiskonsum verboten. (+) b) Gegenwärtig betroffen? Das Verbot wirkt bereits bei Erhebung der Verfassungsbeschwerde. (+) c) Unmittelbar betroffen? Verbotsgesetz (BtMG) wirkt ohne notwendige Zwischenakte ( self executing ). (+) V. Erschöpfung des Rechtswegs und Grundsatz der Subsidiarität 1. Erschöpfung des Rechtswegs ( 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG) Kein Rechtsweg unmittelbar gegen Gesetze gegeben. (+) 2. Subsidiarität Nach der Rechtsprechung des BVerfG grds. erforderlich, dass der Beschwerdeführer alle Möglichkeiten auch inzidenten Rechtsschutzes erschöpft, damit der Vorrang der Fachgerichte gesichert bleibt und das BVerfG einen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht aufbereiteten Fall erhält.

59 Fall 17: Recht auf Rausch (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 2 Gilt auch bei Verfassungsbeschwerden gegen formelle Gesetze, auch wenn es hier regelmäßig keinen Rechtsweg gibt. Hier möglicher Rechtsschutz: Verstoß gegen das Verbot und rechtliches Vorgehen gegen die (strafrechtlichen) Sanktionen. Aber: Subsidiaritätsgrundsatz steht unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit, hier: Beschwerdeführer müsste strafrechtliche Sanktionen riskieren, die gerade im Fall des J schwer wiegende Konsequenzen haben können. Daher hier Unzumutbarkeit gegeben. VI. Ordnungsgemäßer Antrag ( 23 Abs. 1 BVerfGG) (+) Zwischenergebnis: Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. B. Begründetheit Die Verfassungsbeschwerde ist gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG begründet, wenn der Beschwerdeführer durch den angegriffenen Akt der öffentlichen Gewalt in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist. I. Art. 2 Abs. 1 GG i.v.m. Art. 1 Abs. 1 GG (Allgemeines Persönlichkeitsrecht) Schutz der personalen Entfaltung als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, aber nur Schutz vor Beeinträchtigungen, die die Persönlichkeit nachhaltig beeinträchtigen. Verbot des Cannabiskonsums genügt nicht. (-) II. Art. 2 Abs. 1 GG (Allgemeine Handlungsfreiheit) 1. Schutzbereich a) Persönlicher Schutzbereich (+, s.o. A.II.) b) Sachlicher Schutzbereich Art. 2 Abs. 1 GG: Freie Entfaltung der Persönlichkeit. Persönlichkeitskerntheorie bzw. Schutz nur der Entfaltung im engeren Lebensbereich? Aber: Was gehört zum Persönlichkeitskern bzw. zum engeren Lebensbereich? Außerdem kein umfassender Grundrechtsschutz, wenn enge Auslegung des Art. 2 Abs. 1 GG. (-) Daher vorzugswürdig: Auslegung als allgemeine Handlungsfreiheit. (+) 2. Eingriff Verbot des Cannabiskonsums beschränkt die allgemeine Handlungsfreiheit. (+) 3. Rechtfertigung a) Schranken Art. 2 Abs. 1 GG: Verfassungsmäßige Ordnung = alle Rechtsnormen, die formell und materiell mit der Verfassung übereinstimmen = einfacher Gesetzesvorbehalt. b) Schranken-Schranken Sind die strafbewehrten Verbotsnormen des BtMG Teil der verfassungsmäßigen Ordnung? aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit (+) bb) Materielle Verfassungsmäßigkeit Insbesondere: Verhältnismäßigkeit

60 Fall 17: Recht auf Rausch (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 3 (1) Legitimer Zweck Gesundheitsschutz, Schutz vor mit dem Rauschgiftkonsum verbundenen Gefahren. (+) (2) Eignung Zweifelhaft dann, wenn entweder von Cannabis keine Gefahren ausgehen oder aber das strafbewehrte Verbot keinen Einfluss auf den Cannabiskonsum hat bzw. diesen sogar fördert. Gesundheitsgefahren sind aber jedenfalls bei Dauerkonsum von Cannabis zu befürchten; hinzu kommen Gefahren im Straßenverkehr. Aber: Fehlende Eignung, weil Verbot Cannabiskonsum nicht verhindert und bei Jugendlichen erst interessant macht? Jedoch ist nicht sicher, ob bei einer Freigabe der Konsum nicht noch weiter ansteigen würde. BVerfG: Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers bei Unsicherheit über die Eignung einer Maßnahme, solange die fehlende Eignung nicht feststeht. (+) (3) Erforderlichkeit Gleich wirksames, aber milderes Mittel? Staatlich überwachte Freigabe von Cannabis? Aber unsicher, ob Konsum nicht zunehmen würde. Abkehr von der Strafbewehrung? Aber wohl Schwächung der verbleibenden Abschreckungswirkung. (+) (4) Angemessenheit Steht das strafbewehrte Verbot von Cannabisprodukten in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Ziel, Gesundheitsgefahren abzuwehren? Gesundheit als hochwertiges Rechtsgut (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG). Aber: Gesundheitsgefahren jedenfalls des Gelegenheitskonsums sind eher geringfügig. Zudem: Strafrecht als ultima ratio. Androhung von Freiheitsstrafe als empfindlicher Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG. Daher ist wohl das Verbot des gewerblichen Handels und des Umgangs mit großen Mengen angemessen, um eine Ausweitung des Konsumentenkreises insbesondere auf Minderjährige zu vermeiden. Steht aber auch das strafbewehrte Verbot des privaten Erwerbs und Besitzes geringer Mengen von Cannabis in angemessenem Verhältnis zum angestrebten Ziel? Grds. nein, weil Gesundheitsgefahren sowie Gefahren für die Allgemeinheit geringfügig sind. Bestrafung auch des Besitzes und Erwerbs geringer Mengen für den Eigenbedarf ist nach Ansicht des BVerfG grundsätzlich unangemessen. Aber: 29 Abs. 5 BtMG, Möglichkeit des Absehens von Strafe. Genügt diese prozessuale Möglichkeit, damit die an sich unverhältnismäßige Strafbewehrung des Verbotes als verhältnismäßig angesehen werden kann? Dagegen: Formulierung als Ermessensvorschrift; zudem ist einheitliche Handhabung vollständig ungesichert. Außerdem erhebliche Rechtsunsicherheiten für den Bürger, der nicht eindeutig erkennen kann, ob er bestraft werden kann oder nicht. Gerade im Strafrecht sind aber klare und eindeutige Regelungen zwingend erforderlich (vgl. Art. 103 Abs. 2 GG: Strafbarkeit gesetzlich bestimmt ). Hier aber wird ein Verhalten, welches an sich nicht strafwürdig ist, unter einen Straftatbestand subsumiert, wobei die Aussicht auf ein Absehen von Strafe besteht. Danach wäre das Verbot unangemessen. Dafür (BVerfG): Ermessensvorschrift des 29 Abs. 5 BtMG ist verfassungskonform auszulegen, sodass in geringfügigen Fällen stets von Strafe abzusehen ist. Danach wäre das Verbot selbst angemessen (a.a. gut vertretbar). Ergebnis: Folgt man dem BVerfG, ist die Verfassungsbeschwerde unbegründet.

61 Fall 18: Willy-Brandt-Gedenkmünze (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 1 Fall 18: Willy-Brandt-Gedenkmünze (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, S. 260) Die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG; 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG) hat Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist. A. Zulässigkeit I. Zuständigkeit des BVerfG (+) Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG. (+) II. Beteiligtenfähigkeit (+) 90 Abs. 1 BVerfGG: Jedermann, der Träger der in Betracht kommenden Grundrechte ist. S im Namen von Willy Brandt? Nein, Tote sind nicht (Grund)Rechtsträger. (-) Aber: Staatliche Verpflichtung zum Schutz der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG und ggf. auch aus Art. 2 Abs. 1 GG i.v.m. Art. 1 Abs. 1 GG (Endgültige Klärung kann auch an dieser Stelle erfolgen, vgl. unten B.I.) besteht fort (mittelbare Drittwirkung). Eine mögliche Verletzung der Schutzpflicht kann von den Angehörigen gerügt werden; ansonsten liefe die Schutzpflicht mangels einer Durchsetzungsmöglichkeit leer. Daher: S kann als Angehörige selbst eine Verletzung der Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG rügen. III. Beschwerdegegenstand (+) 90 Abs. 1 BVerfGG: Akt öffentlicher Gewalt. Entscheidung des BGH als Judikativakt. IV. Beschwerdebefugnis (+) 90 Abs. 1 BVerfGG: Behauptung einer Grundrechtsverletzung. 1. Geltendmachung einer Grundrechtsverletzung Vortrag der Beschwerdeführerin muss Möglichkeit der Grundrechtsverletzung ergeben. Verletzung der Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG und ggf. Art. 2 Abs. 1 i.v.m. Art. 1 Abs. 1 GG erscheint danach möglich; die abweisenden Urteile bleiben möglicherweise evident hinter dem erforderlichen Schutz zurück und verletzen das Untermaßverbot. 2. Selbst, gegenwärtig, unmittelbar betroffen? Selbst betroffen? Betroffenheit nur von Willy Brandt? Nein, Schutzpflichtverstöße betreffen auch Angehörige selbst (i.e. teleologische Erwägung, weil andernfalls Schutzpflicht nicht geltend gemacht werden kann). Gegenwärtig, unmittelbar betroffen. (+) V. Erschöpfung des Rechtsweges und Grundsatz der Subsidiarität 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG: Erschöpfung des Rechtswegs. (+) Subsidiarität. (Problem stellt sich i.d.r. nicht bei Urteilsverfassungsbeschwerden.)

62 Fall 18: Willy-Brandt-Gedenkmünze (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 2 VI. Ordnungsgemäßer Antrag, Frist ( 23 Abs. 1, 92, 93 BVerfGG) (+) Zwischenergebnis: Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. B. Begründetheit Die Verfassungsbeschwerde ist gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG begründet, wenn die Beschwerdeführerin durch den angegriffenen Akt der öffentlichen Gewalt in einem der wahrgenommenen Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist. I. Prüfungsumfang Zivilgerichtliche Entscheidungen betreffen auf der Grundlage von Privatrecht ( 22, 23 KUG) ausgetragenen Streit zwischen Privaten. Wirken Grundrechte auch im Privatrechtsverhältnis ( Drittwirkung )? 1. Unmittelbare Drittwirkung Nach Art. 1 Abs. 3 GG wird allein der Staat durch die Grundrechte gebunden. An anderer Stelle (Art. 9 Abs. 3; 20 Abs. 4; 48 Abs. 1, 2 GG) ordnet das Grundgesetz ausdrücklich eine unmittelbare Drittwirkung an. Hieraus ergibt sich, dass die unmittelbare Drittwirkung die Ausnahme ist, die einer ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung bedarf. Eine solche ist hier nicht vorhanden. 2. Mittelbare Drittwirkung Grundrechte als objektive Wertordnung; Staat ist gehalten, der Wirkung der Grundrechte auch in Privatrechtsverhältnissen im Rahmen seiner Schutzpflicht Geltung zu verschaffen. Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe sind Einfallstore für die Auslegung des einfachen Rechts im Sinne der grundrechtlichen Schutzpflicht ( Ausstrahlungswirkung ). Hier: Abwägung im Rahmen der 22, 23 KUG im Hinblick auf Grundrechte erforderlich (= mittelbare Drittwirkung). 3. Resultierender Prüfungsumfang Keine Nachprüfung der richtigen Anwendung des Privatrechts selbst, sondern nur Prüfung, ob Einwirkung der Grundrechte auf die Privatrechtsnormen bei der Auslegung vom Zivilrichter in Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht hinreichend beachtet wurde (Verletzung spezifischen Verfassungsrechts). Weiter Gestaltungsspielraum des Staates bei Erfüllung von Schutzpflichten; daher nur eingeschränkte Prüfung, ob die Bedeutung der Grundrechte nicht erkannt oder grundlegend verkannt worden ist (Untermaßverbot). II. Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG i.v.m. Art. 1 Abs. 1 GG (Allg. Persönlichkeitsrecht) 1. Sachlicher Schutzbereich Recht am eigenen Bild. (+) 2. Persönlicher Schutzbereich Träger des Grundrechts nur die lebende Person. (-) Aber Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 1 GG i.v.m. Art. 1 Abs. 1 GG zu Gunsten Verstorbener? BVerfG (-), a.a. gut vertretbar; die unter II. folgenden Erwägungen sind dann inhaltsgleich bereits hier anzustellen.

63 Fall 18: Willy-Brandt-Gedenkmünze (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 3 III. Art. 1 Abs. 1 GG 1. Schutzbereich a) Sachlicher Schutzbereich Objektformel: Verbot, den Mensch zum bloßen Objekt zu machen, beispielsweise durch Kommerzialisierung. (+) b) Persönlicher Schutzbereich Auch Schutz Verstorbener (postmortaler Persönlichkeitsschutz). (+) 2. Eingriff Eingreifendes staatliches Handeln? Nein, Prägung der Münze erfolgt durch Privaten. (-) 3. Verletzung der staatlichen Schutzpflicht Verweigerung verfassungsrechtlich gebotenen staatlichen Schutzes als Grundrechtsverletzung? In ihrer objektiv-rechtlichen Funktion verlangen die Grundrechte, dass der Staat schützend und fördernd für ihre tatsächliche Verwirklichung gerade auch in Privatrechtsbeziehungen eintritt. Dabei kommt dem Staat allerdings ein weiter Gestaltungsspielraum zu; eine Verletzung kann nur angenommen werden, wenn die grundrechtlichen Anforderungen evident verfehlt werden (Untermaßverbot). Im Einzelfall müssen daher die anwendbaren Gesetze selbst einen ausreichenden Schutz vorsehen. Zudem müssen die Grundrechte bei der Auslegung und Anwendung der Gesetze hinreichend Berücksichtigung finden. a) Gewährung hinreichenden Schutzes durch den Gesetzgeber? Hier: 823 Abs. 1 BGB, 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog i.v.m. 823 Abs. 2 BGB und 22, 23 KUG erlauben angemessenen Ausgleich zwischen der Achtung der Persönlichkeit und den Informationsinteressen der Allgemeinheit. (+) b) Gewährung hinreichenden Schutzes durch Anwendung des Gesetzes? Prüfung, ob das zivilgerichtliche Urteil die Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG hinreichend berücksichtigt. Maßstab: Schutz des Verstorbenen aus Art. 1 Abs. 1 GG schwächer als der Schutz eines lebenden Menschen aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht; daher Entscheidung jedenfalls verfassungsgemäß, wenn der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht gerechtfertigt wäre, falls Willy Brandt noch leben würde. 23 Abs. 1 KUG ist wegen des Persönlichkeitsrechts des Abgebildeten so auszulegen, dass ein Veröffentlichungsrecht ausscheidet, wenn ein schutzwürdiges Informationsinteresse der Allgemeinheit nicht besteht. 23 Abs. 1 KUG ist unanwendbar, wenn es allein um die kommerzielle Vermarktung von Produkten geht. Das Informationsinteresse der Allgemeinheit ist umso größer, je stärker die Person im Blickpunkt der Öffentlichkeit steht. Die Person Willy Brandt ist als ehemaliger Bundeskanzler für die Allgemeinheit von besonderem Interesse; die Medaille zeigt nicht nur eine Abbildung von Willy Brandt, sondern setzt diese auch in Beziehung zu seinen Leistungen als Staatsmann und Politiker. Dass die Münze daneben auch noch Sammler- und Anlegerinteressen anspricht, ist unschädlich. Daher: Staat ist seiner Schutzpflicht hinreichend nachgekommen; ein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG liegt nicht vor. Daher: Keine Verletzung von Grundrechten durch die Entscheidung des BGH. Ergebnis: Die Verfassungsbeschwerde der S ist zulässig, aber unbegründet.

64 Fall 19: Kindesentführung (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 1 Fall 19: Kindesentführung (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, S. 267 f.) Verletzen die polizeilichen Maßnahmen Grundrechte von A und B? A. Grundrechte des A I. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (Körperliche Unversehrtheit) 1. Schutzbereich persönlich: Jedermann (+) sachlich: Körperliche Unversehrtheit meint zunächst die menschliche Gesundheit im biologischphysiologischen Sinne. Die Integrität des Körpers wird umfassend geschützt; Schläge und Tritte betreffen daher den Schutzbereich. Aber grds. kein Schutz der psychischen Integrität, daher betreffen die Drohungen den Schutzbereich nicht. 2. Eingriff Beeinträchtigung des Schutzbereichs durch Schläge und Tritte, auch wenn weitere Folgen für Leben und Gesundheit nicht zu befürchten sind. (+) 3. Rechtfertigung a) Schranken Einfacher Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG. b) Schranken-Schranken aa) Verfassungsmäßigkeit des einschränkenden Gesetzes Ermächtigungsgrundlage: 12 NSOG i.v.m. 69 NSOG. Aber: 12 Abs. 4 NSOG i.v.m. 136a Abs. 1 StPO verbietet die Folter eindeutig. Außerdem: 69 Abs. 7 NSOG verbietet unmittelbaren Zwang zur Abgabe einer Erklärung. Es fehlt damit bereits an einer einfachrechtlichen Ermächtigungsgrundlage. Notstand, 34 StGB? Nein, nur Rechtfertigungsgrund, aber keine Ermächtigungsgrundlage für staatliches Handeln. Übergesetzlicher Notstand / Nothilfe / verfassungsunmittelbare Ermächtigung (Schutzpflicht) etc.? Nein, Vorbehalt des Gesetzes! Mangels einer Ermächtigungsgrundlage ist die Gewaltanwendung verfassungswidrig (Vorbehalt des Gesetzes). bb) Hilfsgutachten: Verfassungsmäßigkeit des Einzelaktes (1) Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG Qualifikation des Gesetzesvorbehalts des Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG (vgl. Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, Rn. 721 ff.). Verbot der Misshandlung festgehaltener Personen; erfasst ist damit zwar möglicherweise nicht jede Beeinträchtigung der körperlichen Integrität, jedenfalls aber die Folter (vgl. Degenhart, in: Sachs, GG, 4. Aufl. 2007, Art. 104, Rn. 41).

65 Fall 19: Kindesentführung (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 2 Norm ist eine Konkretisierung der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG, vorbehaltlos gewährleistet und insoweit auch keiner weiteren Relativierung / Abwägung zugänglich. A.A. Brugger, JZ 2000, 165 (169): Teleologische Reduktion auf Grund der staatlichen Schutzpflicht für die Menschenwürde des Kindes. Aber: Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG trifft eine eindeutige Aussage hinsichtlich des Misshandlungsverbots. Ausnahmen enthält die Norm nicht; sie konkretisiert vielmehr die Menschenwürdegarantie für den Fall des Gewahrsams. Anhaltspunkte für die Möglichkeit einer Reduktion sind nicht ersichtlich. (2) Ergebnis Die Gewaltanwendung verstößt daher gegen Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG i.v.m. Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG. II. Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG als eigenständiges grundrechtsgleiches Recht? Soweit er über Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG hinausgeht (seelische Misshandlung), könnte er als ein eigenständiges grundrechtsgleiches Recht anzusehen sein (Sachs, Verfassungsrecht II, 2. Aufl. 2003, S. 209, Rn. 129 a.e.). Aber: Seelische Misshandlung durch den Staat wird zumindest von Art. 2 Abs. 1 GG (i.v.m. Art. 1 Abs. 1 GG) erfasst. Müsste dann nicht auch Art. 2 Abs. 1 GG das anzuwendende Grundrecht sein, in dessen Rahmen Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG als Schranken-Schranke und Verstärkung Berücksichtigung findet? Dafür: Festlegung nur der Modalitäten der Freiheitsbeschränkung; sonstige Grundrechte gelten für Gefangene ebenfalls ohne Einschränkungen (BVerfGE 33, 1 [10 f.]). Daher ist Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG kein eigenständiges grundrechtsgleiches Recht (a.a. gut vertretbar). III. Art. 2 Abs. 1 GG i.v.m. Art. 1 Abs. 1 GG (Allg. Persönlichkeitsrecht) 1. Schutzbereich Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt die Integrität der Person in geistig-seelischer Hinsicht (insofern als Pendant zu Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) und dabei insbesondere den Kern der Persönlichkeit. Eingeschlossen ist daher auch der Schutz vor seelischer Misshandlung. Die Drohungen mit körperlicher Misshandlung bzw. Tod berühren insofern den Schutzbereich. 2. Eingriff Drohungen mit Misshandlung bzw. Tod sollen die freie Willensbildung insofern beeinträchtigen, als die Preisgabe des Aufenthaltsortes des Kindes erzwungen werden soll. Ein Eingriff liegt damit vor. 3. Rechtfertigung a) Schranken Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung (Art. 2 Abs. 1 GG) = alle Rechtsnormen, die formell und materiell mit der Verfassung in Einklang stehen. Hier: keine Rechtsnorm vorhanden, die Drohungen erlaubt. Damit liegt ein Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 GG i.v.m. Art. 1 Abs. 1 GG vor. b) Hilfsgutachten: Schranken-Schranken Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG: Verbot seelischer Misshandlung im Gewahrsam. Seelische Misshandlung ist jede entwürdigende und entehrende Behandlung, umfasst also jedenfalls alle Maßnahmen, die die freie Willensbildung und das Erinnerungsvermögen beeinträchtigen können (Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. III, 5. Auflage 2003, Art. 104, Rn. 15). A befindet sich im Gewahrsam; daher ist jede Misshandlung - d.h. auch Bedrohung - nicht zulässig.

66 Fall 19: Kindesentführung (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 3 Ist eine Rechtfertigung durch kollidierendes Verfassungsrecht möglich? Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG ist vorbehaltlos gewährleistet; zudem konkretisiert die Vorschrift die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG. Mangels einer Schranke ist daher eine Eingriffsrechtfertigung nicht möglich (s.o.). 4. Ergebnis Die Androhung von Gewalt verletzt Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG. IV. Art. 1 Abs. 1 GG (Menschenwürde) 1. Art. 1 Abs. 1 GG als Grundrecht? Hinweis: Diese Frage ist nur dann relevant, wenn nach der Verletzung von subjektiven Rechten - z.b. im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde oder nach der hier gegebenen Fragestellung - die Rede ist. Ist allgemein nach einem Verfassungsverstoß gefragt, müssen Ausführungen hierzu unterbleiben, weil dann ein Verstoß gegen bloß objektives Verfassungsrecht genügt und die subjektive Berechtigung keine Rolle spielt. Wortlaut insoweit offen. Zwar objektive, staatsgerichtete Formulierung, aber auch andere anerkannte Grundrechte sind derart formuliert. Systematik: Dafür spricht die Stellung im Grundrechteteil (Überschrift: I. Die Grundrechte ), aber auch dort gibt es bloß objektives Verfassungsrecht (vgl. Art. 7 Abs. 1 GG). Dagegen spricht Art. 1 Abs. 3 GG ( nachfolgende Grundrechte ). Aber: Bindungswirkung des Art. 1 Abs. 1 GG ist bereits in Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG eindeutig formuliert. Telos: Soll ausgerechnet die Menschenwürdegarantie als Zentralnorm des Grundgesetzes kein Grundrecht sein, auf das sich der Einzelne berufen kann? Aber: Ungeklärte Konkurrenzfragen bei Annahme eines Grundrechts aus Art. 1 Abs. 1 GG. Wie ist das Verhältnis von Art. 1 Abs. 1 GG zu den anderen Grundrechten? Eigentlich müssten alle anderen Freiheitsrechte als Konkretisierungen der Menschenwürdegarantie zu Art. 1 Abs. 1 GG lex specialis sein. Dieses Ergebnis verträgt sich aber kaum mit dem materiellen Rang der Menschenwürde (und ggf. auch nicht mit deren Vorbehaltlosigkeit). Daher ist die Menschenwürde wohl neben den anderen Grundrechten anzuwenden. Die Rechtsprechung des BVerfG weicht dieser Frage beharrlich aus (vgl. etwa BVerfGE 51, 97 [105]; 53, 257 [300]; 56, 363 [393]). Insgesamt h.m., dass Art. 1 Abs. 1 GG Grundrecht ist. A.A. vertretbar, dann Lösung nur über das Allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG i.v.m. Art. 1 Abs. 1 GG). 2. Schutzbereich persönlich: Jedermann (+) sachlich: Schutz davor, dadurch zum bloßen Objekt staatlichen Handelns gemacht zu werden, dass die Subjektqualität des Menschen grundsätzlich in Frage gestellt wird ( Objektformel ). BVerfGE 109, 279 (311 ff.): aa) Die Menschenwürde ist tragendes Konstitutionsprinzip und oberster Verfassungswert (vgl. BVerfGE 6, 32 [36]; 45, 187 [227]; 72, 105 [115]). Der Gewährleistungsgehalt dieses auf Wertungen verweisenden Begriffs bedarf der Konkretisierung. Dies geschieht in der Rechtsprechung in Ansehung des einzelnen Sachverhalts mit dem Blick auf den zur Regelung stehenden jeweiligen Lebensbereich und unter Herausbildung von Fallgruppen und Regelbeispielen (vgl. zu Art. 100 BV etwa Bayerischer Verfassungsgerichtshof, BayVBl 1982, S. 47 [50]). Dabei wird der Begriff der Menschenwürde häufig vom Verletzungsvorgang her beschrieben (vgl. BVerfGE 1, 97 [104]; 27, 1 [6]; 30, 1 [25]; 72, 105 [115 ff.]). Anknüpfend an die Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus standen in der Rechtsprechung zunächst Erscheinungen wie Misshandlung, Verfolgung und Diskriminierung im Zentrum der Überlegungen. Es ging insbesondere, wie das Bundesverfassungsgericht in einer seiner ersten Entscheidungen formulierte, um den Schutz vor Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw. (vgl. BVerfGE 1, 97 [104]). Später wurde die Menschenwürdegarantie im Hinblick auf neue Gefährdungen maßgebend, so in den 1980er Jahren für den Missbrauch der Erhebung und Verwertung von Daten (vgl. BVerfGE 65, 1). Im Zusammenhang der Aufarbeitung des Unrechts aus der Deutschen Demokratischen Republik wurde die Verletzung von Grundsätzen der Menschlichkeit unter anderem bei der Beschaffung und Weitergabe von Informationen zum Gegenstand der Rechtsprechung (vgl. BVerfGE 93, 213 [243]). Gegenwärtig bestimmen insbesondere Fragen des Schutzes der personalen Identität und der psychisch-sozialen Integrität die Auseinandersetzungen über den Menschenwürdegehalt. (1) Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt betont, dass es mit der Würde des Menschen nicht vereinbar ist, ihn zum bloßen Objekt der Staatsgewalt zu machen (vgl. BVerfGE 30, 1 [25 f. und 39 ff.]; 96, 375 [399]). So darf ein Straftäter nicht unter Verletzung seines verfassungsrechtlich geschützten sozialen Wert- und Achtungsanspruchs behandelt und dadurch zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung und Strafvollstreckung gemacht werden (vgl.

67 Fall 19: Kindesentführung (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 4 BVerfGE 45, 187 [228]; 72, 105 [116]). Allerdings sind der Leistungskraft der Objektformel auch Grenzen gesetzt (vgl. BVerfGE 30, 1 [25]). Der Mensch ist nicht selten bloßes Objekt nicht nur der Verhältnisse und der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch des Rechts, dem er sich zu fügen hat. Die Menschenwürde wird nicht schon dadurch verletzt, dass jemand zum Adressaten von Maßnahmen der Strafverfolgung wird, wohl aber dann, wenn durch die Art der ergriffenen Maßnahme die Subjektqualität des Betroffenen grundsätzlich in Frage gestellt wird. Das ist der Fall, wenn die Behandlung durch die öffentliche Gewalt die Achtung des Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen um seiner selbst willen zukommt. Solche Maßnahmen dürfen auch nicht im Interesse der Effektivität der Strafrechtspflege und der Wahrheitserforschung vorgenommen werden. Folter betrifft den Schutzbereich der Menschenwürdegarantie. 3. Eingriff Greift Folter in den Schutzbereich der Menschenwürdegarantie ein? Folter soll den Willen des Gefolterten gewaltsam brechen und ihn zur Preisgabe einer Information zwingen, die er nicht preisgeben will. Mit diesem gewaltsamen Brechen des Willens - nicht die freie Entscheidung über die Preisgabe der Information, sondern die Preisgabe unter Schmerzen als Reflex - wird eine vollständige Herrschaft des Staates über Körper und Geist des Täters begründet. Eine solche Beherrschung hebt die Subjektsqualität (partiell) auf und greift in die Menschenwürde des Täters ein. 4. Rechtfertigung Keine Schrankenregelung vorhanden; Art. 1 Abs. 1 GG ist vorbehaltlos ( unantastbar ) gewährleistet. Aber: Rechtfertigung eines Eingriffs durch die Schranke kollidierenden Verfassungsrechts? a) Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG des Opfers als kollidierendes Verfassungsrecht? Hier: Polizei musste von einer Lebensgefahr für das Kind ausgehen. Die Grundrechte statuieren eine objektive Wertordnung, die den Staat über die Abwehrfunktion der Grundrechte hinaus verpflichtet, sich schützend und fördernd vor ein bedrohtes Grundrecht auch dann zu stellen, wenn die Bedrohung nicht aus dem staatlichen Bereich kommt. Grundrechte enthalten also Schutzpflichten. Polizei handelt entsprechend dieser Schutzpflicht, wenn sie das Leben des Kindes verteidigt. Erlaubt die Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG einen Eingriff in die Menschenwürde des Täters? Menschenwürde ist der Höchstwert der Verfassung; die Ausnahmestellung folgt aus der Stellung in Art. 1 GG, der Formulierung ( unantastbar ), der Änderungsfestigkeit ihrer Grundsätze (Art. 79 Abs. 3 GG) und ihrer ideengeschichtlichen Herkunft (Achtung des Eigenwerts des Menschen als oberstes Gebot, Erfahrungen des Nationalsozialismus). Eine Relativierung der Menschenwürde als Abwehrrecht des Täters kommt daher allenfalls in Betracht, wenn das Grundrecht auf Leben ebenfalls ein - der Menschenwürde rangmäßig entsprechender - Höchstwert wäre. Dafür: Leben ist Voraussetzung der Menschenwürde; wer nicht lebt, hat keine Würde. Bedingt aber die Würde das Leben, muss das Leben den Rang der Würde teilen? Dagegen aber: Schon das Grundgesetz erkennt an, dass nicht jede Tötung die Menschenwürde verletzt; anders ist der Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG nicht zu erklären. In der Tötung eines Menschen liegt daher nicht unbedingt (wenn auch häufig) dessen Missachtung als Subjekt. Daher auch BVerfGE 115, 118 (159 f.): Dem Staat und seinen Organen kommt bei der Erfüllung derartiger Schutzpflichten ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsbereich zu. Anders als die Grundrechte in ihrer Funktion als subjektive Abwehrrechte sind die sich aus dem objektiven Gehalt der Grundrechte ergebenden staatlichen Schutzpflichten grundsätzlich unbestimmt. Wie die staatlichen Organe solchen Schutzpflichten nachkommen, ist von ihnen prinzipiell in eigener Verantwortung zu entscheiden. Das gilt auch für die Pflicht zum Schutz des menschlichen Lebens. Zwar kann sich gerade mit Blick auf dieses Schutzgut in besonders gelagerten Fällen, wenn anders ein effektiver Lebensschutz nicht zu erreichen ist, die Möglichkeit der Auswahl der Mittel zur Erfüllung der Schutzpflicht auf die Wahl eines bestimmten Mittels verengen. Die Wahl kann aber immer nur auf solche Mittel fallen, deren Einsatz mit der Verfassung in Einklang steht.

68 Fall 19: Kindesentführung (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 5 Das ist bei der Folter nicht der Fall, weil sie die Subjektstellung des Menschen missachtet und in einer mit Art. 1 Abs. 1 GG nicht zu vereinbarenden Weise das daraus für den Staat sich ergebende Tötungsverbot verletzt. Daran ändert es nichts, dass dieses Vorgehen dazu dienen soll, das Leben anderer Menschen zu schützen und zu erhalten. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG teilt nicht den Rang der Menschenwürde. Die aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgende Schutzpflicht kann daher das Abwehrrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG nicht relativieren. b) Art. 1 Abs. 1 GG des Opfers als kollidierendes Verfassungsrecht? Angesichts der besonderen Situation - allein, vermutlich verletzt, unterkühlt, in einem Erdloch - war von einer Verletzung der Menschenwürde des Kindes auszugehen. Die Polizei handelte daher in Ausübung ihrer aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG folgenden Schutzpflicht für die Menschenwürde das Kindes. Ist die Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG in der Lage, das Abwehrrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG einzuschränken? Dafür: Schutzpflicht und Eingriffsverbot folgen beide aus Art. 1 Abs. 1 GG und stehen daher auf derselben Ebene. Gebietet die Schutzpflicht ein Handeln und das Eingriffsverbot ein Nichthandeln, muss der Staat diesen Konflikt durch Abwägung auflösen. Dafür: Handelt Staat nicht, stellt er sich auf die Seite des Rechtsbrechers (Brugger, JZ 2000, 165 [167]). Dagegen: Das Abwehrrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG gebietet normativ ein eindeutiges Verhalten: das Unterlassen des Eingriffs. Die Schutzpflicht verpflichtet hingegen abstrakt zum Schutz, ohne ein konkretes staatliches Verhalten vorzugeben. Entsprechend besteht bei der Erfüllung von Schutzpflichten ein staatlicher Gestaltungsspielraum. Das BVerfG kontrolliert nur die Einhaltung der Grenzen dieses Spielraums. Entsprechend diesem Verhältnis - konkrete gegen abstrakte Pflicht - geht das Eingriffsverbot der Schutzpflicht zunächst vor. Der Staat kann und darf in Verfolgung der Schutzpflicht daher nur dann in fremde Grundrechte eingreifen, wenn er sich auf eine vorhandene Schrankenregelung stützen kann. Eine solche Schrankenregelung sieht Art. 1 Abs. 1 GG aber nicht vor; vielmehr ist die Unantastbarkeit der Menschenwürde eindeutig statuiert (Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG). Allerdings kann sich die Schutzpflicht dann zu einer konkreten Handlungspflicht verdichten, wenn ein höchstwertiges Rechtsgut nur auf eine Art und Weise bewahrt werden kann. In diesem Fall kollidieren zwei konkrete Pflichten, das Eingriffsverbot zu Gunsten des Täters und die Schutzpflicht zu Gunsten des Opfers. Eine solche Situation ist hier wohl gegeben; die Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG würde den Staat daher zur Folter verpflichten. Dennoch ist das Verhältnis der beiden Normebenen - Eingriffsverbot und Schutzpflicht - des Art. 1 Abs. 1 GG nicht einzelfallabhängig zu bestimmen. Während das Eingriffsverbot schon vom Normtext her immer ein konkretes Verhalten untersagt, gebietet die Schutzpflicht vom Normtext her zunächst nur ein Tätigwerden überhaupt. Erst im Einzelfall kann sie sich angesichts einer speziellen Situation zu einer konkreten Handlungspflicht verdichten. Damit steht auf normativer Ebene weiter eine konkrete gegen eine abstrakte Pflicht, sodass die konkrete Pflicht vorgeht. Der Vorrang des konkreten Eingriffsverbots aus Art. 1 Abs. 1 GG auf der Normebene ist daher generell und nicht vom Einzelfall abhängig. Daher ist die Menschenwürdegarantie in keiner Weise einer Abwägung bzw. Relativierung zugänglich (so auch BVerfGE 93, 266 [293] und zuletzt BVerfGE 115, 118 [153, 160]). Nicht von Bedeutung ist auch, dass A die Situation selbst verschuldet hat. Auf die Menschenwürde kann weder verzichtet, noch kann ihr Geltungsanspruch durch eigenes Verhalten gemindert werden. Menschenwürde ist unabhängig von eigenem Verdienst und eigenen Fehlern; sie steht jedem Menschen kraft seines Menschseins in gleicher Weise zu. Daher ist auch das Argument von Brugger, der Staat stelle sich auf die Seite des Rechtsbrechers unzutreffend. Der Staat achtet vielmehr seine verfassungsgegebenen Grenzen. 5. Ergebnis Die Drohungen, Schläge und Tritte verletzen die Menschenwürde des A.

69 Fall 19: Kindesentführung (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 6 B. Grundrechte des B I. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (Leben) 1. Schutzbereich persönlich: Jedermann. (+) sachlich: Leben. (+) 2. Eingriff Todesschuss vernichtet das Leben des B und stellt damit einen Eingriff dar. 3. Rechtfertigung a) Schranken Einfacher Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG. b) Schranken-Schranken aa) Verfassungsmäßigkeit des einschränkenden Gesetzes (1) Formell Gesetzgebungskompetenz, Art. 70 GG. (+) Zitiergebot, Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG: 10 NSOG. (+) (2) Materiell Parlamentsvorbehalt, Art. 20 Abs. 3 GG? Hat der parlamentarische Gesetzgeber mit 76 Abs. 2 S. 2 NSOG hinreichend bestimmt die Voraussetzungen für den Todesschuss selbst festgelegt? Maßstab: Wesentlichkeitstheorie. Festlegung der Voraussetzungen für einen tödlichen Schuss; nur zwei Situationen (gegenwärtige Lebensgefahr / gegenwärtige Gefahr einer schwer wiegenden Verletzung der körperlichen Unversehrtheit) benannt. Damit hat der parlamentarische Gesetzgeber selbst die wesentlichen Voraussetzungen festgelegt. Bestimmtheitsgrundsatz, Art. 20 Abs. 2 GG. (+) Verstoß gegen Art. 102 GG? Nein, polizeilicher Todesschuss ist keine Strafe i.s.v. Art. 102 GG. Verstoß gegen die Wesensgehaltsgarantie, Art. 19 Abs. 2 GG? Gesetz lässt Tötung von Menschen zu. Vom Grundrecht auf Leben bleibt daher in der konkreten Situation für den Grundrechtsinhaber nichts mehr übrig ( Theorie vom absoluten Wesensgehalt in Bezug auf den konkreten Inhaber). Aber: Abstellen auf den konkreten Grundrechtsinhaber widerspricht Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG, der ausdrücklich auch Eingriffe in das Recht auf Leben zulässt. Daher: Wesensgehaltsgarantie nur dann verletzt, wenn Gesamtabwägung aller Interessen im Einzelfall eine Grundrechtsverletzung ergibt ( Theorie vom relativen Wesensgehalt )? Aber: Verhältnismäßigkeitsprüfung wird ohnehin vorgenommen; Art. 19 Abs. 2 GG liefe leer. Daher: Theorie vom absoluten Wesensgehalt in Bezug auf das Grundrecht an sich; d.h. vom Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG muss generell noch etwas verbleiben. Dies ist angesichts der nur ausnahmsweise im Einzelfall zulässigen Tötung von Menschen der Fall. Ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 2 GG liegt nicht vor. Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit?

70 Fall 19: Kindesentführung (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 7 Legitimer Zweck: Schutz des Lebens des Kindes. (+) Eignung, Erforderlichkeit. (+) Angemessenheit: Unzulässigkeit einer Abwägung des Abwehrrechts des Täters aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG mit der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG für das Leben des Kindes ( Abwägung: Leben gegen Leben )? Aber: Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG erzwingt eine solche Abwägung. Eingriffe in das Leben kommen jedenfalls im Regelfall nur zum Schutz anderer Menschenleben in Betracht. Zudem: Abwägung bewertet nicht den Wert einzelner Menschenleben, sondern orientiert sich an der Situation. Das Leben des Täters, also des Verursachers der Gefahr, wird vernichtet, weil dieser die Gefahr rechtswidrig verursacht hat. Es entspricht gerade der Subjektstellung des Angreifers, wenn ihm die Folgen seines selbstbestimmten Verhaltens persönlich zugerechnet werden und er für das von ihm in Gang gesetzte Geschehen in Verantwortung genommen wird. Er wird daher auch in seinem Recht auf Achtung der auch ihm eigenen menschlichen Würde nicht beeinträchtigt (BVerfGE 115, 118 [161]). Ein Eingriff in das Leben ist daher unter den in 76 Abs. 2 S. 2 NSOG genannten Voraussetzungen (gegenwärtige Gefahr für höchstwertige Rechtsgüter, ultima ratio) angemessen und grds. zulässig. bb) Verfassungsmäßigkeit des Einzelaktes Der konkrete Schuss hält sich im Rahmen der Ermächtigung und ist aus den genannten Gründen ebenfalls verhältnismäßig. II. Art. 1 Abs. 1 GG (Menschenwürde) Keine Gleichsetzung von Menschenwürde und Leben (s.o.). Besondere Umstände, die den Schutzbereich der Menschenwürdegarantie berühren, sind nicht ersichtlich. Die Menschenwürdegarantie ist daher nicht betroffen. III. Ergebnis Der Todesschuss ist verfassungsgemäß.

71 Fall 20: Lebach (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 1 Fall 20: Lebach (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, S. 271 f.) Die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG; 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG) hat Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist. A. Zulässigkeit I. Zuständigkeit des BVerfG Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG. (+) II. Beteiligtenfähigkeit 90 Abs. 1 BVerfGG: Jedermann, der Träger der in Betracht kommenden Grundrechte ist. B ist Träger des in Betracht kommenden Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG i.v.m. Art. 1 Abs. 1 GG (allgemeines Persönlichkeitsrecht). III. Beschwerdegegenstand 90 Abs. 1 BVerfGG: Akt der öffentlichen Gewalt. Hier: Zivilgerichtliche Urteile als Akte der Judikative, nicht aber die beabsichtigte Ausstrahlung der Sendung durch S (Akt eines Privaten!). IV. Beschwerdebefugnis 90 Abs. 1 BVerfGG: Behauptung einer Grundrechtsverletzung. 1. Geltendmachung einer Grundrechtsverletzung Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 GG i.v.m. Art. 1 Abs. 1 GG) erscheint möglich. Es ist nicht offensichtlich ausgeschlossen, dass die aus Art. 2 Abs. 1 GG i.v.m. Art. 1 Abs. 1 GG resultierenden staatlichen Schutzpflichten ein Tätigwerden der Gerichte im Sinne des B erfordert hätten (mittelbare Drittwirkung). 2. Selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen (+) V. Erschöpfung des Rechtswegs und Grundsatz der Subsidiarität B hat den gesamten Rechtsweg gem. 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG erfolglos durchlaufen und alle denkbaren Möglichkeiten ausgeschöpft. (+) VI. Ordnungsgemäßer Antrag, Frist ( 23 Abs. 1, 92, 93 BVerfGG) (+) Zwischenergebnis: Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. B. Begründetheit Die Verfassungsbeschwerde ist gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG begründet, wenn der Beschwerdeführer durch den angegriffenen Akt der öffentlichen Gewalt in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist.

72 Fall 20: Lebach (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 2 I. Art. 2 Abs. 1 GG i.v.m. Art. 1 Abs. 1 GG 1. Prüfungsumfang Zivilgerichtliche Entscheidungen betreffen auf der Grundlage von Privatrecht ( 22, 23 KUG) ausgetragenen Streit zwischen Privaten. Wirken Grundrechte auch im Privatrechtsverhältnis ( Drittwirkung )? a) Unmittelbare Drittwirkung Nach Art. 1 Abs. 3 GG wird allein der Staat durch die Grundrechte gebunden. An anderer Stelle (Art. 9 Abs. 3; 20 Abs. 4; 48 Abs. 1, 2 GG) ordnet das Grundgesetz ausdrücklich eine unmittelbare Drittwirkung an. Hieraus ergibt sich, dass die unmittelbare Drittwirkung die Ausnahme ist, die einer ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung bedarf. Eine solche ist hier nicht vorhanden. b) Mittelbare Drittwirkung Grundrechte als objektive Wertordnung; Staat ist gehalten, der Wirkung der Grundrechte auch in Privatrechtsverhältnissen im Rahmen seiner Schutzpflicht Geltung zu verschaffen. Insbesondere Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe sind Einfallstore für die Auslegung des einfachen Rechts im Sinne der grundrechtlichen Schutzpflicht ( Ausstrahlungswirkung ). Hier: Abwägung im Rahmen des 23 KUG im Hinblick auf Grundrechte erforderlich (= mittelbare Drittwirkung). c) Resultierender Prüfungsumfang Keine Nachprüfung der richtigen Anwendung des Privatrechts selbst, sondern nur Prüfung, ob Einwirkung der Grundrechte auf die Privatrechtsnormen bei der Auslegung vom Zivilrichter in Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht hinreichend beachtet wurde (Verletzung spezifischen Verfassungsrechts). Weiter Gestaltungsspielraum des Staates bei Erfüllung von Schutzpflichten; daher nur eingeschränkte Prüfung, ob die Bedeutung der Grundrechte nicht erkannt oder grundlegend verkannt worden ist. 2. Schutzbereich a) Persönlicher Schutzbereich (+, s.o. A.II.) b) Sachlicher Schutzbereich Das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG i.v.m. Art. 1 Abs. 1 GG sichert jedem Einzelnen einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung, in dem er seine Individualität entwickeln und wahren kann. Hierzu gehört auch das Recht, in diesem Bereich für sich zu sein, sich selber zu gehören, ein Eindringen oder einen Einblick durch andere auszuschließen. Dies umfasst das Recht am eigenen Bild und gesprochenen Wort, erst Recht aber das Verfügungsrecht über Darstellungen der eigenen Person. Jedermann darf grundsätzlich selbst und allein bestimmen, ob und wieweit andere sein Lebensbild im Ganzen oder bestimmte Vorgänge aus seinem Leben öffentlich darstellen dürfen. Die Schutzintensität des allgemeinen Persönlichkeitsrechts variiert allerdings: Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts steht nicht der gesamte Bereich des privaten Lebens unter absolutem Schutz. Sobald der Einzelne als ein in der Gemeinschaft lebender Bürger in Kommunikation mit anderen tritt, durch sein Sein oder Verhalten auf andere einwirkt und dadurch die persönliche Sphäre von Mitmenschen oder Belange des Gemeinschaftslebens berührt, können sich Einschränkungen seines ausschließlichen Bestimmungsrechts über seine Darstellung in der Öffentlichkeit ergeben. Sowohl die Darstellung des B im Bild zu Beginn der Sendung einerseits, als auch die schauspielerische Darstellung seiner Person und seines Handelns im Zuge der Sendung andererseits berühren den so skizzierten Schutzbereich. Betroffen ist einerseits das Recht am eigenen Bild; andererseits

73 Fall 20: Lebach (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 3 3. Eingriff aber auch das Recht zur Selbstdarstellung und zum Ausschluss Dritter aus dem persönlichen Lebensbereich als Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG i.v.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Außerdem fällt auch das Recht auf Resozialisierung in den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Ferner müsste ein Eingriff in den Schutzbereich vorliegen. B wendet sich in der Sache gegen die beabsichtigte Ausstrahlung der Sendung durch die private Fernsehanstalt S. In der beabsichtigten Ausstrahlung liegt jedoch schon deshalb kein Grundrechtseingriff, weil S nicht unmittelbar an die Grundrechte gebunden ist. Das Handeln eines Privaten kann deshalb weder in Grundrechte eingreifen, noch einen tauglichen Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde darstellen. Gegenstand der Verfassungsbeschwerde sind deshalb die Gerichtsurteile, die ein Verbot der Ausstrahlung abgelehnt haben. B beruft sich daher darauf, dass es die Gerichte versäumt haben, sein Persönlichkeitsrecht in der Konkurrenz zu den Rechten des Fernsehsenders hinreichend zu beachten. Durch die Gerichtsurteile wurde jedoch nicht der Rechtskreis des B beeinträchtigt; vielmehr haben es die Gerichte abgelehnt, durch die Gewährung von Schutz den Rechtskreis zu erweitern. Dementsprechend können - unabhängig von der Frage, ob der Zivilrichter überhaupt an die abwehrrechtliche Seite der Grundrechte gebunden ist - in den Urteilen der Gerichte keine Eingriffe gesehen werden; vielmehr liegt ein Unterlassen vor, dass nur dann rechtlich relevant ist, wenn aus den Schutzpflichten eine Verpflichtung zum Handeln resultiert. 4. Verstoß gegen eine staatliche Schutzpflicht In dem Unterlassen der Zivilrichter könnten Verstöße gegen staatliche Schutzpflichten zu sehen sein. Ebenso wie der Gesetzgeber bei der Schaffung von Zivilrechtsnormen muss der Richter bei deren Auslegung und Anwendung im Einzelfall die Wertungen der Grundrechte beachten. Auch in Privatrechtsbeziehungen trifft den Staat daher eine grundrechtliche Schutzpflicht. Bei deren Erfüllung kommt dem Staat allerdings ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Eine Verletzung liegt in solchen Fällen daher nur dann vor, wenn der Staat grundlegend und evident hinter den Anforderungen der Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 1 GG i.v.m. Art. 1 Abs. 1 GG zurückgeblieben ist. a) Verstoß durch Gesetz Ein Verstoß gegen die Schutzpflicht könnte in einem mangelnden Tätigwerden des Gesetzgebers liegen. Der Gesetzgeber hat den Konflikt zwischen dem Persönlichkeitsrecht des Einzelnen und den Rechten Dritter jedoch gesehen und mit dem 22, 23 KUG entsprechende Regelungen geschaffen. Diese Vorschriften sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden; ihre relativ flexible Gestaltung bietet ausreichenden Raum für eine der Verfassung entsprechende Anwendung. Wie die Praxis zeigt, ist es möglich, bei der durch 23 KUG gebotenen Interessenabwägung der Ausstrahlungswirkung der einschlägigen Grundrechte hinreichend Rechnung zu tragen. Der Gesetzgeber hat seiner Schutzpflicht dementsprechend Genüge getan. b) Verstoß durch die Gesetzesanwendung der Gerichte Ein Verstoß gegen die Schutzpflicht könnte ferner den Gerichten vorzuwerfen sein, wenn diesen bei der Auslegung und Anwendung der zivilrechtlichen Normen und der gebotenen Abwägung der Rechte von B und S grundlegende Fehler unterlaufen sind. Dies ist dann der Fall, wenn die angegriffenen Gerichtsentscheidungen auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen, die Zivilgerichte also die Bedeutung der Grundrechte für die Entscheidung nicht erkannt oder grundsätzlich verkannt haben. Im Rahmen der Entscheidungen haben sich die Gerichte mit den Grundrechtspositionen von B und S befasst: Auf Seiten des B ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG i.v.m. Art. 1 Abs. 1 GG zu berücksichtigen. Im Fall des von S geplanten Fernsehspiels, einem Spielfilm mit dokumentarischen Elementen, drohen diesem Recht erhebliche Gefahren. Einerseits haben derartige Filme häufig erhebliche Einschaltquoten, was eine Wahrnehmung in der Heimat des B, in die er zurückkehren möchte, wahrscheinlich macht. Zudem verbinden derartige Filme eingängig dargebotene Information mit spannender Unterhaltung. Ohne Verfremdung oder Verhüllung wird ein tatsächliches Geschehen in seiner Entwicklung und in seinem Ablauf nachgespielt. Die daran beteiligten Personen werden möglichst wirklichkeitsgetreu gezeigt oder dargestellt. Bei gelungener Besetzung der Hauptfiguren ergibt sich aus einem solchen Spiel eine faszinative Wirkung beim Zuschauer,

74 Fall 20: Lebach (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 4 die beträchtlich mehr verstandesmäßiges wie auch gefühlsmäßiges und damit engagiertes Bewusstsein hervorruft, als dies die beste Dokumentation oder ein so genanntes Feature erreichen könnte. Der Zuschauer hat die totale Illusion, bei einem solchen historischen Vorgang dabei zu sein bzw. dabei gewesen zu sein. Er hat die Möglichkeit der Identifikation mit dem Part des Guten und fühlt sich daneben und gleichzeitig gut unterhalten. Ein solches intensives Nacherleben unter Betonung der emotionalen Komponente wird bei Darstellung einer schweren Straftat normalerweise beim Zuschauer stärkere und auch nachhaltigere Reaktionen gegen die dargestellten Straftäter hervorrufen als eine reine Wort-Bild-Berichterstattung. Hinzu kommt, dass das Dokumentarspiel auch bei noch so enger Anlehnung an die Wirklichkeit nicht ohne dichterisches Beiwerk auskommen kann, etwa soweit zur Darstellung der Entstehung einer Straftat oder zur Charakteristik der Täter Szenen aus ihrem persönlichen Leben gezeigt, Gespräche rekonstruiert werden oder psychologische Vorgänge zum Ausdruck gebracht werden sollen, ohne dass der Zuschauer insoweit zwischen Dichtung und Wahrheit unterscheiden kann. Noch wesentlicher ist es, dass die dramaturgisch notwendige Konzentration einschließlich der Zeit- und Ablaufsraffungen zu einer persönlichen Darstellung der Straftäter führt, die ganz auf die Straftat und deren Interpretation durch Drehbuchautor und Regisseur bezogen ist. Der Zuschauer, der wegen der durch die Sendung insgesamt vermittelten Illusion des Authentischen glaubt, den Straftäter in seiner wirklichen Persönlichkeit vollständig zu erfassen, erhält tatsächlich nur ein gewissermaßen auf die negative Dimension verkürztes Persönlichkeitsbild, in dem positive oder neutrale Charakterzüge und Verhaltensweisen, überhaupt eine feinere Nuancierung, fehlen. Zusammenfassend ergibt sich, dass eine Fernsehberichterstattung über eine Straftat unter Namensnennung, Abbildung oder Darstellung des Täters, besonders in der Form des Dokumentarspiels, regelmäßig einen schweren Eingriff in seine Persönlichkeitssphäre bedeuten wird. Auf der anderen Seite steht die Rundfunkfreiheit des Fernsehsenders S aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG. Diese Freiheit umfasst insbesondere auch das Recht zur Darstellung von Vorgängen der Zeitgeschichte, zu der auch Straftaten gehören. Weiter begründen die Verletzung der allgemeinen Rechtsordnung, die Beeinträchtigung von Rechtsgütern der betroffenen Bürger oder der Gemeinschaft, die Sympathie mit den Opfern und ihren Angehörigen, die Furcht vor Wiederholungen solcher Straftaten und das Bestreben, dem vorzubeugen, ein durchaus anzuerkennendes Interesse an näherer Information über Tat und Täter. Dieses wird umso stärker sein, je mehr die Straftat sich durch die Besonderheit des Angriffsobjekts, die Art der Begehung oder die Schwere der Folgen über die gewöhnliche Kriminalität heraushebt. Bei schweren Gewaltverbrechen nach Art der hier dargestellten Straftat gibt es daher neben allgemeiner Neugier und Sensationslust ernst zu nehmende Gründe für das Interesse an Information darüber, wer die Täter waren, welche Motive sie hatten, was geschehen ist, um sie zu ermitteln und zu bestrafen und um gleichartige Delikte zu verhüten. Dabei wird zunächst der Wunsch nach Kenntnis der reinen Tatsachen im Vordergrund stehen, während mit zunehmendem zeitlichem Abstand das Interesse an einer tiefer greifenden Interpretation der Tat, ihrer Hintergründe und gesellschaftsbedingten Voraussetzungen Bedeutung gewinnt. Nicht zuletzt fällt das legitime demokratische Bedürfnis nach Kontrolle der für die Sicherheit und Ordnung zuständigen Staatsorgane und Behörden, der Strafverfolgungsbehörden und der Strafgerichte maßgebend ins Gewicht. Schließlich bedarf es keiner näheren Darlegung, dass Fernsehsendungen gerade wegen ihrer Reichweite speziell geeignet sind, den dargelegten Informationsansprüchen zu genügen. Wägt man das umschriebene Informationsinteresse an einer entsprechenden Berichterstattung im Fernsehen generell gegen den damit zwangsläufig verbundenen Einbruch in den Persönlichkeitsbereich des Täters ab, so verdient für die aktuelle Berichterstattung über Straftaten das Informationsinteresse im Allgemeinen den Vorrang. Wer den Rechtsfrieden bricht, durch diese Tat und ihre Folgen Mitmenschen oder Rechtsgüter der Gemeinschaft angreift oder verletzt, muss sich nicht nur den hierfür in der Rechtsordnung verhängten strafrechtlichen Sanktionen beugen. Er muss grundsätzlich auch dulden, dass das von ihm selbst durch seine Tat erregte Informationsinteresse der Öffentlichkeit in einer nach dem Prinzip freier Kommunikation lebenden Gemeinschaft auf den dafür üblichen Wegen befriedigt wird. Im Übrigen wirkt die hiermit gewährleistete Kontrolle der Strafverfolgung und des strafgerichtlichen Verfahrens auch zu Gunsten des Täters. Die Ausstrahlungswirkung des verfassungsrechtlichen Schutzes der Persönlichkeit lässt es jedoch nicht zu, dass die Kommunikationsmedien sich über die aktuelle Berichterstattung hinaus zeitlich unbeschränkt mit der Person eines Straftäters und seiner Privatsphäre befassen. Vielmehr gewinnt nach Befriedigung des aktuellen Informationsinteresses grundsätzlich sein Recht darauf, allein gelassen zu werden, zunehmende Bedeutung und setzt dem Wunsch der Massenmedien und einem Bedürfnis des Publikums, seinen individuellen Lebensbereich zum Gegenstand der Erörte-

75 Fall 20: Lebach (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 5 rung oder gar der Unterhaltung zu machen, Grenzen. Auch der Täter, der durch eine schwere Straftat in das Blickfeld der Öffentlichkeit getreten ist und die allgemeine Missachtung erweckt hat, bleibt dennoch ein Glied dieser Gemeinschaft mit dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf Schutz seiner Individualität. Hat die das öffentliche Interesse veranlassende Tat mit der Strafverfolgung und strafgerichtlichen Verurteilung die im Interesse des öffentlichen Wohls gebotene gerechte Reaktion der Gemeinschaft erfahren und ist die Öffentlichkeit hierüber hinreichend informiert worden, so lassen sich darüber hinausgehende fortgesetzte oder wiederholte Eingriffe in den Persönlichkeitsbereich des Täters in der Regel nicht rechtfertigen; sie würden namentlich bei Fernsehsendungen mit entsprechender Reichweite über den Täter eine erneute soziale Sanktion verhängen. Als maßgebender Orientierungspunkt für die nähere Bestimmung der zeitlichen Grenze kommt das Interesse an der Wiedereingliederung des Straftäters in die Gesellschaft, an seiner Resozialisierung, in Betracht. Die Erkenntnis von der Bedeutung dieser Zielsetzung hat sich in den letzten Jahrzehnten im Strafrecht zunehmend durchgesetzt; nach allgemeiner Auffassung wird die Resozialisierung oder Sozialisation als das herausragende Ziel namentlich des Vollzuges von Freiheitsstrafen angesehen. Verfassungsrechtlich entspricht diese Forderung dem Selbstverständnis einer Gemeinschaft, die die Menschenwürde in den Mittelpunkt ihrer Wertordnung stellt und dem Sozialstaatsprinzip verpflichtet ist. Als Träger der aus der Menschenwürde folgenden und ihren Schutz gewährleistenden Grundrechte muss der verurteilte Straftäter die Chance erhalten, sich nach Verbüßung seiner Strafe wieder in die Gemeinschaft einzuordnen. Vom Täter aus gesehen erwächst dieses Interesse an der Resozialisierung aus seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG i.v.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Von der Gemeinschaft aus betrachtet verlangt das Sozialstaatsprinzip staatliche Vorund Fürsorge für Gruppen der Gesellschaft, die auf Grund persönlicher Schwäche oder Schuld, Unfähigkeit oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert sind; dazu gehören auch die Gefangenen und Entlassenen. Nicht zuletzt dient die Resozialisierung dem Schutz der Gemeinschaft selbst: diese hat ein unmittelbares eigenes Interesse daran, dass der Täter nicht wieder rückfällig wird und erneut seine Mitbürger oder die Gemeinschaft schädigt. Fraglich ist daher, ob die Gerichte bezogen auf den konkreten Fall diese Maßstäbe der Abwägung hinreichend beachtet haben. Die Gerichte haben der Rundfunkfreiheit des S den Vorrang eingeräumt, obwohl B unmittelbar vor der Entlassung steht und eine Ausstrahlung der Sendung die Resozialisierung des B stark gefährdet. Dem steht allerdings gegenüber, dass die von B begangene Straftat in der Öffentlichkeit erhebliche Wirkung erzeugt hat und insofern noch immer ein Interesse an einer Berichterstattung besteht. Dieses wird allerdings durch den Zeitablauf eingeschränkt; ein aktuelles Interesse kann jedenfalls nicht mehr geltend gemacht werden. B droht hingegen eine erneute Anprangerung in seiner Heimat, die ihm ein Leben dort sehr erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen würde. Insofern überwiegt im vorliegenden Fall das allgemeine Persönlichkeitsrecht des B. Dieses Überwiegen haben die Gerichte missachtet, sodass die von den Gerichten vorgenommene Abwägung an einem grundlegenden Fehler leidet. Die Gerichte haben insoweit die Bedeutung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts grundlegend verkannt; insofern liegt eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts, hier des Art. 2 Abs. 1 GG i.v.m. Art. 1 Abs. 1 GG, vor. II. Art. 2 Abs. 1 GG Art. 2 Abs. 1 GG tritt als subsidiär zurück. III. Art. 1 Abs. 1 GG Das Konkurrenzverhältnis des Art. 1 Abs. 1 GG zu Art. 2 Abs. 1 GG i.v.m. Art. 1 Abs. 1 GG ist unklar; jedenfalls geht der Schutz des Art. 1 Abs. 1 GG aber nicht darüber hinaus. Insofern kann eine Prüfung am Maßstab dieser Norm unterbleiben. Ergebnis: Die Gerichtsurteile verletzen B in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG i.v.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.

76 Fall 20: Lebach (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 6 Anmerkung: Zahlreiche Passagen der Lösung sind der Entscheidung BVerfGE 35, 202 ff. (Lebach) entnommen. Der diesem Sachverhalt zu Grunde liegende Fall ist bereits 1973 vom BVerfG entschieden worden und betraf damals das ZDF. Ebenso wie hier hatten die Zivilgerichte dem Beschwerdeführer den Schutz verweigert war das BVerfG erneut mit der Sache befasst. Diesmal wollte der Sender SAT 1 die Dokumentation ausstrahlen. Wiederum hatte ein Täter geklagt und hatte damit vor den Zivilgerichten Erfolg. Das BVerfG hingegen hob auf die Verfassungsbeschwerde von SAT 1 hin die Urteile auf: Eine Gefährdung der Resozialisierung sei insbesondere auf Grund des Zeitablaufs sei nicht mehr zu befürchten, sodass im Ergebnis die Rundfunkfreiheit den Vorrang genieße. Vgl. BVerfG, NJW 2000, 1859 ff.

77 Fall 21: Vorläufige Festnahme (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 1 Fall 21: Vorläufige Festnahme (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, S. 315) Die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG; 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG) hat Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist. A. Zulässigkeit I. Zuständigkeit des BVerfG Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG. (+) II. Beteiligtenfähigkeit Jedermann i.s.d. 90 Abs. 1 BVerfGG ist derjenige, der Träger der in Betracht kommenden Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte ist. Art. 2 Abs. 2 S. 2, 103, 104 GG sind sog. Jedermann-Grundrechte, deren Träger D ist. III. Beschwerdegegenstand 90 Abs. 1 BVerfGG: Akt der öffentlichen Gewalt. Ingewahrsamnahme, Beschluss des AG und die weiteren Beschlüsse im Rechtsmittelverfahren. IV. Beschwerdebefugnis 90 Abs. 1 BVerfGG: Behauptung einer Grundrechtsverletzung. 1. Geltendmachung einer Grundrechtsverletzung Verletzung der Art. 2 Abs. 2 S. 2; 103; 104 GG erscheint als möglich. (+). 2. Selbst, gegenwärtig, unmittelbar betroffen Weiterhin müsste D selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sein. Da die Beschlüsse ihm gegenüber ergangen sind, ist er jedenfalls selbst und unmittelbar betroffen. Fraglich ist aber, ob er auch gegenwärtig betroffen ist. Problem: Die Freiheitsentziehung hat sich dadurch erledigt, dass D aus dem Gewahrsam entlassen wurde. Ausnahmsweise gegenwärtig dann (+), wenn weiterhin beeinträchtigende Wirkungen bestehen (Rehabilitationsinteresse), Wiederholungsgefahr gegeben ist oder bei sich typischerweise schnell erledigenden Grundrechtseingriffen, bei denen ein Rechtsschutz in der Regel zu spät kommt. D möchte auch weiterhin an Demonstrationen teilnehmen; auch stellt eine Ingewahrsamnahme einen schwer wiegenden Grundrechtseingriff dar; gerade bei sich typischerweise schnell erledigenden Maßnahmen muss ein nachträglicher Rechtsschutz gewährleistet sein, um der Bedeutung der eingeschränkten Grundrechte zu entsprechen. Beschwerdebefugnis (+) V. Erschöpfung des Rechtswegs und Grundsatz der Subsidiarität Erschöpfung des Rechtswegs ( 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG) laut Sachverhalt. (+) Keine Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde. VI. Ordnungsgemäßer Antrag, Frist ( 23 Abs. 1, 92, 93 BVerfGG) (+)

78 Fall 21: Vorläufige Festnahme (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 2 Zwischenergebnis: Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. B. Begründetheit Die Verfassungsbeschwerde ist gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG begründet, wenn der Beschwerdeführer durch den angegriffenen Akt der öffentlichen Gewalt in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist. I. Art. 2 Abs. 2 S. 2, 104 GG 1. Schutzbereich Freiheit der Person = körperliche Bewegungsfreiheit. 2. Eingriff Freiheitsbeschränkung (Art. 104 Abs. 1 GG): alle Eingriffe in die körperliche Bewegungsfreiheit. Freiheitsentziehung (Art. 104 Abs. 2 GG): wenn die Bewegungsfreiheit auf einen eng umgrenzten Raum beschränkt wird, wobei die Bewegungsfreiheit in jede Richtung aufgehoben sein muss. Hier: Durch Ingewahrsamnahme des D wurde seine Bewegungsfreiheit aufgehoben; deshalb Freiheitsentziehung (+). 3. Rechtfertigung a) Schranken Nach Art. 2 Abs. 2 S. 3, 104 Abs. 1 GG kann in die Freiheit der Person nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes eingegriffen werden. b) Schranken-Schranken aa) Verfassungsmäßigkeit der 18 Abs. 1 Nr. 2a, 19 Abs. 1 NSOG (1) Formelle Verfassungsmäßigkeit Zuständigkeit des Landes Niedersachsen? 18 Abs. 1 Nr. 2a NSOG: Für Polizeiangelegenheiten sind grundsätzlich die Länder zuständig (vgl. Art. 70 GG). 19 Abs. 1 NSOG: Nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG hat der Bund zwar die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für das gerichtliche Verfahren; jedoch enthält 40 Abs. 1 S. 2 VwGO einen Vorbehalt zu Gunsten der Landesgesetzgebung für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten; daher Zuständigkeit für 19 Abs. 1 NSOG (+). Verfahren, Form (+) (2) Materielle Verfassungsmäßigkeit: Anforderungen des Art. 104 GG, Verhältnismäßigkeit, Zitiergebot Durch Ingewahrsamnahme (Freiheitsentziehung) erfolgt Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG. 18 NSOG ist jedoch so flexibel ausgestaltet, dass er eine verhältnismäßige Anwendung im Einzelfall ermöglicht; die Pflicht, unverzüglich eine richterliche Entscheidung herbeizuführen, genügt den verfahrensmäßigen Anforderungen des Art. 104 Abs. 2 GG (Abs. 3 ist nicht einschlägig, da die Ingewahrsamnahme nach Polizeirecht vorbeugend (präventiv) und nicht zur Strafverfolgung (repressiv) erfolgt). Durch 10 NSOG ( Einschränkung von Grundrechten ) ist dem Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG genüge getan.

79 Fall 21: Vorläufige Festnahme (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 3 II. Art. 11 GG bb) Verfassungsmäßige Anwendung im Einzelfall: Verfahren, Verhältnismäßigkeit Ein bevorstehender Landfriedensbruch i.s.d. 125 StGB würde an sich als Grund für eine Ingewahrsamnahme ausreichen, sodass das Festhalten des D für sechs Stunden und 20 Minuten als verhältnismäßiger Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG zu sehen wäre. Jedoch stellt Art. 104 Abs. 2 GG bestimmte Verfahrensanforderungen auf: Der Richter hat ü- ber eine Freiheitsentziehung selbst zu entscheiden und die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass der Gewahrsam unerlässlich ist, um den Betroffenen an der unmittelbar bevorstehenden Begehung einer rechtswidrigen Tat zu hindern. Die Schwere des Grundrechtseingriffs gebietet insbesondere eine eingehende Prüfung der Erforderlichkeit der freiheitsentziehenden Maßnahme (Aufklärungspflicht). Vorliegend hat der Richter keine eigenen Tatsachenermittlungen angestellt und den D nicht persönlich gehört, um sich einen Gesamteindruck zu verschaffen, sondern sich lediglich auf die Aussagen der Polizei verlassen. D wird durch den Beschluss des Amtsgerichts und die diesen bestätigenden Beschlüsse in seinem Grundrecht auf Freiheit der Person, Art. 2 Abs. 2 S. 2, 104 GG, verletzt. Es ist zweifelhaft, ob der Schutzbereich des Art. 11 GG eröffnet ist. Zwar wird durch die Ingewahrsamnahme die Freiheit des D beeinträchtigt, sich zu einem bestimmten Ort hinzubewegen. Allerdings setzt die Aufenthaltsnahme i.s.d. Art. 11 GG eine gewisse Bedeutung voraus, die durch die Dauer und die Persönlichkeitsrelevanz des Ortswechsels indiziert wird. D wollte an einer Demonstration in Hannover teilnehmen und sich zu diesem Zwecke nur vorübergehend in Hannover aufhalten. Auch kann er sich nach relativ kurzer Zeit (nach Ende der Demonstration) wieder beliebig in der Stadt aufhalten. Dementsprechend fehlt es an dem notwendigen Gewicht, um einen Aufenthalt im Sinne des Art. 11 GG zu begründen (a.a. bei entsprechender Argumentation vertretbar). Vorliegend geht es deshalb allein um die körperliche Fortbewegungsfreiheit des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG. Art. 11 GG ist bereits seinem Schutzbereich nach nicht einschlägig. III. Art. 103 Abs. 1 GG 1. Schutzbereich Anspruch auf rechtliches Gehör: Recht zur Äußerung über Tatsachen, Beweisergebnisse und die Rechtslage; Verpflichtung des Gerichts, den Vortrag der Betroffenen zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen. 2. Verletzung eines Leistungsrechts Bei Art. 103 Abs. 1 GG handelt es sich um ein Leistungsrecht, da die Gewährung rechtlichen Gehörs stets ein Tätigwerden des Staates voraussetzt. Obwohl Leistungsrechte dem Staat in der Regel einen beträchtlichen Spielraum belassen, wie er seine Verpflichtungen erfüllt, macht Art. 103 Abs. 1 GG relativ konkrete Vorgaben. D wurde nur von der Polizei angehört, nicht jedoch von dem für ihn zuständigen Richter; dies kann ausnahmsweise zulässig sein, wenn der Betroffene deutlich macht, dass seine Erklärungen gegenüber der Polizei für das Gericht bestimmt sind; dem D war es jedoch nicht bewusst, dass er auf die ihn betreffende richterliche Entscheidung gestaltend einwirken konnte. Auch in Eilfällen ist keine Ausnahme zu machen; der Betroffene muss zumindest wissen, dass seine Ausführungen vor der Polizei für das Gericht bestimmt sind. D wird in seinem Recht auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. IV. Art. 2 Abs. 1 GG Das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) tritt aus Gründen der Subsidiarität hinter die spezielleren Grundrechte zurück. Ergebnis: Die Verfassungsbeschwerde des D ist zulässig und begründet.

80 Fall 22: Kündigungsschutz (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 1 Fall 22: Kündigungsschutz (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, S. 335 f.) Frage 1: Verfassungsmäßigkeit des 622 Abs. 2 BGB In Betracht kommt ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. A. Rechtlich relevante Ungleichbehandlung I. Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem? 1. Wesentlich Gleiches Vergleichsgruppen: Arbeiter / Angestellte. Suche nach dem gemeinsamen Oberbegriff. Hier: Arbeitnehmer. Wesentliche Gleichheit von Arbeitern / Angestellten. (+) 2. Ungleichbehandlung Kündigungsfrist für Arbeiter beträgt gem. 622 Abs. 2 BGB zwei Wochen, für Angestellte hingegen gem. 622 Abs. 1 BGB sechs Wochen. (+) II. Rechtliche Relevanz der Ungleichbehandlung? Ungleichbehandlung geht vom gleichen Hoheitsträger aus. (+) B. Rechtfertigung der Ungleichbehandlung Unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen. I. Wahl des Prüfungsmaßstabs (Willkürformel / Neue Formel) Sachbezogene oder personenbezogene Ungleichbehandlung? Hier: Regelung des 622 BGB knüpft an den Status des Beschäftigten an; dieser ist ein persönliches Merkmal, das der Einzelne kaum ändern kann. Daher: Personenbezogene Ungleichbehandlung. Prüfungsmaßstab in diesem Fall: Neue Formel. Rechtfertigung durch Gründe von solcher Art und solchem Gewicht, dass sie die ungleichen Rechtsfolgen rechtfertigen können, m.a.w: Verhältnismäßigkeitsprüfung. II. Legitimer Zweck Berücksichtigung vorhandener Unterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten durch einen verstärkten Schutz der Angestellten (interner Zweck). (+) III. Eignung Sachlicher Zusammenhang zwischen Differenzierungsziel und Differenzierungskriterium. (+) IV. Erforderlichkeit Keine zielgenauere Unterscheidungsmöglichkeit ersichtlich. (+)

81 Fall 22: Kündigungsschutz (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 2 V. Angemessenheit 1. Art und Gewicht der Unterschiede (interner Zweck) Bestehen tatsächlich hinreichende Unterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten, die die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können? Unterscheidung nach Art der Tätigkeit (geistig/körperlich) ist auch heute noch möglich. Aber: Jedenfalls Facharbeiter verrichten anspruchsvolle Arbeit, bei der geistige Fähigkeiten im Vordergrund stehen. Zudem kann allein die unterschiedliche Art der Tätigkeit unterschiedliche Kündigungsfristen nicht rechtfertigen. Erhöhte Schutzbedürftigkeit der Angestellten auf Grund größerer Spezialisierung und umfassender Qualifikation? Wohl nein, da sich auch Arbeiter heute i.d.r. stark spezialisieren und bilden. Schutz des Arbeitgebers, damit mehr Zeit für Nachfolgesuche bleibt. Problem stellt sich bei Arbeitern heute ebenfalls. Späterer Berufseintritt? Trifft wohl immer noch zu, aber reicht als Rechtfertigung nicht aus. Späterer Berufseintritt begründet keine so außergewöhnliche Schutzbedürftigkeit. Zweck des Kündigungsschutzes ist es zudem nicht, das Erwerbsleben zu verlängern und so einen Ausgleich für den späteren Berufseintritt zu schaffen. Daher: Art und Gewicht der Unterschiede gering. 2. Intensität der Ungleichbehandlung Negative Auswirkungen auf den Gebrauch von Freiheitsrechten? Auswirkungen der kürzeren Kündigungsfrist auf das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) in seiner objektiv-rechtlichen Funktion spricht für intensive Ungleichbehandlung. Arbeiter können zudem ihre Position kaum verändern und der Ungleichbehandlung folglich i.d.r. nicht ausweichen. Daher: Eher intensive Ungleichbehandlung. 3. Abwägung Eine hinreichend sichere Unterscheidung von Arbeitern und Angestellten ist nicht (mehr) möglich. Vor allem im Hinblick auf die relativ hohe Intensität der Ungleichbehandlung ist die Regelung des 622 Abs. 2 BGB unangemessen und mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG nicht vereinbar. Exkurs: Rechtsfolgen des Verstoßes Grds. Nichtigerklärung der verfassungswidrigen Norm. Hier aber bestehen verschiedene Möglichkeiten zur Beseitigung der Ungleichbehandlung (einheitlich zwei, einheitlich sechs, einheitlich x Wochen Kündigungsfrist). Zudem würde Nichtigerklärung die Ungleichbehandlung eher vertiefen, weil dann für Arbeiter überhaupt kein Kündigungsschutz mehr gelten würde. Wahlrecht des Gesetzgebers, welchen Weg er wählt. BVerfG greift in dieses Wahlrecht nicht ein. Daher: Feststellung des BVerfG, dass 622 Abs. 2 BGB mit dem Grundgesetz unvereinbar ist. (In der zu Grunde liegenden Entscheidung hat das BVerfG eine Frist von drei Jahren zur Beseitigung der Ungleichbehandlung gesetzt; lasse der Gesetzgeber diese Frist ungenutzt verstreichen, sollten die Arbeitsgerichte selbst entscheiden, wie sie jeweils den Gleichheitsverstoß beheben.) Frage 2: Möglichkeiten des Arbeitsgerichts Vorlage an das BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG (konkrete Normenkontrolle).

82 Fall 23: Nachtarbeitsverbot (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 1 Fall 23: Nachtarbeitsverbot (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, S. 358 f.) Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG begründet, wenn die Beschwerdeführerin durch die angegriffenen Akte der öffentlichen Gewalt in einem ihrer Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt ist. I. Formelle Verfassungsmäßigkeit Fraglich ist zunächst, ob 19 Abs. 1 AZO formell verfassungsgemäß ist. Hier ist zu beachten, dass 19 Abs. 1 AZO zwar vom nachkonstitutionellen Gesetzgeber implizit bestätigt worden ist, aber bereits 1938 auf Grundlage anderer verfassungsrechtlicher Bestimmungen erlassen wurde. Gemäß Art. 125 Nr. 1 i.v.m. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gilt die AZO als Bundesrecht fort, ohne dass es einer Prüfung bedürfte, ob ein Erfordernis nach Art. 72 Abs. 2 GG vorliegt (vgl. BVerfGE 1, 283 [294 f.]; E 23, 113 [122] zu Art. 72 Abs. 2 GG a.f.). Hinweis: Art. 125 Nr. 2 GG ist - anders als der Wortlaut vielleicht nahe legt - nicht einschlägig. Hier ist an diejenigen Fälle gedacht, in denen in der Zeit nach dem , aber vor dem die Landesgesetzgeber (ein handlungsfähiges Reich gab es damals nicht) Recht aus der Zeit vor 1945 abgeändert haben (vgl. BVerfGE 7, 18 [26 ff.], E 7, 330 [337]). Dies ergibt sich aus dem Zusammenhang mit Art. 123 GG, der auf den Stichtag des abstellt (erster Zusammentritt des Bundestages). Fraglich ist, ob vorkonstitutionelles Recht, das als Bundesrecht fort gilt, überhaupt an den formellen Voraussetzungen des Grundgesetzes - Zuständigkeit (Art. 70 ff.), Verfahren (Art. 76 ff.) und Form (Art. 82) - gemessen werden kann. Der vorkonstitutionelle Gesetzgeber konnte sich nicht an die formellen Vorschriften des noch nicht existierenden Grundgesetzes halten; Rechtsnormen aus diesem Grunde für nichtig zu erklären widerspräche dem Ziel der rechtlichen Kontinuität, das Art. 123 Abs. 1 GG festlegt, weswegen auch unstrittig ist, dass Art. 123 Abs. 1 GG nur solches vorkonstitutionelle Recht für nichtig erklärt, das inhaltlich dem Grundgesetz widerspricht. Für die formelle Verfassungsmäßigkeit kann es daher nur auf das zur Zeit der Entstehung der AZO geltende Verfassungsrecht ankommen. Dass 19 Abs. 1 AZO unter Missachtung der seinerzeit geltenden Bestimmungen über Zuständigkeit, Verfahren und Form erlassen worden wäre, ist dem Sachverhalt nicht zu entnehmen. 19 Abs. 1 AZO ist damit formell verfassungskonform. II. Materielle Verfassungsmäßigkeit Die Bestimmung des 19 Abs. 1 AZO wäre dann materiell verfassungswidrig, wenn sie inhaltliche Bestimmungen des Grundgesetzes, namentlich Grundrechte verletzte. In Betracht kommen hier mögliche Verstöße gegen das Gebot der Gleichberechtigung von Mann und Frau (Art. 3 Abs. 2, Abs. 3 S. 1 GG) bzw. den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Hinweis: Einen evtl. Verstoß gegen Art. 12 Abs. 1 GG hat das BVerfG in diesem Fall nicht geprüft, da der Schwerpunkt eindeutig auf der unterschiedlichen Behandlung von Arbeiterinnen und Arbeitern bzw. Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten liegt (vgl. auch Sachverhaltsgestaltung). Der Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG beträfe nur die Berufsausübung und wäre damit nach Maßgabe der Drei-Stufen-Theorie aus vernünftigen Gründen des Gemeinwohls unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit zulässig; dem genügt ein Nachtarbeitsverbot zum Schutz vor gesundheitsschädigender Nachtarbeit ganz offensichtlich. Eine kurze Prüfung wäre vertretbar und müsste dann entsprechend dem Grundsatz Freiheitsrechte vor Gleichheitsrechte zunächst geprüft werden. 1. Verstoß gegen den Gleichberechtigungsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 2, Abs. 3 S. 1 GG? Zunächst ist fraglich, ob das Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen gegen das Gebot der Gleichberechtigung von Männern und Frauen aus Art. 3 Abs. 2 bzw. Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG verstößt, wenn die Vorschrift des 19 Abs. 1 AZO zwar (weiblichen) Arbeiterinnen, nicht aber (männlichen) Arbeitern die Arbeit zwischen 20 Uhr und 6 Uhr untersagt. Vergleichspaar sind insoweit die Arbeiterinnen und ihre männlichen Kollegen.

83 Fall 23: Nachtarbeitsverbot (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 2 a) Prüfungsmaßstab: Art. 3 Abs. 2 oder Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG? Gemäß Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG darf das Geschlecht - ebenso wie die anderen dort genannten Merkmale - grundsätzlich nicht als Anknüpfungspunkt für eine rechtliche Ungleichbehandlung herangezogen werden. (...) Soweit es um die Frage geht, ob eine Regelung Frauen wegen ihres Geschlechts zu Unrecht benachteiligt, enthält Art. 3 Abs. 2 GG keine weitergehenden oder spezielleren Anforderungen. Der über das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG hinausreichende Regelungsgehalt von Art. 3 Abs. 2 GG besteht darin, dass er ein Gleichberechtigungsgebot aufstellt und dieses auch auf die gesellschaftliche Wirklichkeit erstreckt. Der Satz Männer und Frauen sind gleichberechtigt will nicht nur Rechtsnormen beseitigen, die Vor- oder Nachteile an Geschlechtsmerkmale anknüpfen, sondern für die Zukunft die Gleichberechtigung der Geschlechter durchsetzen (BVerfGE 85, 191 [206 f.]). Dies wird durch den neu angefügten S. 2 des zweiten Absatzes von Art. 3 GG noch deutlicher gemacht. Da es sich bei 19 Abs. 1 AZO um eine rechtliche Regelung handelt, deren Zulässigkeit zu überprüfen ist, ist Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG Prüfungsmaßstab. b) Rechtlich relevante Ungleichbehandlung aa) Bevorzugung oder Benachteiligung (Ungleichbehandlung)? Arbeiterinnen und Arbeiter müssten durch 19 Abs. 1 AZO zunächst ungleich behandelt werden. Da das Nachtarbeitsverbot lediglich für Arbeiterinnen, nicht aber für Arbeiter gilt, ist dies der Fall. Unerheblich ist dabei, ob sich diese Regelung für die Arbeiterinnen als Schutzvorschrift positiv oder negativ auswirkt: Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG untersagt sowohl die an das Geschlecht anknüpfende Benachteiligung als auch eine hieran anknüpfende Bevorzugung. Eine Ungleichbehandlung gemäß Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG liegt somit vor. bb) Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts? Die Ungleichbehandlung müsste gemäß Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG wegen des Geschlechts erfolgen, d.h. das vorgenannte Merkmal darf in keiner Weise als Anknüpfungspunkt für eine rechtliche Ungleichbehandlung herangezogen werden. Da 19 Abs. 1 AZO explizit nur für (weibliche) Arbeiterinnen gilt, liegt eine Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts vor. c) Rechtfertigung der Ungleichbehandlung Nicht jede Anknüpfung an das Geschlecht ist unzulässig. Differenzierende Regelungen können vielmehr zulässig sein, soweit sie zur Lösung von Problemen, die ihrer Natur nach nur entweder bei Männern oder bei Frauen auftreten können, zwingend erforderlich sind (BVerfGE 85, 191 [207]); ferner kann in gewissem Rahmen der Gleichstellungsauftrag in Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG Differenzierungen nach dem Geschlecht dort rechtfertigen, wo es um die Beseitigung bestehender Nachteile geht (vgl. zu Art. 3 Abs. 2 GG a.f. BVerfGE 74, 163 [180]). aa) Zwingende Gründe aus der Natur von Männern und Frauen? Die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen könnte zunächst aus Gründen, die in der Natur von Männern bzw. Frauen liegen, zwingend geboten sein. Für die ursprünglich dem Nachtarbeitsverbot zugrunde liegende Annahme, dass Arbeiterinnen wegen ihrer Konstitution stärker unter Nachtarbeit litten als männliche Arbeitnehmer, haben sich in der arbeitsmedizinischen Forschung keine gesicherten Anhaltspunkte ergeben. Nachtarbeit ist grundsätzlich für jeden Menschen schädlich. (...) Spezifische gesundheitliche Risiken, die auf die weibliche Konstitution zurückgehen, sind nicht mit hinreichender Sicherheit erkennbar (BVerfGE 85, 191 [207 f.]; Hervorhebung nicht im Original). Fraglich ist, ob sich mit der - im Ausgangsfall vom Betriebsrat geführten - Argumentation, Frauen seien üblicherweise durch familiäre Verpflichtungen als Hausfrau und Mutter zusätzlich belastet, weswegen sie zur Nachtzeit besonderen Schutzes bedürften, das auf Arbeiterinnen beschränkte Nachtarbeitsverbot begründen lässt. Das für alle Arbeiterinnen geltende Nachtarbeitsverbot kann darauf aber nicht gestützt werden; denn die zusätzliche Belastung mit Hausarbeit und Kinderbetreuung ist kein hinreichend geschlechtsspezifisches Merkmal. Es entspricht zwar dem tradierten Rollenverständnis von Mann und Frau, dass die Frau den Haushalt führt und die Kinder betreut, und es lässt sich auch nicht leugnen, dass diese Rolle ihr sehr häufig auch dann zufällt, wenn sie ebenso wie ihr männlicher Partner berufstätig ist. (...) Ein solcher sozialer Befund reicht (...) zur Rechtfertigung einer geschlechtsbezogenen Ungleichbehandlung nicht aus (BVerfGE 85, 191 [208 f.]). Insbesondere würden auf diese Weise bestehende Rollenverteilungen zwischen den

84 Fall 23: Nachtarbeitsverbot (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 3 Geschlechtern durch rechtliche Regelungen gleichsam verhärtet, was nach Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG gerade verhindert werden soll. Der Hinweis auf die größere Gefährdung von Frauen auf dem nächtlichen Weg zur Arbeit mag sachlich berechtigt sein. Aber auch dies rechtfertigt es nicht, allen Arbeiterinnen die Nachtarbeit zu verbieten. Der Staat darf sich seiner Aufgabe, Frauen vor tätlichen Angriffen auf öffentlichen Straßen zu schützen, nicht dadurch entziehen, dass er sie durch eine Einschränkung ihrer Berufsfreiheit davon abhält, nachts das Haus zu verlassen (...). Außerdem trifft auch dieser Grund nicht so allgemein für die Gruppe der Arbeiterinnen zu, dass er es rechtfertigen könnte, alle Arbeiterinnen zu benachteiligen (BVerfGE 85, 191 [209]). Auch hierin liegt demnach keine Ungleichbehandlung, die aus geschlechtsspezifischen Gründen zwingend geboten wäre. bb) Rechtfertigung durch kollidierendes Verfassungsrecht? Möglicherweise könnte die Regelung des 19 Abs. 1 AZO der Beseitigung bestehender Nachteile für Frauen und daher der Zielvorgabe des Art. 3 Abs. 1 S. 2 GG dienen. Eine häufigere Heranziehung von Frauen zur Nachtarbeit, der 19 Abs. 1 AZO entgegensteuern sollte, ist nicht ersichtlich. Ferner ist zu bedenken: Das Nachtarbeitsverbot schützt zwar zahlreiche Frauen, die neben Kinderbetreuung und Hausarbeit beruflich tätig sind, vor gesundheitsgefährdender Nachtarbeit. Dieser Schutz ist aber mit erheblichen Nachteilen verbunden: Frauen werden dadurch bei der Stellensuche benachteiligt. Arbeit, die mindestens zeitweise auch nachts geleistet werden muss, können sie nicht annehmen. (...) Darüber hinaus werden Arbeiterinnen daran gehindert, über ihre Arbeitszeit frei zu disponieren. Nachtarbeitszuschläge können sie nicht verdienen. All das kann auch zur Folge haben, dass Frauen weiterhin in größerem Umfang als Männer neben einer Berufsarbeit noch mit Kinderbetreuung und Hausarbeit belastet werden und dass sich damit die überkommene Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern verfestigt. Insofern erschwert das Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen einen Abbau von gesellschaftlichen Nachteilen der Frau (BVerfG E 85, 191 [209 f.]). d) Ergebnis Ein auf Arbeiterinnen beschränktes Nachtarbeitsverbot, wie es 19 Abs. 1 AZO bestimmt, verstößt im Verhältnis zu deren männlichen Kollegen gegen Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG. 2. Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, Art. 3 Abs. 1 GG? Das auf Arbeiterinnen beschränkte Nachtarbeitsverbot könnte zudem gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen, da die Regelung nicht für alle Arbeitnehmerinnen, sondern nur für Arbeiterinnen gilt. Vergleichspaar sind hier demnach Arbeiterinnen und weibliche Angestellte. Hinweis: Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG könnte zwar gegenüber dem bereits festgestellten Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 GG grundsätzlich subsidiär sein und die Prüfung des Art. 3 Abs. 1 GG dahinstehen. Da hier jedoch ein anderes Vergleichspaar zur Untersuchung ansteht, greift die Subsidiarität insoweit nicht durch. Der allgemeine Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG untersagt es dem Staat und seinen Organen, wesensmäßig Gleiches ungleich oder wesensmäßig Ungleiches gleich zu behandeln, sofern für eine derartige Differenzierung eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung nicht vorliegt. a) Rechtlich relevante Ungleichbehandlung aa) Ungleichbehandlung Zunächst müsste eine Ungleichbehandlung der Vergleichsgruppen vorliegen. Da nach 19 Abs. 1 AZO lediglich die Beschäftigung von Arbeiterinnen, nicht aber von weiblichen Angestellten zur Nachtzeit verboten ist, ist eine Ungleichbehandlung von Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten gegeben. bb) Wesensmäßige Gleichheit Bei Arbeiterinnen und Angestellten müsste es sich um wesensmäßig vergleichbare Personengruppen handeln. Die wesensmäßige Gleichheit lässt sich nur mit Blick auf das Regelungsgebiet feststellen. Zwar wird im Arbeitsrecht herkömmlich rechtlich nach Arbeitern und Angestellten differenziert, so dass man annehmen könnte, die beiden Arbeitnehmergruppen seien bereits von vornherein nicht miteinander vergleichbar. Allerdings haben sich im Zuge der fortschreitenden Ratio-

85 Fall 23: Nachtarbeitsverbot (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 4 nalisierung und Automatisierung der Produktion die Tätigkeiten von Arbeitern und Angestellten einander weitgehend angeglichen, so dass Ungleichbehandlungen dieser Personengruppen durch den Staat der Rechtfertigung bedürfen. Eine Ungleichbehandlung wesensmäßig gleicher Personengruppen liegt hier demnach vor. b) Rechtfertigung der Ungleichbehandlung Diese Ungleichbehandlung könnte allerdings verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Als Prüfungsmaßstab ist entweder die Willkürformel oder die neue Formel heranzuziehen. Bei einer sachbezogenen Ungleichbehandlung ohne Beeinträchtigung anderer Verfassungsnormen ist eine Willkürprüfung durchzuführen. Liegt hingegen - wie hier - eine personenbezogene Differenzierung mit negativen Auswirkungen auf andere Verfassungsbestimmungen vor, so findet die neue Formel Anwendung. Nach der neuen Formel ist zu fragen, ob für die vorgesehene Differenzierung Gründe von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleichen Rechtsfolgen rechtfertigen können (vgl. z.b. BVerfGE 82, 126 [146]; 88, 87 [96]). Als Gründe kommen insbesondere die grundsätzlichen Unterschiede zwischen den betroffenen Personengruppen in Betracht. Gerechtfertigt sein könnte die Ungleichbehandlung der beiden Gruppen von Arbeitnehmerinnen nur, wenn weibliche Angestellte durch Nachtarbeit weniger belastet würden als Arbeiterinnen. Dafür gibt es aber keinen Beleg. Die einschlägigen arbeitsmedizinischen Untersuchungen deuten vielmehr darauf hin, dass die gesundheitsschädlichen Folgen der Nachtarbeit beide Gruppen in gleicher Weise treffen (...). Ob das mit einer Angleichung der Arbeitsinhalte von Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten im Zuge der technischen Entwicklung zusammenhängt oder ob die Arbeitsinhalte von vornherein keinen Einfluss auf die schädlichen Folgen von Nachtarbeit hatten, kann auf sich beruhen. Jedenfalls ist ein unterschiedliches Schutzbedürfnis von Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten, das allein eine differenzierende Regelung der Nachtarbeit vor dem allgemeinen Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG rechtfertigen könnte, nicht zu erkennen (BVerfGE 85, 191 [210 f.]). Die Ungleichbehandlung von Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten könnte schließlich noch gerechtfertigt sein, wenn beide Gruppen von Arbeitnehmerinnen unterschiedlich stark zu Nachtarbeit herangezogen würden und Arbeiterinnen daher eines verstärkten Schutzes bedürften. Es kann jedoch keine Rede davon sein, dass die Gruppe der weiblichen Angestellten typischerweise von Nachtarbeit verschont würde. Jedenfalls handelt es sich bei den weiblichen Angestellten nicht um eine Gruppe, die in so geringem Umfang von Nachtarbeit betroffen wäre, dass sie vom Gesetzgeber im Rahmen zulässiger Typisierung vernachlässigt werden konnte (BVerfGE 85, 191 [211]). Die Bestimmung des 19 Abs. 1 AZO behandelt demnach die wesensmäßig vergleichbaren Gruppen der Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten ohne sachlichen Grund ungleich, so dass der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG insoweit verletzt ist. Ergebnis: 19 Abs. 1 AZO verstößt gegen Art. 3 Abs. 3 S. 1 sowie gegen Art. 3 Abs. 1 GG und ist daher verfassungswidrig. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist somit auch begründet. Das Bundesverfassungsgericht wird 19 Abs. 1 AZO gemäß 78 S. 1 i.v.m. 82 Abs. 1 BVerfGG für nichtig erklären.

86 Fall 24: Missliebige Zwangsmitgliedschaft (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 1 Fall 24: Missliebige Zwangsmitgliedschaft (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, S. 375) A. Verfassungsmäßigkeit der Zwangsmitgliedschaft Die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG; 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG) der V hat Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist. I. Zulässigkeit 1. Zuständigkeit des BVerfG Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG. (+) 2. Beteiligtenfähigkeit Jedermann i.s.d. 90 Abs. 1 BVerfGG ist derjenige, der Träger der jeweiligen Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte ist. Im vorliegenden Fall kommen Art. 9 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 GG in Betracht. V ist als Deutsche Trägerin aller genannten Grundrechte und damit uneingeschränkt beteiligtenfähig. 3. Beschwerdegegenstand Akt der öffentlichen Gewalt ( 90 Abs. 1 BVerfGG): Hierunter fallen auch Gesetze wie das IHK-G. Die Zwangsmitgliedschaft beruht auf 2 Abs. 1 IHK-G; zulässiger Beschwerdegegenstand (+). 4. Beschwerdebefugnis Nach 90 Abs. 1 BVerfGG bedarf es der Behauptung einer Grundrechtsverletzung. a) Möglichkeit der Grundrechtsverletzung Aus dem Vorbringen der V müsste sich die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung ergeben. Die V ist als Gewerbetreibende Pflichtmitglied in der IHK B. Deshalb ist es nicht offensichtlich und eindeutig ausgeschlossen, dass die V in ihrem Recht auf negative Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 GG) sowie in ihren Rechten aus Art. 12 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 GG verletzt ist. b) Selbst, gegenwärtig, unmittelbar betroffen? V ist auch selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen, da nach 2 Abs. 1 IHK-G die Mitgliedschaft automatisch eintritt, ohne dass es weiterer Vollzugsakte bedarf. 5. Erschöpfung des Rechtsweges und Grundsatz der Subsidiarität Gem. 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG kann die Verfassungsbeschwerde erst nach Erschöpfung des Rechtsweges erhoben werden. Von 47 Abs. 1 VwGO abgesehen, gibt es keinen Rechtsweg gegen Gesetze. Grundsatz der Subsidiarität: Die Verfassungsbeschwerde ist nur dann zulässig, wenn die Grundrechtsverletzung nicht auf andere Weise beseitigt werden kann. In sinngemäßer Anwendung des 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG ist zunächst fachgerichtlicher Rechtsschutz herbeizuführen. Dies gilt nicht nur bei Verordnungen, sondern auch bei Gesetzen. V muss zunächst gegen den Beitragsbescheid Widerspruch einlegen. Bleibt dieser erfolglos, kann sie beim Verwaltungsgericht Klage erheben, bei der dann inzidenter die Verfassungsmäßigkeit des 2 Abs. 1 IHK-G als Grundlage für die Beitragspflicht überprüft wird. Dieses Verfahren ist der V auch zumutbar (vgl. 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG). Somit besteht ein indirekter Rechtsschutz, den die V vor Anrufung des BVerfG wahrnehmen muss. Der Grundsatz der Subsidiarität steht damit der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde entgegen.

87 Fall 24: Missliebige Zwangsmitgliedschaft (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 2 Ergebnis: Die Verfassungsbeschwerde der V ist unzulässig. II. Hilfsgutachten: Begründetheit Die Verfassungsbeschwerde der V ist begründet, wenn sie durch 2 Abs. 1 IHK-G in ihren Grundrechten verletzt wird. 1. Art. 9 Abs. 1 GG Schutzbereich: Art. 9 Abs. 1 GG umfasst die Freiheit, sich mit anderen zu jedem beliebigen Zweck zusammenzuschließen; im Einzelnen sind die Gründungs- und Beitrittsfreiheit sowie die Freiheit der vereinsmäßigen Betätigung geschützt (positive Vereinigungsfreiheit). Darüber hinaus gewährleistet Art. 9 Abs. 1 GG nach der Rechtsprechung des BVerfG das Recht, aus einer Vereinigung auszutreten oder einer Vereinigung fernzubleiben (negative Vereinigungsfreiheit). Ob die negative Vereinigungsfreiheit auch vor der Zwangsmitgliedschaft in Vereinigungen des öffentlichen Rechts schützt, ist durch Auslegung zu ermitteln. Dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 1 GG sind keine Anhaltspunkte zu entnehmen. Hier fehlt überhaupt jeder Hinweis auf die negative Vereinigungsfreiheit. Sinn und Zweck der negativen Vereinigungsfreiheit könnten für einen Schutz vor öffentlichrechtlichen Zwangsvereinigungen sprechen. Schließlich macht es für den Einzelnen keinen Unterschied, welcher Rechtsform die Vereinigung angehört, in die er gezwungen werden soll. Andererseits wird die negative Vereinigungsfreiheit vielfach bloß als Spiegelbild der positiven Vereinigungsfreiheit angesehen; da Art. 9 Abs. 1 GG dem Einzelnen nicht das Recht gewährt, eine öffentlich-rechtliche Vereinigung zu bilden, kann die negative Seite auch keinen Schutz vor einer solchen Vereinigung bieten. Hiergegen spricht wiederum, dass derjenige, der einer öffentlich-rechtlichen Vereinigung fernbleibt, nicht im gleichen Maße öffentlich-rechtliche Handlungsformen beansprucht wie derjenige, der eine öffentlich-rechtliche Vereinigung bilden möchte (solches ist nur durch Hoheitsakt möglich). Historisch hat die negative Vereinigungsfreiheit gerade gegen hoheitliche Zwangszusammenschlüsse - wie beispielsweise Zünfte - gedient. Für die Beschränkung der negativen Seite des Art. 9 Abs. 1 GG auf privatrechtliche Zusammenschlüsse lassen sich systematische Erwägungen anführen. Art. 9 GG sieht keine Schranken vor, um das in Deutschland seit langem - vor Inkrafttreten des Grundgesetzes - bestehende ausdifferenzierte Kammersystem zu rechtfertigen. Die Regelung des Abs. 2 zielt deutlich auf privatrechtliche Vereinigungen. Im Ergebnis lässt sich mit der Rechtsprechung des BVerfG vertreten, dass die negative Vereinigungsfreiheit des Art. 9 Abs. 1 GG nicht auf öffentlich-rechtliche Zwangsverbände auszudehnen ist (a.a. vertretbar). 2. Art. 12 Abs. 1 GG a) Schutzbereich Beruf: Auf Dauer angelegte, der Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage dienende Tätigkeit; Versicherungsmaklerin (+) b) Eingriff Ein Eingriff in die Berufsfreiheit ist nur dann gegeben, wenn ein enger Zusammenhang mit der Ausübung eines Berufes besteht und eine objektiv berufsregelnde Tendenz erkennbar ist. Die Pflichtmitgliedschaft in der IHK knüpft lediglich an einen Beruf an; hierdurch wird aber nicht lenkend die Berufswahl oder die Berufsausübung beeinflusst. Eingriff (-)

88 Fall 24: Missliebige Zwangsmitgliedschaft (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 3 3. Art. 5 Abs. 1 GG Die Pflichtmitgliedschaft könnte gegen die Meinungsfreiheit des Kammermitglieds verstoßen. Schließlich ist es nach 1 Abs. 1 IHK-G Aufgabe der IHK, die Behörden durch Stellungnahmen zu unterstützen. Auch hat sich die IHK B durch Zeitungsanzeigen im Rahmen des Wahlkampfs geäußert. Jedoch ist Art. 5 Abs. 1 GG nicht betroffen, weil die Pflichtmitglieder nicht gezwungen sind, Stellungnahmen einer Kammer mitzutragen, wenn sie von der eigenen Meinung abweichen. Es bleibt ihnen unbenommen, ihre eigene Meinung zu äußern und zu verbreiten. Auch werden die Mitglieder in der Öffentlichkeit nicht mit den Äußerungen ihrer IHK identifiziert. Verletzung von Art. 5 Abs. 1 GG. (-) Hinweis zur Fallbearbeitung: Eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 GG muss in der Fallbearbeitung nicht unbedingt angesprochen werden, wenn es um Fragen der Zwangsmitgliedschaft geht. In der dem vorliegenden Fall zu Grunde liegenden Entscheidung hatten die Kläger Art. 5 Abs. 1 GG allerdings explizit als verletzt gerügt; entsprechend ist auch das BVerwG in den Urteilsgründen darauf eingegangen. 4. Art. 2 Abs. 1 GG a) Schutzbereich Der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG umfasst die allgemeine Handlungsfreiheit. Diese schützt auch vor der Zwangsmitgliedschaft in öffentlich-rechtlichen Körperschaften. Da die negative Vereinigungsfreiheit bezüglich öffentlich-rechtlicher Körperschaften nicht durch Art. 9 Abs. 1 GG gewährleistet wird, kann Art. 2 Abs. 1 GG seine Funktion als Auffanggrundrecht erfüllen. Somit ist der Schutzbereich eröffnet. Anmerkung: Art. 2 Abs. 1 GG ist auch dann einschlägig, wenn man davon ausgeht, dass Art. 9 Abs. 1 GG ohnehin nicht die negative Vereinigungsfreiheit schützt, sondern allein die positive. b) Eingriff Die V ist nach 2 Abs. 1 IHK-G Zwangsmitglied in der IHK B. Hierin ist ein Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG zu sehen. c) Rechtfertigung aa) Schranken Die allgemeine Handlungsfreiheit steht unter dem Vorbehalt der Rechte anderer, der Sittengesetze und der verfassungsmäßigen Ordnung. bb) Schranken-Schranken (1) Formelle Verfassungsgemäßheit des 2 Abs. 1 IHK-G Die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes ergibt sich aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG i.v.m. Art. 72 Abs. 2 GG. (2) Materielle Verfassungsgemäßheit des 2 Abs. 1 IHK-G 2 Abs. 1 IHK-G müsste verhältnismäßig sein. (a) Legitimer Zweck Der mit der Bildung der IHK verfolgte Zweck ergibt sich aus 1 Abs. 1 IHK-G: Wahrnehmung des Gesamtinteresses der Gewerbetreibenden und Förderung der gewerblichen Wirtschaft. Dieser Zweck ist legitim. Auch wenn die IHK in den Wahlkampf eingreift, führt dies zu keiner anderen Bewertung des Zwecks. Aufgabenüberschreitungen durch einzelne Kammern rechtfertigen es nicht, die vom Gesetz zugewiesenen Aufgaben nicht als legitime öffentliche Aufgaben anzusehen.

89 Fall 24: Missliebige Zwangsmitgliedschaft (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 4 (b) Eignung Die Schaffung öffentlich-rechtlicher Körperschaften fördert den Zweck. Auch wenn es sich bei der Gruppe der Gewerbetreibenden um eine inhomogene Gruppe handelt, liegt es doch im Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, ein Gesamtinteresse der Mitglieder anzunehmen. (c) Erforderlichkeit Vereinigungen, die auf Freiwilligkeit beruhen, können nicht in gleichem Maße den Zweck fördern. Nur eine von Zufälligkeiten der Mitgliedschaft freie sowie umfassende Ermittlung und Bündelung der maßgeblichen Interessen kann eine objektive und vertrauenswürdige Wahrnehmung des Gesamtinteresses ermöglichen. (d) Angemessenheit Die Mitgliedschaft in der Kammer stellt keine unzumutbare Beeinträchtigung der unternehmerischen Handlungsfreiheit dar. Es besteht die Chance zur Mitwirkung in der Kammer (siehe zur Mitbestimmung 4 IHK-G) sowie zur Nutzung der Kammerleistungen. Verhältnismäßigkeit (+) Ergebnis: Die Verfassungsbeschwerde der V ist nicht nur unzulässig, sondern auch unbegründet. B. Rechtsschutz gegen allgemeinpolitische Äußerungen Wenn eine öffentlich-rechtliche Zwangskörperschaft ihre Befugnisse überschreitet, besteht für das einzelne Mitglied die Möglichkeit, auf Unterlassen zu klagen. Voraussetzung hierfür ist, dass durch die zweckwidrige Arbeit der Vereinigung in Rechte des Einzelnen eingegriffen wird. Wie oben gezeigt sind weder Art. 9 Abs 1 GG noch Art. 5 Abs. 1 GG einschlägig, da der V die Meinungsäußerung der IHK B nicht als einzelne Person zugerechnet wird. Vorliegend könnte die Wahlempfehlung der IHK B die V in ihrem Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzen. Ein zulässiger Zwangsverband ist nur zu solchen Tätigkeiten befugt, die in seinen gesetzlichen Aufgabenbereich fallen. Durch die allgemeinpolitischen Äußerungen hinsichtlich der Bundestagswahl hat die IHK B ihren Aufgabenbereich überschritten; eine Wahlempfehlung kann nicht mehr als Wahrnehmung der Gesamtinteressen der Gewerbetreibenden (vgl. die Aufgabenbeschreibung in 1 Abs. 1 IHK-G) angesehen werden. Ob Art. 2 Abs. 1 GG dem Einzelnen ein Recht gewährt, über die Einhaltung des Aufgabenbereichs der Zwangsvereinigung zu wachen, ist umstritten. Dies könnte deshalb zweifelhaft sein, da von dem einzelnen Mitglied kein Verhalten verlangt wird, das über die ohnehin bereits bestehenden Pflichten hinausgeht (z.b. Beitragszahlung). Die Rechtsprechung gewährt aber dann einen Unterlassungsanspruch, wenn die Aufgabenüberschreitung den mit der Zwangsmitgliedschaft verbundenen Eingriff in die Freiheitssphäre des Mitgliedes erweitert (BVerwG, NJW 1987, 337 [338]). BVerwGE 64, 298 (301): Ein Verband mit Pflichtmitgliedschaft darf sich insoweit nur betätigen, als ihm auch der Gesetzgeber ein Betätigungsfeld eröffnen darf. Wo es dem Gesetzgeber versagt ist, Verbandsaufgaben zu bestimmen, die den Anspruch des Einzelnen auf Freiheit vor unzulässiger Pflichtmitgliedschaft verletzen, fehlt auch dem Verband die Befugnis, sich ein entsprechendes Betätigungsfeld zu schaffen. Die IHK ist zur Wahrnehmung der wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder verpflichtet; diesbezüglich ist ein Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG - wie oben gezeigt - verhältnismäßig. Allgemeinpolitische Äußerungen erweitern diesen Aufgabenbereich grundlegend. Entsprechende Aufgaben könnten der IHK auch nicht übertragen werden. Schließlich ist in der Wahlempfehlung eine Verletzung des aus dem Demokratieprinzip resultierenden Neutralitätsgebots zu sehen; derartiges Handeln stellt damit keine legitime öffentliche Aufgabenwahrnehmung mehr dar. Dies hat zur Folge, dass der Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG nicht mehr durch das IHK- G gedeckt ist, sodass ein Verstoß gegen den Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes vorliegt. Einen Eingriff in seine Grundrechte, der ohne gesetzliche Grundlage erfolgt, braucht der Einzelne nicht hinzunehmen. Ergebnis: Die V hat die Möglichkeit, auf Unterlassen allgemeinpolitischer Äußerungen und insbesondere von Wahlempfehlungen zu klagen.

90 Fall 25: Aufruhr im Betrieb (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 1 Fall 25: Aufruhr im Betrieb (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, S. 387) Frage 1: K könnte einen Anspruch gegen die S-GmbH auf Weiterbeschäftigung aus 611 BGB i.v.m. dem Arbeitsvertrag haben. Voraussetzung hierfür ist, dass ein wirksamer Arbeitsvertrag besteht. Ein solcher wurde zunächst zwischen dem K und der S-GmbH - vertreten durch E - geschlossen. Der Vertrag könnte jedoch rückwirkend vernichtet worden sein ( 142 BGB), wenn E den Vertrag wirksam angefochten hat. Vorliegend kommt eine Anfechtung nach 123 BGB in Betracht. I. Anfechtungserklärung E müsste die Anfechtung erklärt haben. Er hat erklärt, dass er nicht mehr am Vertrag festhalten wolle und es - wegen der Hinterlist des K - keiner Kündigung bedürfe. Hierin ist eine Anfechtungserklärung zu sehen. II. Anfechtungsfrist E hat die Jahresfrist des 124 Abs. 1 BGB eingehalten. III. Anfechtungsgrund Es müsste ein Anfechtungsgrund gegeben sein. Als solcher kommt eine arglistige Täuschung gem. 123 Abs. 1 Alt. 1 BGB in Betracht. Dann müsste der K zunächst durch eine widerrechtliche Täuschungshandlung bei dem E einen Irrtum hervorgerufen haben. In jeder Behauptung unzutreffender Tatsachen ist eine Täuschung durch positives Tun zu sehen. K hat behauptet, keiner Gewerkschaft anzugehören, obwohl er Mitglied der IG Bau ist. Somit hat er den E über die Gewerkschaftszugehörigkeit getäuscht. Diese Täuschung ist aber nur relevant, wenn sie auch widerrechtlich war. Die Widerrechtlichkeit ist nur gegeben, wenn die Frage des E zulässig gewesen ist. Denn auf eine unzulässige Frage hat der Arbeitnehmer, der sich um eine freie Stelle bewirbt, ein Recht zur Lüge. Die Frage nach der Gewerkschaftszugehörigkeit könnte gegen die Koalitionsfreiheit des K aus Art. 9 Abs. 3 GG verstoßen. Die positive Koalitionsfreiheit umfasst das Recht, eine Koalition zu bilden, einer bestehenden Koalition beizutreten und sich koalitionsgemäß zu betätigen. Wie sich aus Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG ergibt, entfaltet die Koalitionsfreiheit eine unmittelbare Drittwirkung, sodass auch der E hieran gebunden ist. Die Frage des E nach der Gewerkschaftszugehörigkeit des K zielte darauf ab, die Einstellung von der Gewerkschaftszugehörigkeit abhängig zu machen. In diesem Verhalten - Einstellung als Gegenleistung für gewerkschaftliche Abstinenz - ist aber eine Maßnahme zu sehen, die das Recht des K auf gewerkschaftliche Betätigung einschränken sollte. Wenn der E die Einstellung des K nicht von dessen gewerkschaftlicher Zugehörigkeit abhängig machen durfte, dann durfte er auch nicht nach der Zugehörigkeit fragen. Eigene Rechte der S- GmbH - wie z.b. die Vertragsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) oder das Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 5 Abs. 1 GG) -, die im Wege der unmittelbaren Drittwirkung bei der Auslegung des Begriffs widerrechtlich zu berücksichtigen wären, führen zu keinem anderen Ergebnis. Das Interesse der S-GmbH, sich möglichst umfassend über die Person des Stellenbewerbers zu informieren, muss hinter der Koalitionsfreiheit zurücktreten. Somit fehlt es an einem Anfechtungsgrund. Also hat der K weiterhin einen Anspruch auf Beschäftigung aus 611 BGB i.v.m. dem Arbeitsvertrag. Anmerkung: Da der E - nach seinen eigenen Worten - keine Kündigung aussprechen wollte, kann die Anfechtungserklärung nicht in eine Kündigung umgedeutet ( 140 BGB) werden.

91 Fall 25: Aufruhr im Betrieb (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 2 Frage 2: Die IG Bau kann von der S-GmbH die Unterlassung des beanstandeten Verhaltens nach 1004 Abs. 1 S. 2 BGB i.v.m. Art. 9 Abs. 3 S. 1 und 2 GG verlangen Abs. 1 S. 2 BGB wird als quasinegatorischer Unterlassungsanspruch auf alle Rechtsgüter des 823 BGB ausgedehnt. Art. 9 Abs. 3 GG stellt - wie sich aus der unmittelbaren Drittwirkung des Abs. 3 S. 2 ergibt - ein Schutzgesetz im Sinne von 823 Abs. 2 BGB dar; die Koalitionsfreiheit ist von jedermann zu beachten. Da Art. 9 Abs. 3 GG nach überwiegender Ansicht ein Doppelgrundrecht ist, können sich auch die Gewerkschaften auf die Koalitionsfreiheit berufen (die Gegenauffassung kommt zum selben Ergebnis unter Zuhilfenahme des Art. 19 Abs. 3 GG). Dadurch, dass die S- GmbH ihre Beschäftigungsverhältnisse von der gewerkschaftlichen Zugehörigkeit abhängig macht, wird die IG Bau in ihrem Bestand und ihrer Tätigkeit behindert. Deshalb besteht ein Anspruch gegen die S-GmbH, ihre ständige Praxis, bei Einstellungsgesprächen nach der Gewerkschaftszugehörigkeit zu fragen, in Zukunft zu unterlassen (Wiederholungsgefahr). BAG AP Nr. 49 zu Art. 9 GG: Verfassungsrechtlich geschützt sind Bestand und Tätigkeit der Koalition (BVerfGE 50, 290 [367]; 57, 220 [245], jeweils mit weiteren Nachweisen). Ein Arbeitgeber, der die Einstellung von Bewerbern vom Austritt aus der Gewerkschaft abhängig macht, greift unmittelbar in das verfassungsrechtlich geschützte Recht einer Koalition auf Bestand und Betätigung ein. Ein ausreichender Mitgliederbestand auf freiwilliger Grundlage ist Voraussetzung für eine erfolgreiche Tätigkeit der Gewerkschaft (BAGE 19, 217, 222 = AP Nr. 10 zu Art. 9 GG, zu 2 der Gründe). Arbeitnehmer, die sich den Gewerkschaften anschließen wollen, dürfen daran nicht durch wirtschaftlichen Druck gehindert werden. Sie müssen sich frei für den Beitritt zu einer Gewerkschaft entscheiden können. Der Arbeitgeber darf weder wegen der Gewerkschaftszugehörigkeit das Arbeitsverhältnis kündigen noch wegen dieser Gewerkschaftszugehörigkeit den Abschluss eines Arbeitsvertrags verweigern. Das Arbeitsverhältnis sichert einem Arbeitnehmer die wirtschaftliche Existenz. Diese darf nicht vom Beitritt oder Austritt aus einer Gewerkschaft abhängig gemacht werden. Frage 3: Eine Abmahnung setzt ein vertragswidriges Verhalten voraus. Nach 611 BGB i.v.m. dem Arbeitsvertrag hat U die Pflicht, seine Arbeitsleistung zu erbringen. Da er während seiner Arbeitszeit ein gewerkschaftliches Informationsblatt verteilt hat, hat er in dieser Zeit seine Arbeit verweigert. An sich verstößt dieses Verhalten gegen die vertraglichen Pflichten, es sei denn, es liegt eine Rechtfertigung vor. Eine Rechtfertigung könnte sich aus Art. 9 Abs. 3 GG ergeben. Da dieser unmittelbare Drittwirkung entfaltet, hat auch die S-GmbH die Koalitionsfreiheit zu respektieren. Durch Art. 9 Abs. 3 GG wird nicht nur die Bildung von Koalitionen geschützt, sondern auch die koalitionsmäßige Betätigung. Das Verteilen des Informationsblattes stellt eine Werbung für die IG Bau und für den Abschluss eines Tarifvertrages dar. Der Streik, für den der U geworben hat, ist ein zulässiges Mittel der Tarifauseinandersetzung. Zwar mag die Verteilung von Werbung während der Arbeitszeit nicht unerlässlich für den Bestand der Koalition sein. Jedoch beschränkt sich Art. 9 Abs. 3 GG nach der neueren Rechtsprechung des BVerfG (seit 1995) nicht bloß auf die Gewährleistung eines Kernbereichs. Somit wird dieses Verhalten von Art. 9 Abs. 3 GG geschützt. Dass U gar nicht der IG Bau angehört - er ist unorganisiert -, ändert hieran nichts, da sich auch Unorganisierte auf die Koalitionsfreiheit berufen können; in Tarifauseinandersetzungen ist die Gewerkschaft zumeist sogar auf ihr Wohlwollen angewiesen. BVerfGE 93, 352 (358) (Mitgliederwerbung II): Die Mitgliederwerbung ist auch nicht, wie das BAG meint, nur in dem Maße grundrechtlich geschützt, in dem sie für die Erhaltung und die Sicherung des Bestandes der Gewerkschaft unerlässlich ist. Der Grundrechtsschutz erstreckt sich vielmehr auf alle Verhaltensweisen, die koalitionsspezifisch sind. Ob eine koalitionsspezifische Betätigung für die Wahrnehmung der Koalitionsfreiheit unerlässlich ist, kann demgegenüber erst bei Einschränkungen dieser Freiheit Bedeutung erlangen. Insoweit gilt für Art. 9 Abs. 3 GG nichts anderes als für die übrigen Grundrechte. Dass das Verhalten des U durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützt wird, sagt allerdings noch nichts darüber aus, ob die Informationsverteilung nicht doch einen Vertragsverstoß darstellt. Schließlich ist die Koalitionsfreiheit nicht unbeschränkt gewährleistet, sondern wird durch Grundrechte Dritter eingeschränkt (verfassungsimmanente Schranke). Deshalb ist eine Abwägung vorzunehmen, in die auch grundrechtliche Positionen der S- GmbH einzustellen sind. Für die Position des Arbeitgebers spricht dessen wirtschaftliche Betätigungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 GG), die insbesondere bei einer Störung des Arbeitsablaufs und des Betriebsfriedens berührt wird. Beim Verteilen der Werbung während der Arbeitszeit treten erhebliche Störungen des Arbeitsablaufs auf. Nicht nur der U vernachlässigt seine Vertragspflichten. Auch diejenigen Arbeiter, denen die Werbung in die Hand gegeben wird, werden abgelenkt. Die Werbung für die IG Bau während der Arbeitszeit ist für den Bestand der IG Bau nicht unerlässlich, sodass ihr kein überragendes Gewicht zukommt. Für den U besteht die Möglichkeit, seine Informationen in der Pause zu verteilen; hier kann er seine Kollegen mindestens genauso gut erreichen (nicht genauso wirkungsvoll wäre es dagegen, den U darauf zu verweisen, nach Feierabend die Werbung zu verteilen, da es dann an einem Bezug zum Arbeitsplatz fehlt).

92 Fall 25: Aufruhr im Betrieb (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 3 Somit überwiegen die Interessen der S-GmbH. Also hätte U seine Informationen nicht während der Arbeitszeit verteilen dürfen. Ergebnis: Die Abmahnung ist zu Recht ergangen. Frage 4: Der W könnte einen Anspruch auf Unterlassen der gewerkschaftlichen Werbung gegen K aus 1004 Abs. 1 S. 2 BGB i.v.m. Art. 9 Abs. 3 S. 1 und 2 GG haben. Dann müsste er in seiner Koalitionsfreiheit verletzt worden sein. Neben der positiven Koalitionsfreiheit wird von Art. 9 Abs. 3 GG nach überwiegender Ansicht auch die negative Koalitionsfreiheit gewährleistet. Negative Koalitionsfreiheit bedeutet das Recht, einer Koalition fernzubleiben bzw. aus einer Koalition auszutreten. Ob darüber hinaus auch das Recht geschützt ist, von den Koalitionen nicht behelligt zu werden und insbesondere von der Geltung der Tarifverträge verschont zu bleiben (Stichwort: Freiheit von fremder Normsetzung), ist umstritten. Durch das Verteilen von Werbung wird der W jedoch weder in eine Gewerkschaft gedrängt - ihm werden bei Nichteintritt keine Nachteile in Aussicht gestellt (nach Ansicht des BVerfG ist ein nicht ganz unerheblicher Druck zum Gewerkschaftsbeitritt erforderlich, um die negative Koalitionsfreiheit zu beeinträchtigen) -, noch wird sein Arbeitsverhältnis in irgendeiner Weise gestaltet oder auch nur berührt. Das Verteilen sachlicher Informationen bleibt als bloße Belästigung unterhalb der Eingriffsschwelle. Somit kann der Streit unentschieden bleiben, ob überhaupt der Schutzbereich der negativen Koalitionsfreiheit eröffnet ist. Auch eine Abwägung zwischen der positiven Koalitionsfreiheit des K, die ja auch - wie oben gezeigt - das Verteilen von gewerkschaftlichem Werbematerial umfasst, und der negativen Koalitionsfreiheit des W ist nicht mehr erforderlich. Folglich liegen keine Verletzung der negativen Koalitionsfreiheit und damit kein Anspruch auf Unterlassen von Werbemaßnahmen vor.

93 Fall 26: Betriebsbesichtigung (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 1 Fall 26: Betriebsbesichtigung (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, S. 290) Die zulässige Verfassungsbeschwerde des B hat Erfolg, soweit sie begründet ist. A. Art. 13 GG I. Schutzbereich des Art. 13 GG 1. Persönlicher Schutzbereich Bei Art. 13 GG handelt es sich um ein sog. Jedermann-Grundrecht. 2. Sachlicher Schutzbereich Art. 13 GG garantiert den Schutz der Wohnung. Diese umfasst die Räume, die der allgemeinen Zugänglichkeit durch eine räumliche Abschottung entzogen und zur Stätte privaten Lebens und Wirkens gemacht werden. Im vorliegenden Fall möchte die Behörde bei B eine Betriebsbesichtigung vornehmen. Ob betrieblich bzw. gewerblich genutzte Räume unter Art. 13 GG zu subsumieren sind, ist durch Auslegung des Begriffs Wohnung zu ermitteln. Wenn man vom Wortlaut ausgeht, ist nach dem allgemeinen Sprachgebrauch das Kennzeichnende einer Wohnung ihr ausschließlich privater Gebrauch. Gewerblich genutzte Räume sind hingegen der Öffentlichkeit zumindest in begrenztem Umfang offen zugänglich und damit insoweit nicht Teil der Privatsphäre. Andererseits fehlt auch bei solchen Betriebs- und Geschäftsräumen die Privatheit nicht vollständig, bei denen der Hausrechtsinhaber über den individuellen Zutritt entscheidet und die deshalb der allgemeinen Zugänglichkeit entzogen sind. Die Schrankenregelung des Art. 13 Abs. 2, 7 GG spricht für einen Ausschluss der Gewerberäume aus dem Schutzbereich, weil insbesondere die überkommenen Nachschaubefugnisse hierdurch nicht gerechtfertigt werden können. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass der verfassungsgebende Gesetzgeber die Nachschau (Kontrolle der Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften durch Inaugenscheinnahme) gänzlich abschaffen wollte. Berücksichtigt man teleologische Gesichtspunkte, kann der Wohnungsbegriff über seinen ursprünglichen Wortsinn hinaus ausgedehnt werden. Wenn man Privatheit nicht als Zurückgezogenheit versteht, sondern im Sinne von freier Persönlichkeitsentfaltung begreift, können auch Betriebs- und Geschäftsräume als Wohnungen angesehen werden. Der Mensch verwirklicht sich durch seine Arbeit selbst. Die Arbeitsstätte dient weiterhin der Persönlichkeitsentfaltung. Auch gibt der Hausrechtsinhaber sein Hausrecht nicht vollständig auf, wenn er seine Räume in gewissem Umfang der Öffentlichkeit öffnet. Entscheidend ist allerdings, dass nicht ein im Wesentlichen ungehinderter Zutritt stattfindet (wie z.b. bei Einkaufszentren). Nach der historischen Auslegung ist der Wohnungsbegriff weit zu fassen. Bereits Art. 115 WRV wurde auf Betriebs- und Geschäftsräume angewendet. Hiervon wollten weder der parlamentarische Rat noch der verfassungsändernde Gesetzgeber, der 1998 Art. 13 GG um die Abs. 3-6 ergänzt hat, abrücken. Schutzbereich des Art. 13 GG (+), unabhängig davon, ob die Räume ausschließlich betrieblichen oder gewerblichen Zwecken dienen. II. Eingriff Eingriff ist jede Verkürzung grundrechtlich geschützter Positionen. Vorliegend wurde zwar lediglich der Antrag des B auf Feststellung dahingehend, dass ein Betretungsrecht der Behörde nicht bestehe, abgewiesen. Mit der Abweisung einer Feststellungsklage trifft ein Urteil aber zugleich die positive Feststellung des mit der Klage bekämpften Rechts der Beklagten (vgl. BVerwGE 68, 30 [310]). Damit haben die Fachgerichte hier rechtskräftig festgestellt, dass die Handwerkskammer berechtigt ist, bei B eine Betriebsbesichtigung vorzunehmen.

94 Fall 26: Betriebsbesichtigung (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 2 1. Besondere Anforderungen bei der Nachschau Als Konsequenz aus dem weiten Schutzbereich des Art. 13 GG hat das BVerfG bestimmte Voraussetzungen aufgestellt, unter denen das Betreten der Geschäftsräume zum Zwecke der Nachschau keinen Eingriff in Art. 13 Abs. 1 GG darstellt: Zunächst ist eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für das Betreten der Räume erforderlich, die wiederum verfassungsgemäß sein müsste. Vorliegend beruft sich die Handwerkskammer auf das Betretungsrecht aus 17 Abs. 2 HwO. 2. Verfassungsmäßigkeit des 17 Abs. 2 HwO a) Formell (+) Insbesondere wurde dem Zitiergebot Genüge getan (s. 17 Abs. 2 S. 3 HwO) b) Materiell Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aa) Legitimer Zweck (+) Zweck des Betretens ist die Prüfung der Eintragungsvoraussetzungen in die Handwerksrolle. Die Vorschrift genügt auch dem weiteren Erfordernis, diesen Zweck des Betretens, den Gegenstand und den Umfang der zugelassenen Besichtigung und Prüfung deutlich erkennen zu lassen. bb) Eignung bei restriktiver Auslegung (+) Die Norm ist verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass dem Wortlaut entsprechend die Prüfung der Eintragungsvoraussetzungen bei einzutragenden Gewerbetreibenden nur unter der Fragestellung erfolgen darf, ob ein Gewerbetreibender tatsächlich in die Handwerksrolle einzutragen ist. Denn nur insofern kann die Erreichung des erlaubten Zwecks gefördert werden. cc) Erforderlichkeit (+) Ein milderes, ebenso effektives Mittel ist nicht ersichtlich. dd) Angemessenheit (+) Der Anspruch des Staates auf Einhaltung und Durchsetzung der objektiven Rechtsordnung überwiegt. Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsräume sind nach außen geöffnet, daher ist hier die Intensität des Eingriffs geringer als bei Privatwohnungen. 3. Verfassungsmäßigkeit des Einzelakts a) Legitimer Zweck (+) Zweck des Betretens der Räume des B ist die Prüfung der Eintragungsvoraussetzungen in die Handwerksrolle. b) Eignung (-) Bei B liegen schon die persönlichen Voraussetzungen für eine Eintragung in die Handwerksrolle erkennbar nicht vor, so dass der Zweck der Ausübung des Betretungs- und Besichtigungsrechts nicht in der Eintragung des B in die Handwerksrolle liegen kann. Eine extensive Auslegung des Begriffs der einzutragenden Gewerbetreibenden in 17 Abs. 2 HwO dahingehend, dass er alle Gewerbetreibenden erfasse, bei denen nicht von vornherein feststehe, dass kein Handwerkbetrieb vorliege, führt im Ergebnis zu einem nicht gerechtfertigten Eingriff in das Grundrecht des B aus Art. 13 Abs. 1 GG. Somit verstößt die Feststellung des Betretungsrechts gegen Art. 13 Abs. 1 GG.

95 Fall 26: Betriebsbesichtigung (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 3 B. Art. 2 Abs. 1 GG Das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) tritt aus Gründen der Subsidiarität hinter Art. 13 GG zurück. Ergebnis: Die Verfassungsbeschwerde des B hat Erfolg.

96 Fall 27: Untersuchungshaft (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 1 Fall 27: Untersuchungshaft (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, S. 301) Die zulässige Verfassungsbeschwerde des M hat Erfolg, wenn er durch das Lesen und Anhalten seines Briefes in seinen Grundrechten verletzt wurde. A. Verletzung von Art. 10 Abs. 1 GG (Post- und Briefgeheimnis) I. Schutzbereich 1. Persönlicher Schutzbereich Bei Art. 10 GG handelt es sich um ein Jedermann-Grundrecht. Auch wenn M in Untersuchungshaft sitzt, finden trotzdem die Grundrechte Anwendung; Sonderstatusverhältnisse bzw. besondere Gewaltverhältnisse sind keine grundrechtsfreien Räume (vgl. Art. 1 Abs. 3 GG). 2. Sachlicher Schutzbereich II. Eingriff a) Postgeheimnis Schutz der postalisch beförderten Sendungen von der Einlieferung bis zur Ablieferung an den Empfänger; hier wurde durch das Anhalten des Schreibens des M bereits die Aufgabe zur Post verhindert; deshalb (-). b) Briefgeheimnis Schutz der körperlichen Übermittlung individueller Kommunikation; zeitlich beginnt der Schutz, sobald sich die Sendung nicht mehr in den Händen den Absenders befindet. Ausreichend ist, dass sich die Sendung auf dem Beförderungsweg befindet, aber noch nicht beim Beförderungsunternehmen angelangt ist. Bei dem Schreiben des M an seine Eltern handelt es sich unproblematisch um einen Brief. Da das Briefgeheimnis unabhängig vom Beförderer gilt, reicht die Übergabe an den Gefängnisbediensteten aus, um den Schutzbereich zu eröffnen. Eingriff: Jede Verkürzung grundrechtlich geschützter Positionen. Durch Kenntnisnahme vom Inhalt des Briefes, sowie durch die diese Maßnahmen bestätigenden Beschlüsse des Landgerichts wurde das Briefgeheimnis beeinträchtigt. Kein Eingriff ist im Anhalten des Briefes zu sehen, da Art. 10 GG nicht vor der bloßen Verhinderung der Kommunikation schützt. III. Rechtfertigung 1. Schranken Gemäß Art. 10 Abs. 2 S. 1 GG steht der Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikationsmedien unter einem einfachen Gesetzesvorbehalt. 2. Schranken-Schranken a) Verfassungsmäßigkeit des einschränkenden Gesetzes Eingriffe in Art. 10 GG dürfen nur durch oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen. Auch bei Sonderstatusverhältnissen (früher als besondere Gewaltverhältnisse bezeichnet) ist keine Ausnahme hiervon zu machen (s.o.).

97 Fall 27: Untersuchungshaft (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 2 Die Untersuchungshaftvollzugsordnung (UVollzO [Schönfelder-Ergänzungsband Nr. 91a]), die Einzelheiten der Untersuchungshaft regelt, stellt als bloße Verwaltungsvorschrift keine taugliche Ermächtigungsgrundlage für Grundrechtseingriffe dar. Als Ermächtigungsgrundlage könnte 119 Abs. 3 StPO in Betracht kommen. Dieser ermöglicht solche Beschränkungen, die dem Zweck der Untersuchungshaft dienen oder für die Ordnung in der Vollzugsanstalt erforderlich sind. In dieser generalklauselartigen (unbestimmten) Weite wird zwar nicht inhaltlich die Rechtsstellung des Untersuchungshäftlings geregelt, sodass durchaus Vorbehalte gegen die Verfassungsmäßigkeit geäußert werden. Jedoch ist eine Konkretisierung durch Gesetzesauslegung möglich, sodass im Ergebnis keine Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des 119 Abs. 3 StPO bestehen. Gesetzliche Grundlage. (+) b) Verfassungsmäßige Anwendung im Einzelfall Das Lesen des Briefes müsste verhältnismäßig sein. Zweck der Untersuchungshaft ist es, Flucht und Verdunkelung zu verhindern. Die Kontrolle des Inhalts ist zur Zweckerreichung geeignet, erforderlich und angemessen. Verhältnismäßigkeit hinsichtlich des Lesens (+); das Lesen des Briefes verletzt den M nicht in Art. 10 Abs. 1 GG (Briefgeheimnis). B. Verletzung von Art. 5 Abs. 1 GG (Meinungsfreiheit) I. Schutzbereich Meinung: Meinung ist jede wertende Stellungnahme; auf den Wert, die Richtigkeit oder die Vernünftigkeit der Äußerung kommt es nicht an. Geschützt wird nicht nur die Meinungsäußerung, sondern auch deren Verbreitung. In seinem Brief hat M u.a. über die Richter seines Verfahrens geurteilt; dass diese Äußerungen möglicherweise beleidigenden Inhalts und damit ehrverletzend waren, ändert für die Eröffnung des Schutzbereichs nichts, wie sich aus Art. 5 Abs. 2 GG ergibt. II. Eingriff Durch das bloße Lesen wurde die Freiheit des M, seine Meinung zu äußern, nicht beeinträchtigt. Jedoch wird durch Anhalten des Briefes eine Kommunikation verhindert; deshalb Eingriff (+). III. Rechtfertigung 1. Schranken Nach Art. 5 Abs. 2 GG unterliegt die Meinungsfreiheit einem qualifizierten Schrankenvorbehalt. 2. Schranken-Schranken a) Verfassungsmäßigkeit des einschränkenden Gesetzes 119 Abs. 3 StPO müsste den Anforderungen des Art. 5 Abs. 2 GG genügen. Gesetz zum Schutz der persönlichen Ehre: 119 Abs. 3 StPO ist kein Ehrenschutztatbestand, sondern dient der Aufrechterhaltung der Anstaltsordnung. Eine Straftat nach 185 StGB (Beleidigung) ist nicht zwangsläufig geeignet, die Anstaltsordnung zu gefährden. Allgemeines Gesetz: Solche, die sich weder gegen die Meinungsfreiheit an sich noch gegen bestimmte Meinungen richten, sondern dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen (Vereinigungsformel des BVerfG). 119 Abs. 3 StPO soll der ordnungsgemäßen Durchführung der Untersuchungshaft und damit der Strafrechtspflege dienen. Allgemeines Gesetz (+). Zur Verfassungsmäßigkeit des 119 Abs. 3 StPO siehe oben.

98 Fall 27: Untersuchungshaft (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 3 b) Verfassungsmäßige Anwendung im Einzelfall Das Anhalten des Briefes müsste verhältnismäßig gewesen sein. Zweck der Maßnahmen nach 119 Abs. 3 StPO ist es zunächst, die Ordnung in der Anstalt zu gewährleisten. Zur Aufrechterhaltung der Ordnung in der Anstalt war das Anhalten des Briefes nicht geeignet. Es ist keinesfalls zwangsläufig, dass die Ordnung der Anstalt dadurch gefährdet wird, dass in einem Brief Personen außerhalb der Anstalt - und seien es Amtsträger - beleidigt werden und damit eine Straftat nach 185 StGB begangen wird. Konkrete Anhaltspunkte für derartige Auswirkungen lagen auch nicht vor. Andererseits dient die Untersuchungshaft der Sicherung des Strafverfahrens (vgl. die Haftgründe in 112 Abs. 2 StPO) und nicht dem Zweck, den Häftling zu erziehen und Angriffe auf die Ehre Dritter zu unterlassen. Da M in seinem Brief weder seine Flucht geplant hat noch auf seinen Prozess einwirken wollte, war das Anhalten des Briefes auch nicht zur Durchsetzung des Zweckes der Untersuchungshaft geeignet. Als weiterer Gesichtspunkt bei der Abwägung ist zu berücksichtigen, dass die Kommunikation mit den Eltern und anderen Personen des persönlichen Vertrauens unter dem besonderen Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG bzw. des allgemeinen Persönlichkeitsrechts steht. Dies gilt auch bei erwachsenen Kindern. Verhältnismäßigkeit (-); das Anhalten des Briefes verletzt den M in Art. 5 Abs. 1 GG (Meinungsfreiheit). C. Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG Die allgemeine Handlungsfreiheit tritt als Auffanggrundrecht zurück, da das Lesen des Briefes von Art. 10 GG und das Anhalten des Briefes von Art. 5 Abs. 1 GG erfasst werden. Ergebnis: Die Verfassungsbeschwerde des M hat teilweise Erfolg, soweit sie das Anhalten des Briefes betrifft.

99 Fall 28: Erledigte Beschlagnahme (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 1 Fall 28: Erledigte Beschlagnahme (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, S. 399 f.) Die Verfassungsbeschwerde des F hat Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist. A. Zulässigkeit I. Zuständigkeit des BVerfG Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG. (+) II. Beteiligtenfähigkeit Jedermann i.s.d. 90 Abs. 1 BVerfGG ist derjenige, der Träger der in Betracht kommenden Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte ist. Art. 2 Abs. 1; 13; 19 Abs. 4 GG sind sog. Jedermann-Grundrechte, deren Träger F ist. III. Beschwerdegegenstand Akte der öffentlichen Gewalt ( 90 Abs. 1 BVerfGG). Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss des Amtsgerichts und Beschluss des Landgerichts, durch den die Beschwerde für gegenstandslos erklärt wurde. IV. Beschwerdebefugnis 1. Behauptung einer Grundrechtsverletzung Aus dem Vorbringen des F muss sich die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung ergeben ( 90 Abs. 1 BVerfGG): a) Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss Eine Verletzung der Art. 2 Abs. 1, 13 GG kann nicht offensichtlich ausgeschlossen werden. b) Beschluss des Landgerichts Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Landgericht auf Grund der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG über den Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss hätte entscheiden müssen. 2. Selbst, gegenwärtig, unmittelbar betroffen? a) Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss F müsste durch den Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss gegenwärtig betroffen sein. Problem: Durchsuchung und Beschlagnahme haben sich bereits erledigt. Das beschlagnahmte Gerät wurde bereits an F zurückgegeben. Ausnahmsweise Gegenwärtigkeit (+), wenn weiterhin beeinträchtigende Wirkungen bestehen (Rehabilitationsinteresse), eine Wiederholungsgefahr gegeben ist oder bei schwer wiegenden Grundrechtseingriffen, insbesondere wenn sie sich typischerweise schnell erledigen. Wohnungsdurchsuchungen und Beschlagnahmen erledigen sich typischerweise, bevor Rechtsschutz erlangt werden kann; auch ist Art. 13 GG ein sehr gewichtiges Grundrecht. Dies wird insbesondere daran deutlich, dass Durchsuchungen grundsätzlich einer richterlichen Anordnung bedürfen. Folglich ist F selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen.

100 Fall 28: Erledigte Beschlagnahme (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 2 b) Nichtannahmebeschluss Vom Nichtannahmebeschluss des Landgerichts gehen weiterhin belastende Wirkungen aus, da er einer Entscheidung des Landgerichts in der Sache entgegensteht. Auch dieser betrifft F daher selbst, gegenwärtig und unmittelbar. V. Erschöpfung des Rechtswegs und Grundsatz der Subsidiarität Erschöpfung des Rechtswegs ( 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG): Gegen den Beschluss des Landgerichts gibt es keine weiteren Rechtsschutzmöglichkeiten (vgl. 310 Abs. 2 StPO). Hinsichtlich des Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlusses hat F den Rechtsweg ausgeschöpft, da er nach 304 Abs. 1 StPO erfolglos Beschwerde eingelegt hat. Gegen den Beschluss des LG gibt es keinen Rechtsschutz (vgl. 310 Abs. 2 StPO). Ob doch noch fachgerichtlicher Rechtsschutz erlangt werden kann, hängt von der Frage ab, ob das Landgericht die Beschwerde hätte zulassen müssen. Wenn die obige Verfassungsbeschwerde gegen den Nichtannahmebeschluss wegen Verletzung des Art. 19 Abs. 4 GG Erfolg hat, wird das BVerfG diesen Beschluss des LG aufheben und die Sache zur erneuten Entscheidung zurückverweisen. In diesem Fall wäre der Rechtsweg nach 304 StPO vorrangig zu beschreiten. Deshalb kann - ausnahmsweise - noch nicht über die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde gegen den Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss entschieden werden (vgl. BVerfGE 96, 27 [43]). VI. Ordnungsgemäßer Antrag, Frist ( 23 Abs. 1, 92, 93 BVerfGG) Frist (+), da F unverzüglich Verfassungsbeschwerde erhoben hat. Mangels gegenteiliger Angaben im Sachverhalt ist die Ordnungsgemäßheit des Antrags zu unterstellen. Zwischenergebnis: Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. B. Begründetheit I. Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG 1. Schutzbereich Art. 19 Abs. 4 GG enthält ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt. Zur öffentlichen Gewalt i.s.d. Art. 19 Abs. 4 GG zählen grundsätzlich nicht die Gerichte. Ausnahmsweise ist die richterliche Tätigkeit dann als öffentliche Gewalt einzuordnen, wenn sie außerhalb ihrer spruchrichterlichen Tätigkeit auf Grund eines ausdrücklich normierten Richtervorbehalts erfolgt. Über Durchsuchung und Beschlagnahme entscheidet nach 98, 105 StPO der Richter. Er handelt auf Antrag und nimmt eigenständig einen Eingriff vor. Somit kann die richterliche Entscheidung als Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG angesehen werden. Anmerkung: Der Beschluss des Landgerichts, gegen den F sich wendet, ist zur Tätigkeit der rechtsprechenden Gewalt zu rechnen. Dass 310 Abs. 2 StPO eine weitere Instanz nicht vorsieht, ist deshalb im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG unproblematisch und könnte folglich von F auch nicht gerügt werden. Rechtsschutz gegen den Richter bietet in Ausnahmefällen allein der allgemeine Justizgewährleistungsanspruch. Weiterhin ist der Schutzbereich des Art. 19 Abs. 4 GG eröffnet, weil gegen den richterlichen Beschluss grundsätzlich die Beschwerde nach 304 StPO möglich ist. Diese ist vom Gericht jedoch für gegenstandslos erklärt worden, sodass der Rechtsweg dem Beschwerdeführer versperrt ist. Art. 19 Abs. 4 GG fordert zwar keinen Instanzenzug. Zur Effektivität des Rechtsschutzes gehört aber auch, dass das Rechtsmittelgericht ein von der Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht leer laufen lassen darf. Vorliegend geht es um die Frage, ob F das für die Beschwerde erforderliche Rechtsschutzinteresse gehabt hat. Diese Zulässigkeitsvoraussetzung ist im Lichte des Art. 19 Abs. 4 GG auszulegen. Schutzbereich. (+)

101 Fall 28: Erledigte Beschlagnahme (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 3 2. Verletzung eines Leistungsrechts Dogmatische Einordnung: Bei Art. 19 Abs. 4 GG handelt es sich um ein Leistungs- und nicht um ein Abwehrrecht. Ein wirksamer Rechtsschutz bedarf der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber. Zudem erfordert die Anwendung des Prozessrechts im Sinne der Effektivität des Rechtsschutzes ein Tätigwerden des Gerichts. Die Verletzung eines Leistungsrechts liegt dann vor, wenn die Gerichte bei der Anwendung des Prozessrechts das Gebot effektiven Rechtsschutzes verkürzt haben. Mit Art. 19 Abs. 4 GG ist es vereinbar, ein Rechtsschutzinteresse nur dann anzunehmen, wenn eine gegenwärtige Beschwer vorliegt, bei Wiederholungsgefahr oder bei fortwirkenden Beeinträchtigungen eines an sich beendeten Eingriffs. Art. 19 Abs. 4 GG erfordert aber auch bei tief greifenden Grundrechtseingriffen das Rechtsschutzbedürfnis zu bejahen, insbesondere wenn sich die entsprechenden staatlichen Maßnahmen typischerweise kurzfristig erledigen. In diesen Fällen wäre ein gerichtlicher Rechtsschutz nur ausnahmsweise gegeben, weil Erledigung zumeist eintritt, bevor ein Gericht angerufen werden kann. Ein solcher Rechtsschutz wäre deshalb nicht mehr effektiv. Bei der Wohnungsdurchsuchung handelt es sich um einen tief greifenden Grundrechtseingriff, was am Richtervorbehalt des Art. 13 Abs. 2 GG deutlich wird. Außerdem erledigen sich Wohnungsdurchsuchungen typischerweise, bevor gerichtlicher Rechtsschutz erlangt werden kann. Dies wurde vom Landgericht bei der Zurückweisung der Beschwerde des F verkannt. Verletzung. (+) II. Art. 2 Abs. 1 GG Aus Art. 2 Abs. 1 GG i.v.m. dem Rechtsstaatsprinzip ergibt sich ein allgemeiner Justizgewährleistungsanspruch. Dieser tritt jedoch hinter dem spezielleren Art. 19 Abs. 4 GG zurück. Ergebnis: Die Zurückweisung der Beschwerde durch das Landgericht als unzulässig verletzt den F in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG. Hinsichtlich der Zurückweisung wird die Verfassungsbeschwerde Erfolg haben. C. Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss Die Verfassungsbeschwerde gegen den Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss ist bereits unzulässig. Zwar wurde die Beschwerde des F vom Landgericht zurückgewiesen; hiergegen besteht auch kein weiter gehender Rechtsschutz. Jedoch wird das BVerfG als Ergebnis von B. den Ablehnungsbeschluss des Landgerichts aufheben und die Sache zur erneuten Entscheidung zurückverweisen. Damit besteht aber eine Rechtsschutzmöglichkeit gegen den Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss. F müsste deshalb erst den fachgerichtlichen Rechtsweg beschreiten, um seine verfassungsrechtliche Beschwer auszuräumen (vgl. 90 Abs. 2 BVerfGG). Ergebnis: Die Verfassungsbeschwerde gegen den Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss ist unzulässig.

102 Fall 29: PKW als Waffe (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 1 Fall 29: PKW als Waffe (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, S. 418) Die zulässige Verfassungsbeschwerde des B hat Erfolg, wenn sie begründet ist. A. Die Verurteilung I. Art. 103 Abs. 2 GG 1. Schutzbereich Art. 103 Abs. 2 GG enthält den Grundsatz Keine Strafe ohne Gesetz (nulla poena sine lege). Durch Art. 103 Abs. 2 GG wird zunächst der Gesetzgeber verpflichtet, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind bzw. sich durch Auslegung ermitteln lassen. Dies gilt auch für Vorschriften, die nicht die Strafbarkeit eines Verhaltens an sich regeln, sondern unter bestimmten Voraussetzungen zu einer Verschärfung der Strafandrohung gegenüber dem Grundtatbestand führen. Art. 103 Abs. 2 GG ist damit im vorliegenden Fall bereits dann einschlägig, wenn Zweifel an der Bestimmtheit des 113 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 StGB bestehen. Gleichermaßen wird die Rechtsprechung durch Art. 103 Abs. 2 GG gebunden. Schließlich soll es auch der rechtsprechenden Gewalt verwehrt werden, über die Voraussetzungen einer Straftat selbst zu entscheiden (strikte Gesetzesbindung). Der Richter wird aber dann zum Schöpfer der Strafbarkeit/Strafandrohung, wenn er eine Norm so auslegt, dass sie nicht mehr mit ihrem Wortlaut vereinbar ist. Im vorliegenden Fall geht es darum, ob Amtsgericht, Landgericht und Oberlandesgericht 113 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 StGB richtig ausgelegt haben. Somit ist der Schutzbereich eröffnet. 2. Eingriff Eingriff: Jede Verkürzung grundrechtlich geschützter Positionen. a) Legislative Ein Eingriff in Art. 103 Abs. 2 GG könnte bereits im Erlass des 113 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 StGB zu sehen sein. Straftatbestände und Strafzumessungsregeln beeinträchtigen dann den Schutzbereich, wenn sie nicht den Bestimmtheitsanforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG genügen. Auch wenn der Gesetzgeber gehalten ist, Strafnormen so präzise wie möglich zu fassen, stellt die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe allein noch keinen Eingriff dar, solange es - wie hier - möglich ist, den Tatbestand des 113 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 StGB durch Auslegung zu bestimmen. 113 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 StGB greift nicht in den Schutzbereich des Art. 103 Abs. 2 GG ein. b) Judikative Die Rechtsprechung greift dann in den Schutzbereich des Art. 103 Abs. 2 GG ein, wenn sie den Wortlaut eines Straftatbestands bzw. einer Strafzumessungsregel überdehnt. Der mögliche Wortsinn stellt die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation dar. Eine Auslegung, die nicht mehr mit dem Wortsinn zu vereinbaren ist, stellt eine verbotene Analogie dar. Für die Frage, ob die Gerichte durch ihre Entscheidungen in Art. 103 Abs. 2 GG eingegriffen haben, ist entscheidend, ob ein Personenkraftwagen vom möglichen Wortsinn des Begriffs der Waffe in 113 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 StGB noch erfasst ist. Um den Wortsinn des Begriffs Waffe zu ermitteln, ist auf die klassischen Auslegungsmethoden zurückzugreifen: Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnet der Begriff der Waffe Gegenstände, deren primäre Zweckbestimmung darin liegt, im Wege des Angriffs oder der Verteidigung zur Bekämpfung anderer eingesetzt zu werden, oder wenn eine solche Verwendung zumindest typisch ist. Die bloße Möglichkeit, einen Gegenstand auch in zweckentfremdender Benutzung zur Bekämpfung von Zielen zu verwenden, genügt zur Begründung der Waffeneigenschaft danach nicht.

103 Fall 29: PKW als Waffe (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 2 Anhaltspunkte dahingehend, dass der Gesetzgeber den Ausdruck der Waffe in 113 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 StGB in einem weiteren, über den umgangssprachlichen Gebrauch hinausgehenden Sinn verwenden wollte, sind nicht ersichtlich. Auch der vom BGH im Rahmen seiner Rechtsprechung zu 224 Abs. 1 Nr. 2, 244 Abs. 1 Nr. 1 lit. a und 250 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, Abs. 2 Nr. 1 StGB geprägte strafrechtliche Waffenbegriff umfasst nur Gegenstände, die nach ihrer objektiven Beschaffenheit und ihrem Zustand zur Zeit der Tat bei bestimmungsgemäßer Verwendung geeignet sind, erhebliche Verletzungen zuzufügen. Schließlich spricht auch die Entstehungsgeschichte des 113 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 StGB für dieses Verständnis. Denn im Sonderausschuss für die Strafrechtsreform war der Vorschlag, 113 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 StGB auf das Mitführen gefährlicher Werkzeuge bzw. anderer gefährlicher Gegenstände zu erstrecken, letztlich fallengelassen worden. Die Auslegung von 113 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 StGB durch die Gerichte ist mithin nicht mit dem Wortsinn vereinbar. Somit liegt ein Eingriff in Art. 103 Abs. 2 GG vor (a.a. vertretbar). 3. Rechtfertigung Rechtfertigungsmöglichkeiten sind nicht ersichtlich. Zwischenergebnis: Die Urteile des Amtsgerichts und des Landgerichts sowie der Beschluss des Oberlandesgerichts verletzen den B in Art. 103 Abs. 2 GG. II. Art. 2 Abs. 1 GG Das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) tritt aus Gründen der Subsidiarität hinter Art. 103 Abs. 2 GG zurück. B. Die Einziehung I. Art. 14 Abs. 1 GG 1. Schutzbereich Der Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG umfasst jedenfalls diejenigen vermögenswerten Rechtspositionen, die das bürgerliche Recht einem privaten Rechtsträger als Eigentum zuordnet. Die Anordnung der Einziehung betrifft mit dem Pkw des B dessen Eigentum, so dass der Schutzbereich eröffnet ist. 2. Eingriff Die Anordnung der Einziehung beeinträchtigt die bestehende Eigentümerposition des B und stellt einen Eingriff dar. 3. Rechtfertigung a) Schranken aa) Enteignung gem. Art. 14 Abs. 3 GG? Enteignung = vollständiger oder teilweiser Entzug konkreter vermögenswerter Rechtspositionen durch gezielten hoheitlichen Rechtsakt zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben. Hier: Einziehung des instrumentum sceleris = vollständiger Entzug der Eigentümerposition. Aber: Bei der Enteignung geht die öffentliche Gewalt aus eigenem Interesse aktiv, offensiv gegen Privateigentümer vor, weil sie sein Eigentum für einen öffentlichen Zweck braucht ; wird sie dagegen nicht im Blick auf die Eigentumsentziehung tätig, sondern, um Rechtsgüter der Gemeinschaft ( ) vor Gefahren zu schützen, liegt immer eine Inhaltsbestimmung vor (BVerfGE 20, 351 [359]). Da die strafrechtliche Einziehung nicht mit dem Ziel erfolgt, die Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe zu ermöglichen, sondern einen gemeinwohlschädlichen Gebrauch zu vermeiden,

104 Fall 29: PKW als Waffe (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 3 stellt sie keine Enteignung isd Art. 14 Abs. 3 GG dar (BVerfGE 22, 387 [422]; 110, 1 [24] dar). bb) Inhalts- und Schrankenbestimmung (ISB, Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG)? ISB = Alle rechtlichen Regelungen, mit denen der Gesetzgeber Eigentum abstrakt-generell definiert. Hier: Einziehung des zur Begehung einer Straftat verwendeten Pkw. (+) b) Schranken-Schranken aa) Verfassungsmäßigkeit des 74 StGB (+) bb) Verfassungsmäßige Anwendung des 74 StGB Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, 74 b StGB? II. Art. 2 Abs. 1 GG (1) Legitimer Zweck Abwehr einer Gefahr für die Allgemeinheit. (2) Geeignetheit (+) (3) Erforderlichkeit Milderes Mittel? In 74b StGB ist ausdrücklich geregelt, dass das Gericht den Vorbehalt der Einziehung anordnet und eine weniger einschneidende Maßnahme trifft, wenn der Zweck der Einziehung auch durch sie erreicht werden kann. Hier hätte das Gericht eine Anweisung i.s.d. 74 b Abs. 2 S. 2 Nr. 3 StGB an den Eigentümer richten können, den Pkw zu veräußern. Da mit dieser Anweisung ein milderes Mittel existiert, welches zum Schutz des Allgemeinwohls ebenso geeignet ist wie die Einziehung, war letztere nicht erforderlich. Daher: Die Anordnung der Einziehung des Pkw ist unverhältnismäßig. Das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) tritt aus Gründen der Subsidiarität hinter Art. 14 Abs. 1 GG zurück. Zwischenergebnis: Die Anordnung der Einziehung verletzt den B in Art. 14 Abs. 1 GG. Ergebnis: Die Verfassungsbeschwerde des B hat Erfolg.

105 Fall 30: Preisabsprachen (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 1 Fall 30: Preisabsprachen (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, S. 446) Die Klage hat Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist. A. Zulässigkeit I. Zuständigkeit des EuG Das EuG müsste zuständig sein. Zuständig für die hier allein in Betracht kommende Nichtigkeitsklage gem. Art. 230 EG (Art. 263 AEUV-Lissabon) ist grundsätzlich das EuG (Art. 225 Abs. 1 S. 1 EG, Art. 256 Abs. 1 S. 1 AEUV-Lissabon). Allerdings kann die Gerichtshofsatzung gem. Art. 225 Abs. 1 S. 1 EG (Art. 256 Abs. 1 S. 1 AEUV-Lissabon) dem EuGH bestimmte Klagen zur Entscheidung vorbehalten. Der insofern einschlägige Art. 51 Gerichtshofsatzung sieht einen solchen Vorbehalt für Nichtigkeitsklagen juristischer Personen nicht vor. Damit ist das EuG zuständig. II. Parteifähigkeit Klägerin und Beklagte müssten parteifähig sein. Die Klägerin, die Hoechst AG als juristische Person, ist parteifähig gem. Art. 230 Abs. 4 EG (Art. 263 Abs. 4 AEUV-Lissabon). Die Beklagte, die Kommission, ist nach Art. 230 Abs. 1 EG (Art. 263 Abs. 1 AEUV-Lissabon) parteifähig. III. Klagegegenstand Erforderlich ist ferner ein tauglicher Klagegegenstand. Gegenstand einer Nichtigkeitsklage sind gem. Art. 230 Abs. 4 EG (Art. 263 Abs. 4 AEUV-Lissabon) insbesondere die Entscheidungen, die an die Klägerin ergangen sind. Eine solche Entscheidung gem. Art. 249 Abs. 4 EG (Art. 288 Abs. 4 AEUV- Lissabon: Beschluss ) liegt mit der Anordnung der Nachprüfung vor. IV. Klagebefugnis Die Hoechst AG müsste ferner klagebefugt sein. Eine besondere Klagebefugnis ist jedoch gem. Art. 230 Abs. 4 EG (Art. 263 Abs. 4 AEUV-Lissabon) nur dann erforderlich, wenn eine natürliche oder juristische Person gegen eine Verordnung gem. Art. 249 Abs. 2 EG (Art. 288 S. 2 AEUV-Lissabon) oder eine an eine andere Person gerichtete Entscheidung Klage erhebt. Bei unmittelbar an die Klägerin gerichteten Entscheidungen ist die Klagebefugnis stets gegeben. V. Klagefrist Die Einhaltung der Klagefrist des Art. 230 Abs. 5 EG (Art. 263 Abs. 6 AEUV-Lissabon) (zwei Monate) wird unterstellt. VI. Ergebnis Die Klage ist zulässig. B. Begründetheit einer Klage Die Nichtigkeitsklage ist gem. Art. 230 Abs. 2 EG (Art. 263 Abs. 2 AEUV-Lissabon) begründet, wenn eine Handlung eines Gemeinschaftsorgans wegen Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung dieses Vertrags oder einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm oder wegen Ermessensmissbrauchs rechtswidrig zu Stande gekommen ist.

106 Fall 30: Preisabsprachen (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 2 I. Ermächtigungsgrundlage Auch im europäischen Gemeinschaftsrecht ist bei Eingriffen der öffentlichen Gewalt in die Rechtssphäre des Einzelnen eine Rechtsgrundlage erforderlich. Eine solche Rechtsgrundlage liegt mit Art. 20 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 vor. II. Formelle Rechtmäßigkeit 1. Zuständigkeit Gem. Art. 85 Abs. 1 EG (Art. 105 Abs. 1 AEUV-Lissabon), Art. 20 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 ist die Kommission für die Überwachung des Wettbewerbs und insbesondere auch für derartige Nachprüfungen zuständig. 2. Verfahren Die Anforderungen an das Verfahren müssten eingehalten sein. Gem. Art. 20 Abs. 7 der Verordnung Nr. 1/2003 richten sich die Verfahrensanforderungen für die zwangsweise Durchführung der Nachprüfung nach nationalem Recht. Die hier bestehenden Anforderungen sind laut Sachverhalt eingehalten. 3. Form Schließlich müsste die Form der Entscheidung rechtmäßig sein. Zweifelhaft ist, ob die Begründung der Kommissionsentscheidung (vgl. Art. 253 EG, Art. 296 S. 2 AEUV-Lissabon) den Anforderungen genügt. Zwar ist der Entscheidung eine Begründung beigefügt. Diese Begründung äußert sich aber weder über Art und Tragweite der der Kommission vorliegenden Erkenntnisse noch über die bei der Nachprüfung gesuchten Informationen. Fraglich ist, ob eine solche Begründung rechtsstaatlichen Anforderungen (Art. 6 Abs. 1 EU, Art. 6 Abs. 1 EUV-Lissabon i.v.m. der Charta der Grundrechte) genügt. Die Begründung soll einerseits die Berechtigung der Kommission zur Vornahme der Nachprüfung darlegen und es zugleich dem Betroffenen ermöglichen, seine Verteidigungsrechte wahrzunehmen. Andererseits soll die Begründung auch den Rahmen der Mitwirkungspflicht der Betroffenen aufzeigen und abstecken. Dabei darf die Pflicht zur Begründung jedoch nicht soweit gehen, dass sie den Untersuchungserfolg vereitelt. Im vorliegenden Fall war es für die Kommission erforderlich, Details über Herkunft und Tragweite der ihr vorliegenden Erkenntnisse nicht preiszugeben. Andernfalls hätte bei der Nachprüfung kaum eine Chance bestanden, relevante Informationen aufzufinden. Zudem kann auch eine genaue Bezeichnung der gesuchten Informationen nicht verlangt werden. Zweck der Nachprüfung ist es gerade, Informationen erst aufzufinden, die bislang nicht bekannt bzw. vollständig zu bezeichnen sind. Die von der Kommission gegebene Begründung beschreibt hingegen den Verdacht und ermöglicht der Hoechst AG insofern Gegenmaßnahmen. Zugleich ist der Gegenstand der Nachprüfung deutlich bezeichnet. Damit ist den Formerfordernissen genüge getan. III. Materielle Rechtmäßigkeit Schließlich müsste die Kommissionsentscheidung auch materiell rechtmäßig sein. In Betracht kommt ein Verstoß gegen Gemeinschaftsgrundrechte, die gem. Art. 6 Abs. 2 EU (Art. 6 Abs. 3 EUV-Lissabon) als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts im Rang von Primärrecht stehen. 1. Unverletzlichkeit der Wohnung Zunächst könnte ein Verstoß gegen die Unverletzlichkeit der Wohnung dadurch vorliegen, dass die Kommission gem. Art. 20 Abs. 2 lit. a) der Verordnung Nr. 1/2003 den Zutritt zu den Räumlichkeiten der Firma Hoechst erzwungen hat. Dann müsste im Gemeinschaftsrecht ein Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung anzuerkennen sein (a), welches auch den Schutz von Geschäftsräumen einschließt (b). a) Vorliegen eines Gemeinschaftsgrundrechts Fraglich ist, ob die Unverletzlichkeit der Wohnung als Gemeinschaftsgrundrecht anzuerkennen ist. Gem. Art. 6 Abs. 2 EU (Art. 6 Abs. 3 EUV-Lissabon) sind Gemeinschaftsgrundrechte im Wege eines wertenden Rechtsvergleichs aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten sowie der EMRK abzuleiten. Die EMRK garantiert in Art. 8 Abs. 1 den

107 Fall 30: Preisabsprachen (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 3 Schutz der Wohnung. Gleichermaßen sehen die Verfassungen der Mitgliedstaaten regelmäßig einen solchen Schutz vor (vgl. etwa Deutschland: Art. 13 GG; Finnland: 10 Verfassung; Italien: Art. 14 Verfassung; Niederlande: Art. 12 Verfassung). Daher kann die Unverletzlichkeit der Wohnung als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts angesehen werden. Hinweis: Auch Art. 7 der Charta der Grundrechte, die mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon Rechtsverbindlichkeit erlangt (Art. 6 Abs. 1 EUV-Lissabon), garantiert ein Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung. b) Einbeziehung von Geschäftsräumen Fraglich ist allerdings, ob auch Geschäftsräume dem Schutz der Unverletzlichkeit der Wohnung unterfallen. Der Wortlaut der EMRK bzw. der nationalen Grundrechte enthält hierzu regelmäßig keinen Anhaltspunkt. Die Rechtsprechung in den Mitgliedstaaten ist unterschiedlich und teilweise - siehe die Rechtsprechung zu Art. 13 GG - nicht unumstritten. Allerdings hat der EGMR die Geschäftsräume in den Schutzbereich der Unverletzlichkeit der Wohnung einbezogen. Gleichwohl kann der Schutz der Unverletzlichkeit der Wohnung im Gemeinschaftsrecht nicht auf Geschäftsräume ausgedehnt werden; diesbezüglich sind die Unterschiede der verschiedenen Rechtsordnungen zu groß. Ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsgrundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung liegt daher nicht vor. 2. Schutz der privaten Betätigung ( allgemeine Handlungsfreiheit ) Jedoch könnte die Nachprüfung gegen das Grundrecht auf Schutz jeder privaten Betätigung vor willkürlichen oder unverhältnismäßigen Eingriffen verstoßen. Ein solches, der deutschen allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) entsprechendes Grundrecht findet sich zwar nicht in der EMRK. Es ist jedoch Bestandteil der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen (vgl. etwa Frankreich: Art. 4 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte; Griechenland: Art. 5 Abs. 1 Verfassung). Fraglich ist daher, ob die Nachprüfung willkürlich oder unverhältnismäßig war. Hinweis: Ein Willkürverbot folgt ebenso aus Art. 21 der Charta der Grundrechte. Da für Willkür keine Anhaltspunkte bestehen, kommt allein die Unverhältnismäßigkeit der Nachprüfung in Betracht. Die Nachprüfung ist unverhältnismäßig, wenn sie keinem legitimen Zweck dient oder nicht geeignet, nicht erforderlich oder nicht angemessen ist. a) Legitimer Zweck Die Nachprüfung dient der Aufrechterhaltung des Wettbewerbs und damit gem. Art. 81, 85 EG (Art. 101, 105 AEUV-Lissabon) einem legitimen Zweck. b) Eignung Die Nachprüfung fördert den Zweck und ist insofern geeignet. c) Erforderlichkeit Ein milderes Mittel, welches mit gleicher Effektivität die gesuchten Informationen erbringen kann, ist nicht ersichtlich. d) Angemessenheit Angesichts der Tragweite der Vorwürfe bestehen auch hinsichtlich der Angemessenheit der Nachprüfung keine Zweifel. Die Nachprüfung ist verhältnismäßig und verstößt nicht gegen Gemeinschaftsgrundrechte. Hinweis: Art. 52 der Grundrechtecharta stellt für die Prüfung der Chartagrundrechte besondere Rechtfertigungsanforderungen in Form eines einheitlichen Schrankenvorbehalts auf. Im Wesentlichen handelt es sich hierbei ebenfalls um eine Verhältnismäßigkeitsprüfung. IV. Ergebnis Die zulässige Klage ist unbegründet. Sie wird keinen Erfolg haben.

108 Fall 31: Clinique (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 1 Fall 31: Clinique (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, S. 454 f.) A. Zulässigkeit der Vorlage I. Zuständiges Gericht Gem. Art. 234 EG (Art. 267 AEUV-Lissabon) ist der EuGH für die Entscheidung über Vorabentscheidungsersuchen zuständig. II. Vorlagegegenstand Ferner müsste ein zulässiger Vorlagegegenstand vorliegen. Zulässig sind gem. Art. 234 Abs. 1 lit. a) EG (Art. 267 Abs. 1 lit. a) AEUV-Lissabon) insbesondere Fragen zur Auslegung dieses Vertrags. Eine solche abstrakt gestellte Rechtsfrage zur Auslegung der Art. 28, 30 EG (Art. 34, 36 AEUV- Lissabon) anlässlich der Entscheidung eines konkreten Falls hat das Landgericht Berlin dem EuGH vorgelegt. Damit liegt ein zulässiger Vorlagegegenstand vor. III. Vorlageberechtigung Das Landgericht Berlin müsste vorlageberechtigt sein. Vorlageberechtigt ist gem. Art. 234 Abs. 2 EG (Art. 267 Abs. 2 AEUV-Lissabon) jedes Gericht eines Mitgliedstaates. Gericht ist jeder Spruchkörper in Rechtssachen, der auf einer gesetzlichen Grundlage beruht, eine ständige Einrichtung ist, in dem unabhängige Richter anhand von Rechtsnormen in einem streitigen, rechtsstaatlich geordneten Verfahren entscheiden. Dies ist beim Landgericht Berlin der Fall. Gem. Art. 234 Abs. 2 EG (Art. 267 Abs. 2 AEUV-Lissabon) müsste das Landgericht ferner eine Entscheidung des EuGH zum Erlass eines Urteils für erforderlich halten. Das Landgericht Berlin hält im vorliegenden Fall eine Vorabentscheidung zwar nicht unmittelbar für das Endurteil für erforderlich. Jedoch es hängt von der Antwort des EuGH ab, ob eine Beweiserhebung durch Meinungsumfrage erfolgen muss. Insofern ist die Vorabentscheidung für die Frage eines entsprechenden Beweisbeschlusses erforderlich. Dies ist für die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens ausreichend. IV. Ergebnis Die Vorlage ist zulässig. B. Antwort des EuGH auf die Vorlagefrage Stehen die Art. 28, 30 EG (Art. 34, 36 AEUV-Lissabon) der Anwendung einer nationalen Vorschrift über den unlauteren Wettbewerb entgegen, die es erlaubt, die Einfuhr und den Vertrieb eines in einem anderen europäischen Land rechtmäßig vertriebenen kosmetischen Produkts mit der Begründung zu untersagen, durch den Produktnamen Clinique würden die Verbraucher irregeführt, wenn dieses Produkt unter diesem Namen in anderen Ländern der Europäischen Gemeinschaft rechtmäßig und unbeanstandet vertrieben wird? I. Schutzbereich des Art. 28 EG (Art. 34 AEUV-Lissabon) 1. Grenzüberschreitender Sachverhalt In den Schutzbereich der binnenmarktbezogenen Grundfreiheiten fallen nur grenzüberschreitende Sachverhalte. Reine Inlandssachverhalte werden von vornherein nicht erfasst. Das Produkt wird jedoch unter dem Namen Clinique in allen Ländern der EG - außer in Deutschland - rechtmäßig vertrieben. Insofern wäre nur für Deutschland eine abweichende Bezeichnung und Verpackung erforderlich. Ein grenzüberschreitender Sachverhalt liegt damit vor. 2. Geschützte Tätigkeit Ferner müsste die Einfuhr von Clinique in den sachlichen Schutzbereich des Art. 28 EG (Art. 34 AEUV-Lissabon) fallen. Zunächst müsste es sich daher um eine Ware i.s.v. Art. 28 EG (Art. 34

109 Fall 31: Clinique (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 2 AEUV-Lissabon) (vgl. Art. 23 Abs. 2 EG und Überschrift des Titel I, Art. 28 Abs. 2 AEUV- Lissabon und Überschrift des Titel II) handeln. Ware ist jedes Handelsgut; diese Voraussetzung ist bei Kosmetika erfüllt. Ferner bezweckt Estée Lauder die Einfuhr, sodass auch der sachliche Schutzbereich erfüllt ist. Die Tatsache, dass Estée Lauder ein amerikanisches Unternehmen ist, steht dem Schutz des Art. 28 EG (Art. 34 AEUV-Lissabon) in persönlicher Hinsicht nicht entgegen (vgl. Art. 24 EG, Art. 29 AEUV-Lissabon). II. Beeinträchtigung des Schutzbereichs 1. Maßnahme gleicher Wirkung Eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs kann gem. Art. 28 EG (Art. 34 AEUV-Lissabon) durch mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen - eine solche liegt hier nicht vor - und durch Maßnahmen gleicher Wirkung erfolgen. Maßnahme gleicher Wirkung ist nach der sog. Dassonville-Formel jede unmittelbare oder mittelbare, tatsächliche oder potenzielle Beeinträchtigung. Das Erfordernis einer abweichenden Bezeichnung für in Deutschland vertriebene Produkte erhöht die Kosten und behindert dadurch die Einfuhr. Insofern könnte eine Maßnahme gleicher Wirkung vorliegen. 2. Begrenzung i.s.d. Keck-Rechtsprechung Um den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten einzugrenzen und nicht jede nationale Vorschrift des Gewerberechts den Grundfreiheiten zu unterstellen, grenzt der EuGH bloße Verkaufsmodalitäten nach seiner Keck-Rechtsprechung aus dem Anwendungsbereich aus: Demgegenüber ist entgegen der bisherigen Rechtsprechung die Anwendung nationaler Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten nicht geeignet, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten im Sinne des Urteils Dassonville unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern, sofern diese Bestimmungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der ausländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren. Die hier vorliegenden Regelungen sind zwar diskriminierungsfrei; sie knüpfen in keiner Weise an die Herkunft des Produkts an. Jedoch betrifft die Regelung über die Bezeichnung nicht die Umstände des Verkaufs, sondern die Ware selbst. Daher liegt eine produktbezogene Regelung vor, die als Maßnahme gleicher Wirkung angesehen werden kann. 3. ausgehend vom Staat Die Regelungen über den Namen gehen schließlich auch vom Staat als einem Verpflichteten der Grundfreiheiten aus. III. Rechtfertigung der Beeinträchtigung Die Regelung könnte jedoch gerechtfertigt sein, wenn sie sich auf eine Schrankenregelung stützen kann und den Anforderungen der Schranken-Schranken genügt. 1. Rechtfertigung nach Art. 30 S. 1 EG (Art. 36 S. 1 AEUV-Lissabon)? In Betracht kommt eine Rechtfertigung nach Art. 30 S. 1 EG (Art. 36 S. 1 AEUV-Lissabon). Auf Grund des Ausnahmecharakters der Vorschrift ist der Katalog der Rechtfertigungsgründe eng auszulegen; eine erweiternde Auslegung oder analoge Anwendung kommt nach Ansicht des EuGH nicht in Betracht. Das Ziel der Maßnahme ist im vorliegenden Fall der Verbraucherschutz (vgl. Art. 153 EG, Art. 169 AEUV-Lissabon) bzw. die Lauterkeit des Handelsverkehrs. Diese Ziele sind in Art. 30 S. 1 EG (Art. 36 S. 1 AEUV-Lissabon) nicht als Rechtfertigungsgründe anerkannt, sodass eine Rechtfertigung auf dieser Basis ausscheidet. 2. Rechtfertigung durch zwingende Erfordernisse In Betracht kommt aber eine Rechtfertigung durch zwingende Erfordernisse des Gemeinwohls i.s.d. Cassis-Formel. Eine solche Rechtfertigung kommt bei diskriminierungsfreien Maßnahmen (s.o.) dann in Betracht, wenn sie notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden.

110 Fall 31: Clinique (Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2009, ISBN ) 3 IV. Ergebnis a) Zwingendes Erfordernis Zwingende Erfordernisse sind jedenfalls die im Vertrag anerkannten Ziele der Gemeinschaft. Der Verbraucherschutz ist gem. Art. 153 EG (Art. 169 AEUV-Lissabon) ein solches Ziel. b) Eignung, Erforderlichkeit Hinsichtlich der Eignung und der Erforderlichkeit bestehen keine Zweifel. c) Angemessenheit Fraglich ist aber, ob die Maßnahme angemessen ist. Generell geht der EuGH von einem durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Verbraucher aus. Ein solcher Verbraucher - dies zeigt der problemlose Vertrieb unter dem Namen Clinique in anderen Ländern - würde sich jedoch nicht in die Irre führen lassen. Zudem erfolgt der Verkauf nicht in Apotheken, sondern in Kaufhäusern und Drogerien, sodass auch die Verkaufsumgebung nicht auf ein medizinisches Produkt hindeutet. Das Verbot ist daher unangemessen. Der EuGH wird auf die Vorlagefrage antworten, dass die Art. 28, 30 EG (Art. 34, 36 AEUV-Lissabon) dahingehend auszulegen sind, dass sie einer nationalen Maßnahme entgegenstehen, die die Einfuhr und den Vertrieb eines als kosmetisches Mittel eingestuften und aufgemachten Erzeugnisses mit der Begründung verbietet, dass dieses Erzeugnis die Bezeichnung Clinique trägt.

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