Pruritus und Prurigo. Sonja Ständer. 1 Pruritus. und auch die Entdeckung spezialisierter spinaler Projektionsneurone

Ähnliche Dokumente
Juckreiz : Was tun, wenn die Haut verrückt spielt?

Definition der Urtikaria

Restless legs - Syndrom. Stefan Weis, Neckarsulm

Nahrungsmittelallergie

Auf der 84. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), die noch bis zum 1. Oktober in

Definition. Entzündliche abakterielle Nierenerkrankungen mit Befall unterchiedlicher glomerulärer Strukturen

Nierenschmerzen bei Zystennieren (ADPKD) Autosomal-dominante polyzystische Nierenerkrankung

Was sind die Ursachen des Restless-Legs-Syndroms?

Was bedeutet Restless-Legs-Syndrom eigentlich? Eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen... 19

Weitere Nicht-Opioid-Analgetika

Rationale Diagnostik ik von Autoimmunthyreopathien

Checkliste zur Kausalitätsattribuierung bei vermuteter toxischer Polyneuropathie

Sehr geehrte Unterstützer und Interessenten der Prurigo nodularis Liga,

Dermatologie in der Hausarzt und Notfallpraxis Tips und Tricks für den Praktiker Paul Scheidegger, Brugg

PATIENTENAUFKLÄRUNG UND EINVERSTÄNDNISERKLÄRUNG zur Basistherapie mit Abatacept

Folsäure-CT 5 mg wird angewendet zur - Behandlung von Folsäuremangelzuständen, die diätetisch nicht behoben werden können.

URSACHEN VON VULVASCHMERZEN EIN ÜBERBLICK DR. BARBARA EBERZ REFERENZZENTRUM FÜR VULVAERKRANKUNGEN MÜRZZUSCHLAG

Block 2. Medikamentenkunde Teil 1. Übersicht Block 2. Psychopharmaka. Anxioly7ka Hypno7ka. An7depressiva. Phasenprophylak7ka. An7demen7va.

2.1. Allgemeine Sinnesphysiologie

POCKET - LEITLINIE. Chronischer Pruritus

Periodisches Fieber mit Aphthöser Stomatitis, Pharyngitis und Adenitis (PFAPA)

Wie sich die schleichende Autoimmunerkrankung kontrollieren lässt

Behandlungsoptionen ein einfacher Leitfaden

Mikroimmuntherapie. Mikroimmuntherapie

Vortragszusammenfassungen

Aus: Terbinafin Schäfer-Korting/Schmid-Wendtner Copyright 2006 ABW Wissenschaftsverlag GmbH, Kurfürstendamm 57, Berlin

Autoimmune Lebererkrankungen

Eine Informationsbroschüre für Patienten mit Nervenschmerzen nach Gürtelrose

Thio / Ronner / van Os-Medendorp / van der Snoek (Hrsg.) Praxishandbuch Pruritus. Verlag Hans Huber Programmbereich Pflege

TNF-Rezeptorassoziiertes

Fall einer hereditären Hämochromatose (HH) Dr. med. Carl M. Oneta Schaffhauserstrasse Winterthur

Entzündungshemmer / Kortikosteroide topisch & systemisch

Die in den Mundspeicheldrüsen und im Pankreas gebildete Alpha- Amylase (α-amylase) ist ein Enzym der Kohlenhydratverdauung.

Autoimmundermatosen. Bullöse Dermatosen. Kollagenosen

Der häufigste Hautkrebs

Jürgen Sandkühler. Downloads:

Patienteninformation Lamotrigin Desitin 04/2007

Die chronisch-komplexen Erkrankungen. Dr. Andor Harrach Psychotherapie Vorlesung SE SS 2014

MAVENCLAD. Informationsmaterial für Patienten. Version 1.0, [Stand Juli 2017]

Cytomegalie-Immunglobulin vom Menschen

Einführung 13. Vitamin D Vitamin D3 bringt die Energie der Sonne in Ihre Zellen 16

MediPreis Produktsteckbrief

Patienteninformation. Was Sie über Schmerzen wissen sollten. Die mit dem Regenbogen

Sexuell übertragbare Infektionen MUSTER. Sexuell übertragbare. Was muss ich wissen?

Homöopathie für die Gelenke

Herzlich Willkommen zum

SVEN-DAVID MÜLLER CHRISTIANE WEISSENBERGER

Mitteilung des Bundesamts für Sicherheit im Gesundheitswesen über Maßnahmen zur Gewährleistung der Arzneimittelsicherheit:

Parkinson kommt selten allein

Entyvio (Vedolizumab) Der darmselektiv wirkende Integrin-Hemmer bei Colitis ulcerosa und Morbus Crohn 1 4

während und nach Herpes zoster? Cord Sunderkötter Klinik für Hauterkrankungen und Abteilung für translationale Dermatoinfektiologie, UKMünster

was ist das? Reizdarmsyndrom

Neurologische Komplikationen bei Nierenerkrankungen

Juckende Dermatosen. B. Kränke J. T. Kainz

Sehr geehrte Unterstützer und Interessenten der Prurigo nodularis Liga,

MYELOPROLIFERATIVE NEOPLASIEN

Rationale Diagnostik bei Pruritus

behördlich genehmigtes Schulungsmaterial (Adalimumab) Patientenpass für Erwachsene

Allergie. Univ.-Prof. Dr. Albert Duschl

Universität zu Lübeck Institut für Krebsepidemiologie e.v.

er kratzt sich viel?

Anämie im Alter. Behandeln oder nicht behandeln, ist das eine Frage? Christian Kalberer

Gebrauchsinformation. Bitte lesen Sie die gesamte Gebrauchsinformation sorgfältig durch, denn sie enthält wichtige Informationen

Behandlung mit Botulinumtoxin A Antworten auf einige Ihrer Fragen. Armspastik. nach Schlaganfall

JUCKREIZ IM ALTER. PAUL SATOR Dermatologie KH Hietzing - Wien

RoACTEMRA (Tocilizumab) i.v. und s.c. Patientenpass

PATIENTENAUFKLÄRUNG UND EINVERSTÄNDNISERKLÄRUNG zur Therapie mit Cyclophosphamid

Informationen für Betroffene LEBEN MIT MORBUS FABRY

In vitro Allergiediagnostik

Leben mit. LEMS.com LAMBERT-EATON- MYASTHENIE-SYNDROM

Schuppenflechte = Psoriasis Klinisches Bild

Chronische Niereninsuffizienz bei Katzen NIEREN. THERAPIE Tag für Tag

NEUE BEHANDLUNGSMÖGLICHKEITEN MONOKLONALE ANTIKÖRPER

Meine tägliche. Feuchtigkeitspflege. FeuchtCreme. Informationen und Tipps rund um das Thema Scheidentrockenheit

Pathophysiologie und therapeutisches Management von Arzneimittelreaktionen

kontrolliert wurden. Es erfolgte zudem kein Ausschluss einer sekundären Genese der Eisenüberladung. Erhöhte Ferritinkonzentrationen wurden in dieser S

Standard "Pflege von Senioren mit Sensibilitätsstörungen" Sensibilitätsstörungen können verschiedene Ursachen haben:

Imlan Einzigartiger Hautschutz bei gestörter Hautbarriere

Anhang I Wissenschaftliche Schlussfolgerungen und Gründe für die Änderung der Bedingungen der Genehmigung(en) für das Inverkehrbringen

Schmerz, Grundlagen AB 1-1, S. 1

Anhang III Änderungen der entsprechenden Abschnitte der Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels und der Packungsbeilage

Multiple Sklerose (MS)

Prof. Dr. med. Jörn P. Sieb. Restless Legs: Endlich wieder ruhige Beine. I Mit Selbsttests zur sicheren Diagnose. I Wieder erholsam schlafen TRIAS

Patienteninformation zur Behandlung der Psoriasis mit Ustekinumab

PATIENTENINFORMATION

ALLES ÜBER SCHMERZEN. Solutions with you in mind

Anhang III. Änderungen an relevanten Abschnitten der Fachinformation und der Packungsbeilage

Eine Informationsbroschüre für Patienten mit Nervenschmerzen durch Diabetes. Diabetische Polyneuropathie - was ist das?

PATIENTENINFORMATION

Nebenwirkungs management der Immuntherapie

1. Was ist Lygal Kopfsalbe N 3% und wofür wird sie angewendet?

Hypercalcämie. Marius Kränzlin & Jürg Schifferli

Diabetische Neuropathie Praxisgerechte Umsetzung der Leitlinien

AMGEVITA (Adalimumab)

Atopische Dermatitis (Neurodermitis)

Autoimmundermatosen. Bullöse Dermatosen. Kollagenosen

Transkript:

Pruritus und Prurigo Sonja Ständer 1 Pruritus Definition Pruritus (Juckreiz) ist definiert als eine unangenehme Hautempfindung, die mit dem Wunsch zu kratzen verbunden ist. Akuter Pruritus dient als sensorische Schutzempfindung dazu, Parasiten oder andere Fremdkörper von der Hautoberfläche zu entfernen. Chronischer Pruritus (ab 6 Wochen Dauer) ist das häufigste Hautsymptom verschiedenster Erkrankungen und kommt sowohl bei dermatologischen als auch systemischen, neurologischen, psychiatrischen und gynäkologischen Erkrankungen und bei Medikamenteneinnahme vor. Pruritus muss klinisch und neurophysiologisch von Schmerz, Berührung und Kälte- und Hitzegefühl unterschieden werden. Epidemiologie Die Inzidenz und Prävalenz von Pruritus sind spärlich dokumentiert. Jedes Individuum hat von Zeit zu Zeit akuten Pruritus infolge von alltäglichen Auslösern wie Insektenstichen oder trockener Haut. Die Prävalenz von chronischem Pruritus liegt bei etwa 13 % in der erwachsenen Bevölkerung; die Inzidenz bei etwa 7 %. Obwohl umfangreiche demografische Studien fehlen, ist die Prävalenz von chronischem Pruritus bei einigen Erkrankungen bekannt. So sind chronische Nierenerkrankungen oder die primär biliäre Zirrhose in etwa 27 % beziehungsweise bis zu 80 % der Fälle mit Pruritus assoziiert. Ätiopathogenese S. Ständer (*) Kompetenzzentrum Chronischer Pruritus, Universitätsklinikum Münster, Münster, Deutschland E-Mail: sonja.staender@uni-muenster.de Neurophysiologie Die Identifikation von pruritogenen Mediatoren und Prurizeptoren auf primär afferenten Neuronen und auch die Entdeckung spezialisierter spinaler Projektionsneurone grenzen die Empfindung des Pruritus klar von der Schmerzempfindung ab (Abb. 1). Die genauen Mechanismen von klinisch definierten Pruritusformen, wie dem paraneoplastischen Pruritus, nephrogenen (urämischen) Pruritus oder Arzneimittelreaktionen bleiben weitestgehend unverstanden. In den letzten Jahren wurden einige Mechanismen des atopischen Pruritus identifiziert, die bereits zur Entwicklung spezifischer n beigetragen haben (Antikörper gegen Interleukin-31-Rezeptor A). Induktion Pruritus wird durch mechanische, thermische, elektrische und hauptsächlich chemische Stimulation von kutanen sensorischen C-Fasern ausgelöst. Die freien Nervenendigungen dieser unmyelinisierten Nervenfasern in der Epidermis und oberen Dermis dienen als Prurizeptoren und können direkt, durch die Freisetzung von Mediatoren stimuliert werden. Die Liste der potenziellen Mediatoren ist lang, enthält aber sowohl Amine (Histamin, Serotonin), Proteasen (Papain, Kallikrein, Tryptase, Mucunain), Neuropeptide (Substanz P, vasoaktives intestinales Polypeptid VIP, Calcitonin gene-related Peptide CGRP, Neurotensin, Melanozyten stimulierendes Hormon MSH), Bradykinin, Opioide (Enkephalin, Endorphin, Dynorphin), Acetylcholin, Arachidonsäuremetabolite (Prostaglandine), Interleukine (IL-2, IL-4, IL-6, IL-8, IL-31) und Wachstumsfaktoren (NGF, Neurotrophin-4) als auch Bestandteile von Blutplättchen (Endothelin-1) und von eosinophilen Granulozyten (Neurotrophine). An den freien Nervenendigungen sind spezifische, für Pruritus relevante Neurorezeptoren, wie zum Beispiel der Histamin- (H1), Capsaicin-Rezeptor (TRPV1), Varianten der Mas-related-G-Protein-gekoppelten Rezeptoren (Mrgpr) oder die Cannabinoid-Rezeptoren (CB1, CB2) entdeckt worden. Viele der Liganden wirken abhängig von der Freisetzung von Histamin (Neuropeptide); andere, wie Tryptase, binden an spezifische Rezeptoren der freien Nervenendigungen und verursachen direkt Pruritus. Einige dieser Substanzen, wie Prostaglandine (freigesetzt von Mastzellen) und # Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017 G. Plewig et al. (Hrsg.), Braun-Falco's Dermatologie, Venerologie und Allergologie, Springer Reference Medizin, DOI 10.1007/978-3-662-49546-9_34-2 1

2 S. Ständer 5 1 2 3 4 6,7 14 8 9 Abb. 1 Peripherer und zentralnervöser Leitungsweg von Pruritus. 1. Freie Nervenendigung (unmyelinisierte C-Fasern), 2. Epidermis, 3. Dermis, 4. subkutanes Fett, 5. peripherer Nerv, 6. Spinalganglion (Ort der Zellkerne des 1. Neurons), 7. primäres Neuron, 8. Rückenmark, 9. Hinterhorn, 10. Sekundäres Neuron, 11. Spinothalamischer Trakt, 12. Thalamus, 13. Sensomotorischer Kortex (postzentraler Gyrus), 14. Motorischer Kortex. Die Vergrößerung zeigt das Hinterhorn, wo die primären auf die sekundären Neurone verschaltet werden. Interneurone zwischen Schmerz-(blau) und Pruritusfasern (rot) können die Juck- Afferenzen hemmen Endorphine (freigesetzt von Entzündungszellen), induzieren oder modulieren den Pruritus kutan oder spinal. Histamin spielt eine wichtige Rolle, was insbesondere nach Entdeckung des Histamin-4-Rezeptors (H4) auf den T-Lymphozyten erkannt wurde, ist aber nicht der alleinige kutane Mediator von Pruritus. Seine untergeordnete Rolle in vielen pruritischen Dermatosen mag erklären, warum Antihistaminika so oft eine therapeutische Enttäuschung darstellen. 10 12 11 13 Weiterleitung Die afferenten Pruritusfasern der Haut bündeln sich in extrakutanen peripheren Nerven, die bis zum Spinalganglion und dann in das Hinterhorn des Rückenmarks ziehen. Dort werden sie auf ein zweites Neuron umgeschaltet, welches über den Tractus spinothalamicus zur kontralateralen sensomotorischen Region des Kortex zieht. Absteigende und parallele Fasern im Hinterhorn können sowohl inhibitorische als auch exzitatorische Funktionen übernehmen. Dies sind meistens myelinisierte, schmerzleitende Fasern, die die Aktivität der Pruritusneurone über zwischengeschaltete inhibitorische Interneurone unterdrücken. Bis vor Kurzem war es nicht möglich, die Schmerzfasern von den Pruritusfasern zu unterscheiden. Da die Reizschwelle für Pruritus niedriger liegt, wurde das Symptom lange Zeit als leichtgradige Schmerzsensation angesehen. Es gibt jedoch neue Erkenntnisse, die für eine separate Natur des Pruritus sprechen. Zum Beispiel wurde der Gastrin-releasing-peptide-Rezeptor (GRPR) nur auf denjenigen spinalen Neuronen gefunden, die Jucken, nicht aber Schmerz vermitteln. Pruritusqualität Mucunain, ein Enzym aus den Härchen der Juckbohne, kann in der Haut Pruritus auslösen, ohne dass ein begleitendes Erythem entsteht. Im Unterschied dazu verursacht intrakutan verabreichtes Histamin immer die neurogene Entzündung mit Jucken, Erythem und Ödem. Capsaicin löst ebenfalls eine neurogene Entzündung aus, verbunden mit Brennen und gelegentlich auch Pruritus. Sind die Nozizeptoren Bradykinin oder einem Gewebeschaden infolge einer entzündlichen Dermatose ausgesetzt, verursacht Histamin, freigesetzt durch Iontophorese, vermehrt Brennen. Patienten berichten über unterschiedliche Pruritusqualitäten. Sie empfinden reinen Pruritus (Urtikaria), Pruritus in Verbindung mit Brennen und Stechen (atopische Dermatitis oder neuropathischer Pruritus) und Pruritus auslösbar durch mechanische Stimuli (cholestatischer Pruritus), elektrische Stimuli (Hydroxyethylstärke-verursachter Pruritus) oder durch Kontakt mit Wasser (Polyzythaemia vera). Es ist noch nicht gelungen, den verschiedenen Qualitäten die genauen zugrunde liegenden Pathomechanismen zuzuordnen. Jedoch sind die anamnestischen Angaben der Patienten für die Differenzialdiagnose der auslösenden Erkrankung nutzbar. Alloknesis Das Verstehen dieses Phänomens ist essenziell für die klinische Vorgehensweise bei Pruritus. Wird eine Quaddel durch Histamin induziert, löst sie einen lokalisierten und kurz andauernden Pruritus aus. Wenn das umgebende, erythematöse Areal einem Reiz ausgesetzt ist, der normalerweise keinen Pruritus auslöst (mechanischer Reiz), kann die Reizantwort ein schlecht lokalisierbares und persistierendes Jucken sein. Die erhöhte Fähigkeit der Haut, auf taktile Reize mit Pruritus zu reagieren, ist vermutlich bedeutend bei Pruritus in Verbindung mit Insektenstichen, Urtikaria, Xerosis und atopischem Ekzem. Alloknesis wird durch Nervenaktivität an der Ursprungsstelle unterstützt, kann mit Lokalanästhesie unterdrückt und durch Kühlen reduziert werden. Atmoknesis ist ähnlich, hierbei wird der Pruritus aber durch Exposition mit Luft ausgelöst. Kratzen Kratzen oder andere mechanische Reaktionen (Reiben, Scheuern, Kneifen) unterbrechen den Pruritus durch Unterdrückung der spinalen Pruritus-Weiterleitung mittels

Pruritus und Prurigo 3 einer dominanten Schmerzsensation. Spekuliert wird, dass Kratzen zur Aktivierung von spinalen Interneuronen führt, die durch die Ausschüttung von Dynorphin die Aktivität der Pruritusafferenzen hemmen. Bei forciertem Kratzen führt die Verletzung der Haut zur Entfernung der oberflächlichen Prurizeptoren, sodass das Signal Pruritus in der Haut nicht mehr entstehen kann. Allerdings kann die sekundäre Entzündung, ausgelöst durch Kratzen, und die kutane Freisetzung von Neuropeptiden aus den unmyelinisierten C-Fasern bei Entstehung des Signals Pruritus zusammen zu einem kutanen Kreislauf aus Jucken und Kratzen beitragen. Klinik Patienten empfinden chronischen Pruritus unterschiedlich in Intensität, Qualität und Verlauf; jedoch meist einheitlich in den Folgen wie Einfluss auf Schlaf und Lebensqualität. Chronischer Pruritus kann den Schlaf stören und zu physischer und emotionaler Erschöpfung führen. Bei Kindern kann durch Schlafstörung die schulische Leistung und die normale Entwicklung behindert werden. Ebenso wie Patienten mit chronischen Schmerzen haben Patienten mit chronischem Pruritus ein reduziertes Wohlbefinden, ein beeinträchtigtes soziales, familiäres und berufliches Leben und eine verminderte Leistungsfähigkeit. In extremen Fällen besteht sogar die Gefahr eines Suizids. Pruritus wird vom Umfeld mitunter als gesellschaftliches Stigma betrachtet; vielleicht in Verbindung mit Parasitenbefall und mangelnder Sauberkeit gebracht, sodass Patienten das Symptom leugnen, nicht als krankhaft wahrnehmen und stattdessen ein Brennen, Kribbeln oder eine Trockenheit beschreiben. Die Beschreibung des Problems durch den Patienten kann sehr variabel sein. Pruritus kann generalisiert, lokalisiert oder an täglich wechselnden Lokalisationen auftreten. Er kann plötzlich verschwinden, sich allmählich verschlimmern oder kontinuierlich präsent sein. Manchmal nimmt das Symptom bei einem Temperaturanstieg, beim Schwitzen oder nach Säuberung der Haut (Duschen mit Verwendung von Seifen) zu. Bei manchen Erkrankungen, wie dem atopischen Ekzem, wird so lange an der pruritischen Hautläsion gekratzt, bis sie entepithelialisiert und der Pruritus beseitigt ist. Trotzdem kann sich das Jucken in der umgebenden Haut durch das Kratzen verstärken; dies ist das typische Szenario beim atopischen Ekzem. Einige Pruritusformen tauchen nur am Abend auf; dies ist oft bei Skabies oder dem cholestatischen Pruritus der Fall. Sowohl die Wärme im Bett als auch der Mangel an ablenkenden Reizen tragen möglicherweise zu diesem Phänomen bei. Die komplexe Natur des Pruritus, das Vorhandensein von Alloknesis und die Möglichkeit einer peripheren und zentralen Modulation erklären die höchst variablen Parameter wie Klinik und Verlauf des Pruritus. Juckende Haut kann aufgekratzt, gescheuert, aufgeschürft, gepresst oder gekühlt werden. Das Kratzen kann zu einem akuten oder chronischen Hautschaden und einer Entzündung führen. Kratzläsionen werden in den Bereichen der Haut gefunden, die mit den Fingernägeln leicht erreicht werden können. Somit ist in vielen Fällen der mittlere Rücken ausgespart (Schmetterlingszeichen). Bei akuten Kratzläsionen finden sich parallele Kratzexkoriationen; initial bluten die Läsionen, später sind sie verkrustet. Eine Impetiginisation ist nicht ungewöhnlich, und eine Ausbreitung der Infektion auf andere Areale kann die Folge persistierenden Kratzens sein. Chronisches Kratzen oder Reiben hinterlässt seine Zeichen in Form von linearen Narben, Hyperpigmentierung, Hypopigmentierung und Lichenifikation. In späten Stadien entwickeln sich klinisch eigenständige Erkrankungen, wie Lichen simplex chronicus, chronische Prurigo und entweder Lichen amyloidosus oder makulöse Amyloidose (Kap. Amyloidosen und Hyalinosen). Diagnostisches Vorgehen Pruritus kann durch internistische, neurologische, psychiatrische Erkrankungen oder entzündliche, infektiöse, autoimmune, genetische oder neoplastische Hauterkrankungen verursacht werden. Als Folge eines lang dauernden Bestehens kann Pruritus chronifizieren. Es gibt ähnliche Phänomene bei Schmerz und Pruritus wie die Allodynie und punktförmige Hyperalgesie beim Schmerz und Alloknesis und punktförmige Hyperknesis beim Pruritus. Somit scheint es wahrscheinlich, dass persistierender, chronischer Pruritus ein eigenständiges Symptom ist, das wie der chronische Schmerz das periphere und zentrale Nervensystem mit einbezieht. " Die Haut eines Patienten mit Pruritus kann unverändert sein, die zugrunde liegende systemische Erkrankung reflektieren, akute oder chronische Kratzläsionen aufweisen oder spezifische Zeichen einer Dermatose zeigen. Zum Beispiel kann Pruritus in Verbindung mit einer Virushepatitis (Hepatitis C) mit normaler Haut, ikterischer Haut, Kratzläsionen (Erosionen) oder sogar Lichen simplex assoziiert sein. Die Hautuntersuchung bietet normalerweise wenige Hinweise für die Ursache des Pruritus, sofern nicht Zeichen einer spezifischen Hauterkrankung vorhanden sind. So können Schwangerschaftspruritus (intrahepatische Schwangerschaftscholestase) und Pruritus infolge einer Hepatitis nicht anhand der Haut unterschieden werden. Einige stark juckende Hauterkrankungen sind fast nie exkoriiert, wie die chronische Urtikaria, Urticaria factitia oder Mastozytose. Bei diesen Erkrankungen greifen die Patienten auf Drücken, leichtes Reiben oder sogar Kühlen zurück. Schließlich verschleiern Kratzläsionen manchmal auch völlig die zugrunde liegende Dermatose, wie es beispielsweise bei der Skabies der Fall sein kann. In der Vergangenheit war chronischer Pruritus ohne Veränderungen an der Haut als Pruritus sine materia bekannt. Dieser Ausdruck wurde nicht einheitlich definiert und

4 S. Ständer Abb. 2 Klinische Gruppen bei chronischem Pruritus gemäß der Klassifikation. Die klinischen Bilder zeigen chronischen Pruritus bei nummulärem Ekzem, einen aquagenen Pruritus bei Polyzythämia vera mit JAK-2- Mutation sowie chronische Prurigo bei Diabetes mellitus entzündliche Haut Chronischer Pruritus Normale Haut Chronische Kratzläsionen Dermatose u. a. Internistische, neurologische, psychogene Erkrankung Dermatose oder internistische, neurologische, psychogene Erkrankung bezeichnete unter anderem einen Pruritus ohne Hautveränderungen, Pruritus unklarer Ursache, Pruritus systemischer Ursache oder einen psychogenen Pruritus. Die gegenwärtige klinische Klassifikation der Gesellschaft International Forum for the Study of Itch (IFSI) definiert diesen Typ von Pruritus als Pruritus auf primär unveränderter Haut. Die IFSI- Klassifikation konzentriert sich auf das klinische Bild und unterscheidet zwischen Veränderungen mit oder ohne primären oder sekundären Hautläsionen. Drei Gruppen wurden definiert: Pruritus auf primär veränderter Haut (Dermatosen) Pruritus auf primär unveränderter Haut Pruritus mit chronischen Kratzläsionen (beispielsweise Prurigo nodularis) Das Vorhandensein von Pruritus ohne Hautveränderungen und Pruritus mit chronischen Kratzläsionen erfordert eine ausführliche Suche nach einer zugrunde liegenden Ursache. Die differenzialdiagnostischen Hauptkategorien gemäß der IFSI-Klassifikation sind (Abb. 2): Dermatosen (einschließlich unsichtbarer Minimaldermatosen) Internistische Erkrankungen (insbesondere Blut-, Leber-, Nierenerkrankungen, Neoplasien) einschließlich des medikamentös induzierten Pruritus Neurologische Erkrankungen wie Notalgia paraesthetica, brachioradialer Pruritus Psychogene Erkrankungen (somatoformer Pruritus) Multifaktorieller Pruritus Pruritus unklarer Ursache Eine gezielte Anamnese kann Hinweise auf die Ursache des Pruritus geben. Wichtige Parameter sind die Intensität (erhoben anhand einer visuellen Analogskala oder numerischen Ratingskala), der zeitliche und lokalisationsbezogene Beginn und Verlauf sowie bekannte Auslöser (Wasser, Temperatur, Reiben, physische und emotionale Faktoren, Nahrungsmittel). Man muss sowohl nach Allergien, atopischer Diathese, vorbestehenden systemischen Erkrankungen, medikamentösen Behandlungen als auch nach Pruritus bei Familienmitgliedern oder Kontaktpersonen fragen. Die Anamnese kann ebenfalls Hinweise auf eine Grunderkrankung geben: Fieber, Nachtschweiß, Temperaturintoleranz, Polydipsie, Polyurie, entfärbter Urin, Inkontinenz, Menses, Schwangerschaft, Müdigkeit, Nausea, Erbrechen, Diarrhoe, Gewichtsverlust, Kopfschmerz, Schlaf, Stimmungslage und psychologische Störungen. Die dermatologische Untersuchung sollte präzise und vollständig, einschließlich von Haaren, Nägeln, Anogenitalregion und Mundschleimhaut durchgeführt werden. Geachtet werden sollte auf: Xerosis, Dermographismus, Pigmentveränderungen, sekundäre akute und chronische Kratzläsionen, Blässe oder Ikterus. Nagelveränderungen wie Onycholyse (Schilddrüsenerkrankung), Dystrophie (Lichen ruber) oder polierte Oberflächen (persistierendes Reiben) können ebenso hilfreich sein. Die allgemeine Untersuchung kann eine Lymphadenopathie oder Hepatosplenomegalie als Anzeichen für eine hämatologische Erkrankung, eine Hepatomegalie oder schmerzhafte Bauchdeckenspannung für Hepatitis oder

Pruritus und Prurigo 5 einen Exophthalmus als Hinweis für eine Hyperthyreose aufdecken. Die folgende laborchemische Vorgehensweise wird durch die aktuelle deutsche AWMF-S2k-Leitlinie (www.awmf.org) bei Vorliegen eines chronischen Pruritus bei unbekannter Grunderkrankung empfohlen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass die schrittweise Durchführung der laborchemischen und radiologischen Diagnostik effektiv ist. Somit werden routinemäßig angewandte Screeningverfahren mit spezialisierten Tests kombiniert, die aufgrund der Anamnese und des klinischen Verlaufs ausgewählt werden. Initiale Untersuchungen Zunächst sind folgende Untersuchungen angezeigt: Blutsenkungsgeschwindigkeit (BSG) und C-reaktives Protein (CRP) Blutbild mit Differenzialblutbild, Ferritin Kreatinin, Harnstoff, errechnete glomeruläre Filtrationsrate (egfr), K +, Urin (Streifentest) GGT, GOT, GPT, alkalische Phosphatase, Bilirubin Glukose nüchtern, gegebenenfalls HbA 1C LDH, TSH Stuhluntersuchungen auf okkultes Blut Nur bei analem Pruritus: Wurmeier, Parasiten, PSA Ultraschall Abdomen und Lymphknoten, Röntgen-Thorax Bei Hautveränderungen: Bakteriologische und mykologische Abstriche Skabiesmilben-Nachweis Hautbiopsie (Histologie, Immunfluoreszenz, Elektronenmikroskopie) Pruritus in der Schwangerschaft: Bei unauffälligem Hautbefund: Basis-Labordiagnostik (siehe oben) plus Gallensäuren (nüchtern) Bei auffälligem Hautbefund: zusätzlich Dermatologische Untersuchung zum Ausschluss Polymorphe Eruption der Schwan-gerschaft (PEP), Pemphigoid gestationis Spezialisierte Tests Je nach initialen Befunden, Komorbiditäten und Anamnese: Bei Blutbildveränderungen bei Verdacht auf lymphoproliferative Erkrankungen: Vitamin B12, Folsäure, Eiweißelektrophorese, Immunfixation, JAK2- Status, Durchflusszytometrie, Knochenmarkpunktion. Bei pathologischen Leberwerten: Hepatitisserologie (anti- HVA-IgM, HBsAg, anti-hbc, anti-hcv), Gallensäuren, Antimitochondriale Antikörper (AMA), perinukleäre antineutrophile cytoplasmatische Antikörper (panca), Antinukleäre Antikörper (ANA), glatte Muskulatur-Antikörper (SMA), Lösliches Leberantigen-Antikörper (SLA), Liver-Kidney-Mikrosomale Antikörper (LKM), Gewebstransglutaminase-AK, Alpha- Fetoprotein (bei Leberzirrhose/hepatischer Raumforderung) " Die Herangehensweise an einen chronischen Pruritus unklarer Genese sollte interdisziplinär sein. Bei einem Patienten können sich eine oder mehrere Ursachen für den Pruritus in Form eines multifaktoriellen Pruritus finden. Insbesondere bei älteren Menschen können Xerosis, medikamentöse Behandlungen und Stoffwechselstörungen eine Rolle spielen, auch ein bösartiger Tumor. Außerdem sollten die Folgen des Pruritus (Schlafmangel, Unruhe, Ängstlichkeit, reaktive Depression) mit in die Betrachtung eingeschlossen werden, auch wenn sie nur als sekundäre Folge und nicht als primäre Ursache für den Pruritus angesehen werden. Nur wenn alle diagnostischen Maßnahmen ausgeschöpft worden sind und keine Ursache gefunden werden konnte, kann man von einem Pruritus unklarer Ursache (Pruritus of unknown origin = PUO) sprechen. Pruritus kann das erste, prämonitorisch auftretende Warnsignal einer (malignen) Grunderkrankung sein, sodass der Patient weiterhin beobachtet werden sollte. Zum Beispiel kann der aquagene Pruritus der Polycythaemia vera (Abb. 2) im Schnitt um bis zu 2 Jahre (bis zu mehreren Jahrzehnten) vorausgehen. " Cave: Pruritus unklarer Ursache sollte niemals die endgültige Diagnose sein. Der Patient sollte in regelmäßigen Abständen erneut untersucht werden, um zu sehen, ob die zugrunde liegende Ursache mittlerweile erkennbar ist. Die Behandlung der zugrunde liegenden Ursache ist der erste Schritt bei der des akuten und chronischen Pruritus. Die komplexe Neurophysiologie des chronischen Pruritus erklärt, warum er so schwierig zu behandeln ist und warum es fast immer einer Kombination von verschiedenen Maßnahmen bedarf. Bei Patienten mit trockener Haut sollte zunächst ein versuch mit einer rückfettenden Basistherapie erfolgen. Insbesondere in den Wintermonaten spielt Trockenheit der Haut fast immer eine Rolle. Topisch Die Trägersubstanz ist entscheidend bei der Behandlung des Pruritus. Gewöhnlich sind Lotionen, Cremes oder Lipolotionen, weniger Salben hilfreich. Bei Xerosis ist eine rückfettende Basistherapie unerlässlich. Urea ist nicht nur ein effektives Feuchtmittel, sondern hat auch einen direkten antipruritischen Effekt. Auch topische Anästhetika (Polidocanol) oder Menthol und Kampfer können kurzfristig antipruritische Eigenschaften entfalten. Kalte Duschen, Bäder oder feuchte Verbände helfen vorübergehend; es muss darauf geachtet werden, dass die Haut nicht austrocknet und sofort

6 S. Ständer rückgefettet wird. In lichenifizierten Arealen und bei chronischer Prurigo werden topische Steroide eingesetzt und erfordern möglicherweise einen Verband, um die Penetration zu verbessern. Wenn eine entzündliche Dermatose vorliegt, sind topische antiinflammatorische Mittel hilfreich, im Wesentlichen Glukokortikoide, aber auch Calcineurin-Inhibitoren. " Cave: Der längerfristige Einsatz von Präparaten mit einem hohen Kontaktallergiepotenzial, wie topisches Doxepin, sollte vermieden werden. Capsaicin ist eine sehr potente antipruritische Substanz. Das natürliche Alkaloid aus Chilischoten reduziert, topisch appliziert, die epidermalen Nervenfasern, depletiert das Neuropeptid Substanz P aus den afferenten Neurone und unterdrückt dadurch die Wahrnehmung von Jucken und Schmerz. Obwohl es ursprünglich bei Schmerzen eingesetzt wurde, wie bei der postzosterischen Neuralgie, kann Capsaicin bei verschiedenen Pruritusformen benutzt werden, solange die Haut intakt ist. Als Magistralrezeptur verordnet muss die Creme 4- bis 6-mal am Tag aufgetragen werden und verursacht initial Brennen und Stechen; dieses sind die Hauptfaktoren, die einen großflächigen Einsatz limitieren. Capsaicin- Creme kann in höheren Konzentrationen auch bei Lichen simplex chronicus und chronischer Prurigo verwendet werden. Wegen seines anfänglich irritierenden Effekts sollte Capsaicin zunächst in einer niedrigen Dosierung angewendet werden, die später erhöht werden kann. Aus diesem Grund ist eine Magistralrezeptur sinnvoll und ebenfalls kostengünstig. Üblicherweise wird mit einer 0,025 %igen Capsaicin-Creme begonnen und individuell bis auf 0,1 % pro Woche gesteigert. Capsaicin kann mit einer Reihe verschiedener Trägersubstanzen gemischt werden; ein standardisiertes Rezept in Deutschland ist unten aufgeführt. Reines Capsaicin ist sehr teuer, sodass der standardisierte und günstige Extrakt als Grundlage genommen werden sollte. Alternativ stehen wenige kommerzielle Cremes mit fixer Konzentration zur Verfügung. Rezeptur für 0,025 %/0,05 %/0,1 % Capsaicin-Creme (Haltbarkeit 6 Monate): Capsaicinextrakt (1 %): 2,5 g/5,0 g/10,0 g Basiscreme DAC: 50,0 g Propylenglykol: 10,0 g Wasser: ad 100,0 g Die topischen Calcineurin-Inhibitoren weisen ebenfalls einen hohen antipruritischen Effekt auf. In einigen Studien und Fallberichten wurde eine gute Verträglichkeit bei Patienten mit therapieresistentem Pruritus und Prurigo verschiedener Ursache genannt. Systemisch Generalisierter oder schwerer lokaler Pruritus bedarf normalerweise zusätzlich zu einer topischen auch einer systemischen Behandlung. Nichtsedierende Antihistaminika, zum Teil in Hochdosis, sind effektiv bei histaminvermitteltem Pruritus und bei der Urtikaria. Sedierende Antihistaminika, wie Hydroxyzin, sind wirksam bei pruritusinduzierten Schlafstörungen, werden jedoch zunehmend weniger aufgrund des Nebenwirkungsprofils empfohlen. Mastzellstabilisatoren, wie Ketotifen, können bei Neurofibromatose und nephrogenem Pruritus hilfreich sein. Trizyklische (Doxepin, Amitriptylin) und tetrazyklische (Mirtazapin) Antidepressiva, Neuroleptika (Promethazin) und selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (Paroxetin, Fluvoxamin) beeinflussen die zentrale Modulation des Pruritus. Alle sind mit zum Teil erheblichen unerwünschten Wirkungen verbunden und sollten vorsichtig, gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit einem Psychiater/Psychosomatiker, eingesetzt werden. Substanzen, die auf spinaler Ebene wirken, wie die Antikonvulsiva Gabapentin und Pregabalin, können ebenfalls wirkungsvoll bei chronischem Pruritus verschiedener Ursache angewendet werden. Wiederum sollten unerwünschte Wirkungen, wie eine Verschlechterung der Nierenfunktion und eines Diabetes mellitus, Gewichtszunahme und periphere Ödeme, bedacht werden. μ-opioid-rezeptorantagonisten vermitteln ihren antipruritischen Effekt durch die Unterdrückung der spinalen Pruritusweiterleitung ( chemisches Kratzen ) und inhibieren endogene Opioide, die an der zentralen Wahrnehmung von bestimmten Pruritusformen beteiligt sind. Parenteral (Naloxon i.v.) und oral (Naltrexon) verabreichte Formen sind am effektivsten bei cholestatischem Pruritus. Naltrexon kann ebenso bei anderen Formen von generalisiertem Pruritus, wie Mycosis fungoides, aquagenem Pruritus oder Pruritus unklarer Ursache eingesetzt werden. Unerwünschte Wirkungen wie Nausea, Schwindel und Müdigkeit sind häufig, normalerweise aber leicht und nur vorübergehend. Eine Tachyphylaxie kann durch Erhöhung der Dosis überwunden werden (initiale Dosis: 50 mg Naltrexon, kann auf bis zu 150 mg erhöht werden). Auch κ-opioid- Rezeptoragonisten haben einen antipruritischen Effekt, insbesondere bei nephrogenem Pruritus, sind jedoch in Europa nicht erhältlich. Systemische, antiinflammatorische Medikamente sind bei pruritischen, entzündlichen Dermatosen effektiv. Angewendet werden Ciclosporin A und Methotrexat bei der chronischen Prurigo. Auch Interferon-α bei Mastzellerkrankung, Dapson bei Dermatitis herpetiformis oder Retinoide bei Lichen ruber tragen zur Linderung des Symptoms bei. Physikalisch Eine Bestrahlung mit UVB (311 nm), UVA, UVA/UVB, UVA1 oder PUVA kann effektiv bei generalisiertem Pruritus sein. Etablierte Indikationen sind der nephrogene Pruritus und HIV/AIDS-assoziierte Pruritus. Ein Nutzen

Pruritus und Prurigo 7 kann aber auch bei älteren Patienten, bei denen sich eine systemische verbietet, einer Reihe pruritischer Dermatosen und auch bei systemisch induziertem Pruritus (Polycythaemia vera, Morbus Hodgkin) erzielt werden. UV-Bestrahlung kann oberflächliche Nozizeptoren beeinflussen, die Mastzellmembran stabilisieren oder pruritogene Serumfaktoren inaktivieren. Lokaler Pruritus kann, zumindest vorrübergehend, auf transkutane elektrische Nervenstimulation, kutane Feldstimulation (CFS) oder Akupunktur ansprechen. Zusätzliche Empfehlungen Der Patient sollte bestimmte Pruritus auslösende Faktoren meiden. Hierzu zählen trockene Haut (zu häufiges oder zu warmes Baden, Benutzung austrocknender topischer Medikamente), Kontakt mit irritierenden Substanzen, übermäßige Wärme, extreme Feuchtigkeit und durchblutungsfördernde Nahrungsmittel und Getränke (Alkohol und scharfe Gewürze). Synthetische Detergenzien sollten Seifen bevorzugt werden; Badeöle können, ebenso wie sofortige Rückfettung nach Wasserkontakt, hilfreich sein. Baumwollkleidung wird normalerweise am besten vertragen; Wolle und wasserabstoßende synthetische Fasern sollten vermieden werden. Stressvermeidung, autogenes Training, andere Entspannungstechniken, Verhaltenstherapie (habit reversal) und eine gezielte psychologische oder psychosomatische können Patienten mit chronischem Pruritus helfen, mit der Verarbeitung des Symptoms besser umzugehen. Aufklärung des psychosozialen beruflichen und privaten Umfelds können ebenfalls Verbesserungen bringen. 2 Krankheiten, die mit Pruritus assoziiert sind 2.1 Dermatosen Viele Hautkrankheiten weisen als ein Symptom Pruritus auf; bei einigen ist Pruritus ein Kardinalsymptom und immer vorhanden (atopisches Ekzem, Urtikaria) (Tab. 1; Kap. Atopisches Ekzem, Urtikaria und Angioödem). Andere Dermatosen zeigen Pruritus bei einem Großteil der Patienten (Psoriasis vulgaris). Einige Dermatosen sind klinisch gelegentlich dezent ausgebildet, entwickeln aber klinisch relevanten Pruritus (Mastozytose). Diese sind als unsichtbare Dermatosen bekannt und in Tab. 1 aufgelistet. Pruritus ist ein Kardinalsymptom des atopischen Ekzems. Die Patienten stellen sich häufig mit sekundär infizierten Exkoriationen vor. Zudem weisen einige Stigmata, wie polierte Nägel, auf den Pruritus hin. Einige stark pruritische Tab. 1 Pruritische Hautkrankheiten (nur die häufigsten), modifiziert nach der S2k Leitlinie Erkrankungsgruppe Erkrankung Entzündliche Dermatosen Asteatose Atopisches Ekzem Allergische und irritative Kontaktdermatitis Arzneimittelexantheme Exsikkationsekzem Lichen ruber Lichen sclerosus et atrophicus Mastozytose Morbus Grover Nummuläre und dyshidrotische Dermatitis Pityriasis rosea Polymorphes Exanthem der Schwangerschaft (PEP) Polymorphe Lichtdermatose Psoriasis vulgaris Seborrhoische Dermatitis Urtikaria Xerosis Infektionskrankheiten (zunächst akuter, gelegentlich auch chronischer Pruritus) Persistierende Arthropodenreaktion, Insektenstiche Follikulitis Pedikulose Skabies Virale, bakterielle und mykotische Erkrankungen Autoimmunerkrankungen und Genodermatosen Bullöses Pemphigoid Dermatitis herpetiformis Duhring Ichthyosen Neurofibromatose Porphyrie, erythropoetische Protoporphyrie kutane Lymphome Mycosis fungoides, insbesondere erythrodermische Form Sézary-Syndrom

8 S. Ständer Erkrankungen wie Skabies und Dermatitis herpetiformis Duhring zeigen regelmäßig Kratzläsionen wie Exkoriationen, da die primären Läsionen schnell zerstört sind. Oft geben die Prädilektionsstellen wertvolle Hinweise, wie die Interdigitalräume bei Skabies oder die Ellenbogen bei Morbus Duhring. Viele Erkrankungen mit chronischem Pruritus entwickeln Lichenifikationen oder chronische Prurigo. Beispielsweise gibt es eine pruriginöse Form des bullösen Pemphigoids und eine stark lichenifizierte Form des Lichen ruber (hypertropher Lichen ruber). Im Gegensatz dazu zeigt die Urtikaria fast nie Kratzläsionen. Follikulitiden sind oft pruritisch, insbesondere bei HIV/AIDS-Patienten. Der Pruritus bei den erythrodermischen Formen der kutanen Lymphome kann ein immenses Problem darstellen. Patienten mit Pruritus sollte auch auf Ektoparasiten untersucht werden (Kap. Epizoonosen). Obwohl Skabies mit Abstand am häufigsten vorkommt, gibt es viele andere Parasitosen, die Pruritus verursachen können. Pruritus im Nacken, oft mit Dermatitis assoziiert, deutet auf Pediculus humanus capitis hin, während diffuser Pruritus bei mangelnder Hygiene Pediculus humanus corporis repräsentieren kann (Vagabundenhaut). Pruritus in der Schamgegend erfordert eine Suche nach Phthirus pubis. Eine andere Möglichkeit ist das Auftreten von tierischen Ektoparasiten, entweder Flöhen oder Milben. Bei Patienten mit Haustieren und besonders bei Personen mit Kontakt zu Tieren im Beruf oder in der Freizeit hat die Untersuchung der Kontakttiere eine große Bedeutung. Eine tierärztliche Beratung ist oft hilfreich. 2.1.1 Unsichtbare Dermatosen Im deutschsprachigen Raum bekannt als minimale oder unsichtbare Dermatosen, können diese Erkrankungen symptomatisch sein, ohne jedoch klinisch in Erscheinung zu treten. Der pathophysiologische Prozess führt zu Pruritus vor dem Auftreten der dermatologischen Symptome oder bei nur minimalen Hautveränderungen. Das klassische Beispiel ist die Xerosis bei älteren Patienten, früher als Pruritus senilis bezeichnet. Dieser Terminus sollte heute vermieden werden. Die Xerosis wird unter anderem ausgelöst durch die reduzierte Fähigkeit der Epidermis Lipide zu produzieren, übermäßig warmes Baden, eine fehlende Rückfettung der Haut und eine reduzierte relative Luftfeuchtigkeit in geheizten Räumen. So verschlechtert sich der Pruritus oft im späten Herbst oder frühen Winter zu Beginn der Heizperiode, sodass der Ausdruck Pruritus hiemalis geprägt worden ist. Skabies zeigt sich oft bei Patienten mit adäquater Hygiene durch Pruritus, aber ohne eindeutige Befallszeichen (gepflegte Skabies). Die frühen Stadien von Morbus Grover, Dermatitis herpetiformis Duhring und bullösem Pemphigoids zeigen möglicherweise über Wochen oder Monate nur Pruritus, bevor die Hautveränderungen klinisch eindeutig sichtbar werden und die korrekte Diagnose gestellt werden kann. Beim Morbus Grover bestehen oft nur wenige, vereinzelt stehende Läsionen, die zu einem Pruritus des gesamten Rumpfs oder Körpers führen. Einige Fälle der Mastozytose haben entweder ausschließlich eine systemische Beteiligung oder nur sehr geringe Zeichen an der Haut. Sowohl die erythropoetische Protoporphyrie als auch die polymorphe Lichtdermatose können lichtinduzierten Pruritus ohne Hautveränderungen aufweisen. Einige Formen der Urtikaria können ebenfalls schwer zu erkennen sein. Solare, cholinerge und adrenerge Urtikaria sind oft so vorübergehend, dass der Pruritus das einzige Symptom darstellt. Bei der Urticaria factitia können die Patienten über Pruritus klagen, ohne ihre Hautläsionen zu bemerken. Ein besonderes Problem stellt der aquagene Pruritus oder die aquagene Urtikaria dar. Typischerweise haben diese Patienten einen intensiven Pruritus, der sich innerhalb Minuten nach Wasserkontakt entwickelt unabhängig von der Temperatur des Wassers oder der zugesetzten Inhaltsstoffe. Familiäre aquagene Urtikaria kann mit familiärer Laktoseintoleranz assoziiert sein. Erworbener, aquagener Pruritus ohne Urtikaria kann ein Anzeichen für Polycythaemia vera oder andere myeloproliferative Erkrankungen sein. 2.2 Systemische Erkrankungen Viele systemische Erkrankungen sind mit Pruritus assoziiert (Tab. 2). 2.2.1 Nephrogener Pruritus (urämischer Pruritus) Etwa 25 % der Patienten mit einer chronischen Nierenerkrankung oder hämodialysepflichtiger Niereninsuffizienz leiden an chronischem Pruritus. Der Pruritus ist unabhängig vom Alter, von der zugrunde liegenden Nierenerkrankung und Art der Dialyse. Er kann generalisiert oder lokalisiert auftreten. Der Ausdruck urämischer Pruritus ist nicht korrekt, da nur eine bedingte Korrelation zwischen dem Blut-Harnstoff- Spiegel und dem Pruritus besteht und einige Patienten, während oder kurz nach der Dialyse, bei idealen Harnstoffwerten im Blut über Juckattacken klagen. Die Ursache des nephrogenen Pruritus ist vermutlich multifaktoriell und ist ungeklärt. Die Xerosis, oft bei diesen Patienten beobachtet, scheint ein wichtiger Kofaktor zu sein. Einige Studien zeigen eine erhöhte intraepidermale Proliferation der Nervenfasern, erhöhte Anzahl an kutanen Mastzellen oder einen erhöhten Histaminspiegel, jedoch sind diese Ergebnisse nicht konsistent. Der Einfluss von Neuropathie, sekundärem Hyperparathyreoidismus, abnormen Magnesium-, Kalzium-, oder Phosphatspiegeln, abnormem Vitamin-A-Metabolismus und veränderten Porphyrinspiegeln bleibt spekulativ. Die Akkumulation von endogenen Opioiden oder anderen nicht näher bestimmten und nicht dialysierbaren Substanzen wurde als Auslöser einer zentralen Modulation des Pruritus vermutet.

Pruritus und Prurigo 9 Tab. 2 Pruritische systemische Erkrankungen, modifiziert nach der S2k Leitlinie Erkrankungsgruppe Erkrankung Endokrine und metabolische Erkrankungen Chronische oder dialysepflichtige Nierenerkrankungen (nephrogener Pruritus) Diabetes mellitus Hyper- und Hypothyreose Hyperparathyreoidismus Hepatopathien, mit/ohne Cholestase (cholestatischer Pruritus) (primär biliäre Cholangitis, primär sklerosierende Cholangitis, Hepatitis B/C, medikamenteninduzierte Cholestase, intrahepatische Schwangerschaftscholestase) Malabsorption (Essstörungen, glutensensitive Enteropathie) Perimenopausaler Pruritus Infektionen Helicobacter pylori HIV-Infektion Intestinale Parasitose (Gardia lamblia, Helminthen) Onchozerkose Hämatologische und lymphoproliferative Eisenmangel Erkrankungen Hämochromatose Hodgkin-Lymphom, Non-Hodgkin-Lymphom Hypereosinophilie-Syndrom Multiples Myelom Myeloproliferative Neoplasien (Polycythaemia vera, essenzielle Thrombozytose, systemische Mastozytose) Solide Tumoren Bronchial-, Zervix-, Kolon-, Gallengangs- und Gallenblasenkarzinom, Karzinoid, Prostata-, Pankreaskarzinom Neurologische Erkrankungen Brachioradialer Pruritus Multiple Sklerose Notalgia paraesthetica Postzosterische Neuralgie Psychiatrische/psycho-somatische Erkrankungen (Somatoformer Pruritus) Angststörungen Anorexia nervosa (BMI <16) Depression Halluzinationen (taktil) Schizophrenie Zwangsstörungen Sind kutane Läsionen vorhanden, sollten neben Xerosis und Kratzläsionen eine allergische Kontaktdermatitis (Sterilisationsgas, Ethylenoxid, Formaldehyd, Weichmacher, Latex) und eine Medikamentenallergie (Heparin) ausgeschlossen werden. Das therapeutische Vorgehen hängt von der Schwere des Pruritus ab. Das Dialyseprogramm sollte optimiert und verlängert und eine proteinarme Ernährung eingeleitet werden. Sekundärer Hyperparathyreoidismus sollte medikamentös oder chirurgisch behandelt werden. Den ersten Schritt stellt eine optimierte Hautpflege dar, die oft eine deutliche Verbesserung bringt. Gabapentin (300 mg, 3-mal pro Woche nach der Dialyse) oder Pregabalin (25 mg/tag oder 2-mal/Woche) zeigen einen deutlichen antipruritischen Effekt. Thalidomid (100 mg/tag) hat seine Befürworter, verursacht aber neben seiner Teratogenität bei vielen Personen irreversible Polyneuropathien, wenn es über einen längeren Zeitraum eingenommen wird. Auch wenn die Effektivität von Naltrexon (50 150 mg täglich) und Ondansetron (4 8 mg täglich) schwankend ist, sind sie in Einzelfällen hilfreich. Capsaicin ist ein topischer Ansatz. Der Effekt systemischer Antihistaminika ist in der Regel enttäuschend. Der κ-opioid-rezeptoragonist Nalfurafin hat sich in einer aktuellen Phase-III-Studie bewährt. Die Substanz ist in Europa nicht erhältlich. UVB-Bestrahlung ist hilfreich; der Patient sollte allerdings gewarnt werden, dass das Risiko für Hautkrebs bei einer eventuellen späteren Nierentransplantation und Immunsuppression erhöht ist. Oft spricht der Pruritus auf alle diese n nicht ausreichend an. 2.2.2 Cholestatischer Pruritus Pruritus ist ein sehr frühes Symptom der Cholestase und häufige Komplikation vieler erworbener oder angeborener (Morbus Alagille) Lebererkrankungen. Bei allen cholestatischen Lebererkrankungen wurde ein gemeinsamer Serummediator gefunden, das Autotaxin. Autotaxin (ATX) ist ein Membran Ektoenzym, das Funktionen in der neuronalen Entwicklung hat. ATX besitzt außerdem Lysophospholipase-D-Aktivität und spaltet Lysophosphatidylcholin zu Lysophosphatidsäure (LPA). Dementsprechend wurden auch erhöhte Mengen an LPA im Serum der cholestatischen Patienten mit Pruritus gefunden, was die Entwicklung einer gegen die Zielstruktur gerichteten erlaubt. Im All-

10 S. Ständer gemeinen ist der cholestatische Pruritus generalisiert und verschlechtert sich typischerweise unter enganliegender Kleidung oder während des Kratzens. Bei der primär biliären Cholangitis sind Pruritus und Müdigkeit bei etwa 80 % der Patienten vorhanden; diese Symptome können einem erhöhten Bilirubinspiegel vorausgehen. Die hormoninduzierte Cholestase ist häufig in der Schwangerschaft oder sogar bei der Menstruation. Sexualhormone und anabole Steroide verursachen ebenso eine Cholestase. Neben Autotaxin spielen endogene Opioide eine Rolle. Vermutlich führt eine verminderte hepatobiliäre Ausscheidung zu einer Ansammlung endogener Opioide, was die Effektivität von μ-opioid-rezeptorantagonisten (Naltrexon) erklären würde. Die Grunderkrankung muss diagnostiziert und behandelt werden. Liegt eine extrahepatische Stauung vor, muss möglicherweise ein Stent eingesetzt werden. Cholestyramin (4 16 g/tag), Rifampicin (150 600 mg/tag), Naltrexon (50 150 mg/tag) oder Naloxon (0,02 0,2 μg/kg/min i.v.) erzielen bei cholestatischem Pruritus einen antipruritischen Effekt (Indikationen: siehe Leitlinie). Cholestyramin wirkt durch die Unterbrechung der enterohepatischen Zirkulation von Gallensäuren; deshalb ist es bei einer vollständigen Stauung nicht wirksam. Eine Behandlung mit μ-opioid- Rezeptorantagonisten kann in einzelnen Fällen initial mit Opioidentzugserscheinungen einhergehen; hierbei ist eine schrittweise Erhöhung der Dosis zu empfehlen. Rifampicin ist in der Lage Leberenzyme zu induzieren. Andere Möglichkeiten stellen Sertralin, Ondansetron, UVB-Bestrahlung, Plasmapherese, eine nasobiliäre Drainage oder extrakorporale Albumindialyse (MARS) und als ultima ratio die Lebertransplantation dar. 2.2.3 Hämatologische und lymphoproliferative Erkrankungen Die zwei klassischerweise mit Pruritus verbundenen hämatolymphoproliferativen Erkrankungen sind Morbus Hodgkin und Polycytaemia vera, aber auch andere Erkrankungen können Jucken aufweisen. Die Polycythaemia vera geht in bis zu 50 % der Fälle mit schwerem, häufig aquagenem Pruritus einher. Erhöhte kutane Histaminspiegel und erhöhte Plättchenaggregation wurden lange als ätiologische Faktoren vermutet. Eine Mutation im Januskinase-2-Gen ist bei der Polycythaemia vera mit für den Pruritus verantwortlich und führt zu einer Vermehrung der CD63-positiven, eosinophilen und basophilen Granulozyten im Blut, die konstitutiv aktiviert werden und in der Haut die Degranulation der Mastzellen fördern. Bei Hodgkin-Lymphomen kann der Pruritus prämonitorisch oder im frühen Krankheitsverlauf auftreten und sich in dem durch den betroffenen Lymphknoten drainierten Areal oder generalisiert befinden. Er wird als schlechter prognostischer Faktor angesehen. Die Behandlung der Grunderkrankung ist entscheidend. Bei aquagenem Pruritus sind viele Substanzen (Azetylsalizysäure, Propranolol, Clonidin, Astemizol, Ibuprofen, Interferon-α) mit mäßigem Erfolg versucht worden. Bäder mit Natriumbikarbonat oder PUVA-Bestrahlungen scheinen am effektivsten. Pregabalin (150 300 mg/tag langsam eindosiert) ist eine weitere Option. Bei hämatologischen Erkrankungen zeigen Gabapentin und Paroxetin überzeugende Ergebnisse. 2.2.4 Neoplasien Solide Neoplasien können lokalisierten oder generalisierten Pruritus hervorrufen. So können Prostata-, Rektum- und Zervixkarzinome, spinale Gliome oder Neurofibrome lokalisierten oder generalisierten Pruritus verursachen. Auch Lungenund Pankreaskarzinome oder Karzinoidtumoren können generalisierten Pruritus auslösen. Der Pruritus bei malignen Neoplasien ist normalerweise so schwerwiegend, dass der Patient in kürzester Zeit ärztlichen Rat sucht. Zudem sind einige Hautkrankheiten, die Anzeichen von bösartigen Tumoren sein können, sehr pruritisch; zu dieser Gruppe gehört das bullöse Pemphigoid und Erythema gyratum repens. Eruptive Varianten der Acanthosis nigricans sind ebenfalls häufig pruritisch (Kap. Benigne epitheliale Tumoren). 2.2.5 Endokrine und metabolische Erkrankungen Eine Hyperthyreose kann zu generalisiertem Pruritus, assoziiert mit warmer und glatter Haut, aber auch zu Exkoriationen, chronische Prurigo oder sogar Urtikaria führen. Eine Hypothyreose kann ebenfalls mit Pruritus verbunden sein unter anderem sekundär durch die begleitende Xerose. Sekundärer Hyperparathyreoidismus scheint eine Rolle beim nephrogenen Pruritus zu spielen. Hormonelle Faktoren spielen eine Rolle bei postmenopausalem, genitalem Pruritus, bei dem Hormonsubstitution häufig eine effektive darstellt. Pruritus während der Schwangerschaft oder vor der Menstruation ist häufig mit Cholestase verbunden. Andere Ursachen für Pruritus umfassen Malabsorption, Anorexie, Mangelerscheinungen und die glutensensitive Enteropathie. Die Haut kann unverändert sein oder Lichenifikation und Prurigoknoten aufweisen. Eisenmangel kann, der Entwicklung einer Anämie vorausgehend, zu Pruritus führen; das Jucken kann generalisiert oder häufiger genitoanal vorliegen. Eine Substitutionstherapie führt zu sofortiger Verbesserung; das Ziel ist es, den Ferritinspiegel zu normalisieren. Bereits in der Frühphase eines Diabetes mellitus können Störungen der kutanen Nervenfunktionen im Sinne einer Kleinfaserneuropathie auftreten, die zu Jucken führen. Die Neuropathie kann

Pruritus und Prurigo 11 auch zu Schmerzen oder Taubheitsgefühl führen. Daher ist eine komplette Anamnese, neurologische Untersuchung und Bestimmung der Anzahl der kutanen Nerven per Biopsie hilfreich. 2.2.6 HIV-assoziierter Pruritus Eine HIV-Infektion sollte als Ursache eines Pruritus beziehungsweise einer chronischen Prurigo ausgeschlossen werden (Kap. HIV/AIDS). In dieser Patientengruppe finden sich viele dermatologische Ursachen für Pruritus, dazu gehören: Xerosis, Skabies, Demodex-folliculorum-Infektionen, andere Formen von Follikulitis und die seborrhoische Dermatitis. Oft ist die Dermatose relativ unauffällig, aber mit einem schweren Pruritus assoziiert, was vermutlich die immunologischen Störungen widerspiegelt. Bei niedrigen CD4-Werten kann Pruritus auf klinisch normaler Haut beziehungsweise als chronische Prurigo entstehen und das erste Anzeichen für HIV/AIDS sein. Der Pruritus kann ebenfalls während der Lymphozytenregenerationsphase infolge des Beginns der ART (antiretrovirale ) auftreten; jedoch ist auch beschrieben, dass sich Pruritus innerhalb von 2 Monaten nach Beginn der ART bessert. 2.2.7 Neurologische Erkrankungen Tumoren, Abszesse oder eine unzureichende Durchblutung des ZNS können Pruritus auslösen. Der Pruritus ist oft einseitig und kontralateral zur betroffenen Gehirnhälfte und wird normalerweise von anderen sensorischen Störungen begleitet. Multiple-Sklerose-Patienten können unter Schüben von paroxysmalem Pruritus leiden, assoziiert mit Schmerzen; Carbamazepin ist häufig effektiv. Pruritus kann mit verschiedenen Formen von Neuropathien und dem Restless-Leg-Syndrom assoziiert sein. Postzosterische Neuralgien weisen bei bis zu 48 % der Patienten Pruritus auf, der auf topisches Capsaicin, Cannabinoid-Rezeptoragonisten oder Gabapentin reagieren kann. Die Notalgia paraesthetica weist lokalisierten Pruritus auf dem Rücken auf, während der brachioradiale Pruritus an den Armen (Dermatom C5/C6) lokalisiert ist. Beide werden hauptsächlich durch Nervenkompression in Spinalnähe (Brachioradialer Pruritus) beziehungsweise der Rami posteriores der peripheren Nerven (Notalgia paraesthetica) verursacht (Kap. Hautveränderungen bei neurologischen Erkrankungen). 2.2.8 Somatoformer Pruritus Faktoren wie Angst, Stress oder Müdigkeit können Pruritus auslösen oder einen vorbestehenden Pruritus unterschiedlicher Ätiologie sekundär verstärken. Die Diagnose eines primären, somatoformen Pruritus durch eine Depression bedarf der Konsultation eines Psychiaters oder Psychosomatikers. Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen können über generalisierten oder lokalisierten (Kopfhaut, anogenital) auftretenden Pruritus klagen. Die Patienten können andauernden Pruritus oder paroxysmale Attacken beschreiben. Depressionen verursachen meistens konstanten Pruritus auf unveränderter Haut. Neurotische Störungen führen häufiger zu markanten Exkoriationen und artifiziellen Verletzungen insbesondere des Gesichts (Kap. Psychodermatologische Krankheitsbilder). Patienten mit taktilen Halluzinationen neigen dazu, häufiger einschießende Schmerzen, Krabbeln oder andere Sensationen anstatt Pruritus zu beschreiben. Pruritus ist in der Regel eine Nebenkomponente des Dermatozoenwahns. Der Patient sollte interdisziplinär behandelt werden. Psychopharmaka, Psychotherapie oder Verhaltenstherapie können versucht werden. Die des Dermatozoenwahns ist sehr schwierig und häufig nicht aussichtsreich (Kap. Psychodermatologische Krankheitsbilder). 2.2.9 Medikamentös induzierter Pruritus Pruritus als Nebenwirkung einer Medikamenteneinnahme muss abgegrenzt werden von Arzneimittelexanthemen (Kap. Kutane Arzneimittelreaktionen). Akuter und chronischer Pruritus ohne Auftreten eines Exanthems kann bei Einnahme einer Vielzahl von Arzneimitteln auftreten. Akuter Pruritus (Dauer <6 Wochen) tritt häufig nach Einnahme von Chloroquin oder Opioidanalgetika auf. Bei chronischem Pruritus werden zwei Gruppen unterschieden. Bei der ersten ist die Pathophysiologie des Pruritus bekannt und ein klarer anamnestischer Zusammenhang zwischen Applikation des Arzneimittels und Auftreten des Pruritus besteht. Zum Beispiel führt Hydroxyethylstärke (kolloidale Infusionen zur Hämodilution z.b. bei Hörsturz) über eine Einlagerung der Substanz in kutane Nerven zu einem Monate persistierenden, attackenartigen Pruritus. Die Attacken treten nach Druck, Berührung und anderen mechanischen Reizungen der Haut auf, was dazu führt, dass der Patient nicht kratzt, Berührung mit Kleidung vermeidet und nicht berufsfähig ist. Im Laufe der Zeit werden die Attacken kürzer und schwächer durch den Abbau der Substanz in den Nerven. Des Weiteren führen viele Medikamente, wie ACE-Hemmer oder Ibuprofen, zu einer Cholestase, die Pruritus induzieren kann. Andere Medikamente können chronischen Pruritus über unbekannte Mechanismen auslösen und werden der zweiten Gruppe zugeordnet. Hier besteht kein klarer anamnestischer Zusammenhang zwischen dem Beginn der Einnahme und dem Auftreten des Pruritus. Diese Gruppe umfasst eine große Anzahl von Arzneimitteln wie Allopurinol, β-blocker, Statine oder Citalopram (Auflistung der Medikamente siehe S2k-Leitlinie). Meist wird durch Arzneimittel ein generalisierter, gelegentlich ausschließlich genitoanal lokalisierter Pruritus induziert. Die Symptome können diskret sein.