10 Über Kreuz Architekten haben die Aufgabe, allen Wünsche ihrer Bauherrschaft eine räumliche Form zu geben. Sie müssen Ansprüche, die weit voneinander divergieren können, in eine Gesamtordnung überführen. Das kann mitunter zu Lösungen führen, die über Kreuz verlaufen. Text: Manuel Pestalozzi, Fotos: Tanya Hasler
11 Sirnach kann als vollwertiger Bestandteil der Grossstadt Schweiz betrachtet werden: Zusammen mit Nachbargemeinden und der Kleinstadt Wil bildet das Dorf eine Agglomeration, die sich entlang der Autobahn A1 und der Bahnstrecke Zürich-St. Gallen in den vergangenen Jahrzehnten gebildet hat. Das Haus Orlandi steht am Rand des Siedlungsgebietes von Sirnach; es befindet sich in Hanglage südlich des historischen Ortskerns und bietet eine schöne Aussicht übers Hinterthurgau. Lagern und stemmen Die Bauherrschaft suchte vorerst nach einer Attikawohnung in der Region. Erst als sie nichts Passendes fand, entschied sie sich für den Bau eines eigenen Hauses. Diese Vorgeschichte liess schon erste Schlüsse auf die Präferenzen zu: grosszügige Räume, Terrassen, Fernblick, hohe Qualitätsansprüche bei der Innenausstattung. Ein wichtiger Faktor war zudem die umfangreiche Sammlung von Modell-Rennwagen des Bauherrn, welche in ihrer ganzen Pracht zur Geltung gebracht werden sollte. Die Architekten fanden für das anspruchsvolle Programm eine Lösung, welche die Hanglage geschickt nutzt, Bodennähe und Abgehobenheit zugleich bietet und durch seine skulpturalen Qualitäten dem Quartier zur Zierde gereicht. Als Ausgangslage diente die traditionelle Überlagerung verschiedener Nutzungsschichten: Über einem Keller befindet sich das Eingangsgeschoss, gefolgt von einem Obergeschoss. Allerdings wurde jede dieser horizontalen Raumschichten in ihren Ausmassen und der Ausrichtung differenziert, so dass sich das Haus wie eine Abfolge übereinander gelagerter Boxen ausnimmt. Besonders markant zur Geltung kommt das Obergeschoss, das über Kreuz auf dem in etwa gleich dimensionierten Untergeschoss liegt. Drei Trios «tanzender» Vollstahlstützen stemmen die weit in den Gartenraum auskragenden westliche Hälfte dieses Volumens in die Höhe. Durch die einheitliche Farbgebung und die Durchdringung Das Haus ist eine Komposition unterschiedlich dimensionierter und ausgerichteter Geschossvolumen, die in den Gartenraum ausgreifen.
12 Fotos Architekten Massivholz-Merbau-Treppen führen vom grosszügigen Entree in den Kellerraum, in dem die grosse Modell-Rennwagen-Ausstellung des Hausherrn untergebracht ist, und ins Obergeschoss. Dort rahmt die Küchenkombination den Aufgang. der einzelnen Geschosse an den Kontaktstellen wird das Haus trotz dieser «Verselbständigung» der einzelnen Geschosse als Einheit wahrgenommen. Der Kellerkörper, dessen Oberkante allseitig über dem Terrain liegt, ist mit einem Bretterboden gedeckt. Auf der östlichen Seite des Eingangsgeschosses gewährleistet er den Zugang zum Haus, auf der westlichen Seite dient er als teilweise durch das Obergeschoss gedeckten Sitzplatz. Da bei diesen Aussenbereichen auf eine Brüstung oder ein Geländer verzichtet wurde, zeichnet sich der Keller, der talwärts aus dem Erdreich dringt, als eigenständiger Körper deutlich ab. Der Körper des Erdgeschosses dient dem Obergeschoss als begehbare Aussenräume. Vor allem bei der nach Norden, zum Tal hin orientierten Terrasse kommt ein «Attika-Feeling» auf. Bewegen und ruhen Die intensive Verzahnung des Hauses mit seinem Aussenraum lässt erahnen, dass die Bewegung bei diesem Entwurf eine wichtige Rolle gespielt hat. Tageslichtquellen, Sichtbezüge und horizontale wie auch vertikale Durchschüsse wecken die Neugier. Sie laden ein zu «Entdeckungsreisen» und Promenades architectura-
13 les. Vom Eingang sieht man quer durchs Erdgeschoss auf den gedeckten Sitzplatz. Gleichzeitig öffnet sich der Blick vom Entree nach oben, zum eigentlichen Wohn-«Attika»-Geschoss; der Treppenaufgang wird von der hellen, lackierten Rückwand des U-förmigen Küchen-Arbeits- und Buffetmöbel gefasst und führt in den Wohn-/Essbereich, der wiederum eine Zone bildet, welche vom Tageslicht geradezu durchspült wird und einen Bezug zwischen der nördlichen und der südlichen Terrasse herstellt. Der private Bereich des Obergeschosses mit Schlaf-, Badezimmer und Ankleide ist um ein kleines, auf drei Seiten geschosshoch verglastes Atrium orientiert, durch das ein im Garten gepflanzter Baum emporwächst. Das Obergeschoss, das als Hauptgeschoss zu betrachten ist, hat somit keinen eigentlichen «Kern», vielmehr begibt man sich in ein Raumkontinuum. Es ist um einen Hohl- und einen Vollkörper, das Atrium und das Küchenmöbel um den Aufgang, orientiert, die sich umschreiten lassen. Eine weitere Insel bildet im privaten Bereich die freistehende Badewanne. Ein Bestandteil des luxuriösen Wohnens ist die grosse «Ellbogenfreiheit». In diesem Haus wurde sie auf überzeugende Weise Obergeschoss Erdgeschoss Untergeschoss
14 in die Realität umgesetzt. Alleine der Grundriss garantiert, so will man meinen, dass es zwischen den Bewohnern zu keinen Zusammenstössen kommt. Nichts stört den Raumfluss, verschiedene Wege führen zum selben Ziel. Doch in einem Haus bewegt man sich ja nicht ständig, gelegentlich möchte man auch zur Ruhe kommen und in seinen eigenen vier Wänden besinnliche oder sinnliche Stunden verleben. Zu diesem Zweck verwandeln sich bestimmte Raumzonen mittels Schiebetüren in geschlossene «Zellen». So lässt sich vom grossen Entree bei Bedarf ein Gästezimmer abscheiden, im Obergeschoss ist die Trennung des Schlafzimmers vom Bad und der Ankleide möglich. Es besteht zudem die Option, das Raumkontinuum zwischen dem privaten Teil des Geschosses und der Wohn-/Esszone zu unterbrechen. Auf Ereignisse oder Stimmung kann man somit den Grundriss ganz nach Wunsch anpassen. Das Haus Orlandi hat auf die Frage des angemessenen, zeitgemässen Wohnens auf gehobenem Niveau eine interessante Antwort gefunden. Einmal mehr erweist es sich, dass die gestalterische Zurückhaltung und die Konzentration auf solide Details der richtige Weg zu einem befriedigenden Resultat sind. Bauherrschaft: Roswitha und Peter Orlandi, Sirnach/TG Architektur: Bürohochform, Gisler Holliger Architekten AG, Zürich Der intimere Teil des Obergeschosses ist um ein Atrium angeordnet. Foto Architekten Foto Architekten