Verhaltensauffällige Kinder: Wie sie sich selbst sehen und die Schule erleben Mar8n Venetz & Carmen Zurbriggen Hochschule für Heilpädagogik, Zürich Schweizer Heilpädagogik- Kongress 2011 31. August 2011, Bern
Fragestellungen 1. Ist auffälliges Verhalten ein homogenes oder heterogenes Phänomen? 2. Was für ein Selbstbild der Persönlichkeit haben Lernende, die durch ihr Verhalten auffallen? 3. Wie gut sind Lernende, die sich auffällig verhalten, aus ihrer eigenen Sicht in der Schule und in der Klasse integriert? 4. Wie erleben Lernende mit Verhaltens- auffälligkeiten den konkreten Unterrichtsalltag?
Frage 1: Ist auffälliges Verhalten ein homogenes Phänomen? Lassen sich basierend auf dem Urteil der Lehrpersonen innerhalb der Lernenden Prototypen mit charakteris8schen Verhaltens- profilen iden8fizieren? Falls ja: Wie viele Lernende umfassen die einzelnen Verhaltensprototypen? Sind die Geschlechter in den Prototypen unterschiedlich stark vertreten? Wie hoch ist der Anteil verhaltensauffälliger Lernender in den einzelnen Prototypen?
Datengrundlage Im Rahmen der HfH- Studie «Qualität des Erlebens von Lernenden in integra8ven und separa8ven Schulformen» wurden Lehrende und Lernende befragt. Gesamthab liegen die Einschätzungen von und zu (d.h. von den Lehrpersonen) 843 Lernenden aus 40 Regelklassen (85% der S8chprobe) und 22 Klassen nach besonderem Lehrplan vor.
Stärken und Schwächen des Verhaltens und Erlebens (SDQ- L) Dimension Merkmal Item- Beispiele (SDQ- L) Emo8onale Probleme Verhaltens- probleme Hyperak8vität Peer- Probleme Prosoziales Verhalten Ängste, psychosoma8sche Beschwerden und depressive S8mmungen dissoziales und deviantes Verhalten motorische Unruhe, Impulsivität Aufmerksamkeitsdefizite soziale Isola8on, bullying Hilfsbereitschab, Rücksichtnahme «hat viele Ängste», «klagt häufig über Kopf- oder Bauchschmerzen», «hat viele Sorgen» «streitet ob mit anderen Kindern», «lügt oder mogelt häufig» «unruhig, überak8v», «ständig zappelig», «denkt vor Handeln nach» (- ) «spielt alleine», «wird gehänselt», «bei Gleichaltrigen beliebt» (- ) «hilb anderen ob freiwillig», «teilt gerne», «rücksichtsvoll»
Prototypische Erlebens- und Verhaltensprofile "#$% "% &#$% 6!7,-1,% &%!&#$%!"%!"#$% '(')*+,-%./)%,01,-2'3454,-,2(,-%./)% 421,-2'3454,-,2(,-%./)% 89:*:2'3,%;-:<3,9,% =,->'31,25)-:<3,9,%?/),-'@*+41A1% ;,,-!;-:<3,9,% ;-:5:64'3,5%=,->'31,2%
Verteilung der Lernenden auf die drei Verhaltensprototypen (gesamt und nach Geschlecht) Prototyp adap8v externalisierend internalisierend männlich 211 46.6% 165 36.4% 77 17.0% Geschlecht weiblich 258 67.7% 46 12.1% 77 20.2% Gesamt 469 56.2% 211 25.3% 154 18.5% Gesamt 453 381 834
Anteil Lernende mit Verhaltensauffälligkeiten nach Prototyp Prototyp adap8v externalisierend internalisierend Klassifizierung unauffällig 469 100.0% 131 62.1% 127 82.5% Gesamt 727 87.2% auffällig 0 0.0% 80 37.9% 27 17.5% 107 12.8% Gesamt 469 100.0% 211 100.0% 154 100.0% 834 100.0%
Anteil Auffällige je nach Verhaltensprototyp?3@A27;2$6B9$!""$,'$ '"$ Referenzgruppe (n = 469)!""#"$ Gruppe 1 (n = 139) Gruppe 2 (n = 72)!,#'$ %,#($ )*#+$ )*#"$ )'$ %&#!$ '%#($ "$ -.-/0123$45/$ $67$8$&+(9$ 2:;237-<=>=2327.23$45/$ 67$8$)!!9$ =7;237-<=>=2327.23$45/$ 67$8$!'&9$ C7-CDE<<=F$6GHIJ4@;-<9$ F327AK230F$6GHIJ4@;-<9$ -CDE<<=F$6GHIJ4@;-<9$
Bilanz Frage 1 Auffälliges Verhalten ist ein heterogenes Phänomen: Unterscheidung von externalisierenden und internalisierenden Verhaltensauffälligkeiten. Externalisierendes Problemverhalten fällt (Lehrpersonen) stärker auf als internalisierendes. Knaben gehören deutlich häufiger als Mädchen zum externalisierenden Prototyp.
S8chprobe für die Datenanalysen Referenzgruppe (adap8ver Typ): Total 469 Lernende (55% weiblich) aus Klassen mit integra8ven (n = 427) und separa8ven (n = 42) Schulformen Gruppe 1 (externalisierender Typ, grenzwer8g bzw. auffällig): Total 139 Lernende (80% männlich) aus Klassen mit integra8ven (n = 105) und separa8ven (n = 34) Schulformen Gruppe 2 (internalisierender Typ, grenzwer8g bzw. auffällig): Total 72 Lernende (69% männlich) aus Klassen mit integra8ven (n = 50) und separa8ven (n = 22) Schulformen
Frage 2: Persönlichkeit Unterscheidet sich das Selbstbild der eigenen Persönlichkeit von als «verhaltensauffällig» klassifizierten Lernenden und Lernenden der Referenzgruppe?
Fünf- Faktoren- Modell («Big Five») der Persönlichkeit Dimension Merkmale Item- Beispiele (MRS- Skalen) Emo8onale Stabilität Extraversion Offenheit für Erfahrung Verträglich- keit Gewissen- habigkeit Anpassung vs. emo8onale Labilität (Angst, Traurigkeit, nervöse Anspannung) Quan8tät & Qualität interpersonaler Interak8onen, Ak8vitätsniveau Proak8ve Suche nach und Wertschätzung von Erfahrungen, Toleranz gegenüber Neuem Qualität interpersonaler Interak8onen Mass an Organisa8on, Ausdauer und Mo8va8on bei zielgerichtetem Verhalten «ängstlich ruhig» «furchtsam mu8g» «schweigsam gesprächig» «verschlossen offen» «unkrea8v krea8v» «phantasielos phantasievoll» «grob höflich» «streitsüch8g friedfer8g» «unsorgfäl8g gründlich» «unachtsam ordentlich»
Selbstbeschreibung der Persönlichkeit von als «verhaltensauffällig» klassifizierten Lernenden und Lernenden der Referenzgruppe im Vergleich "#$& "&!"#$& ;8-</5/90<-1&!"#,&!"#%&!"#+&!"#$%&!"#$'&!"#$'&!"#+*&!"#%'&!"#()&!"#$%&!"#'*&!"#,$&!*&!*#"$&!*#$& -./-0123454-0-16&2789334:& 41/-0123454-0-16&2789334:& ;=>?>123-&@/2A434/9/& ;./02B-054>1& C8-1D-4/& E-0/09:34FD<-4/& G-H455-1D2I4:<-4/&
Bilanz Frage 2 Urteile von Lehrpersonen über das Verhalten von Lernenden und ihre Selbstbeschreibungen der Persönlichkeit s8mmen recht gut überein: Auffällige Lernende des externalisierenden Typs beschreiben sich (im Vergleich zu solchen des adap8ven Typs) als deutlich weniger liebenswürdig und gewissenhab. Auffällige Lernende des internalisierenden Typs beschreiben sich (im Vergleich zu solchen des adap8ven Typs) als deutlich weniger extraver8ert und emo8onal stabil.
Frage 3: Schulisches Integriert- Sein Unterscheidet sich das habituelle schulische Integriert- Sein von als «verhaltensauffällig» klassifizierten Lernenden und Lernenden der Referenzgruppe?
Dimensionen schulischen Integriert- Seins Integra:ons- dimension emo8onal sozial kogni8v Merkmale Wohlbefinden in der Schule, posi8ve Einstellung Posi8ve Beziehungen zu anderen Kindern in der Klasse Posi8ves akademisches Fähigkeitsselbstkonzept, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten Item- Beispiele (FDI) «Ich gehe gern in die Schule.» «Die Schule macht Spass.» «Ich habe sehr viele Freunde in meiner Klasse.» «In unserer Klasse sind wir alle gute Freunde.» «Ich kann auch sehr schwierige Aufgaben lösen.» «Ich lerne schnell.» mo8va8onal Lern- und Leistungsziele [kommt später]
Schulisches Integriert- Sein von als «verhaltensauffällig» klassifizierten Lernenden und Lernenden der Referenzgruppe im Vergleich "#,& "&!"#,&!"#'(& ;8-</5/90<-1&!"#%&!"#)&!"#(&!"#$%&!"#)%&!"#$(&!"#+*&!'&!'#,&!'#"*& -./-0123454-0-16&2789334:& 41/-0123454-0-16&2789334:& -=>?>123-&@1/-:02?>1& 5>A423-&@1/-:02?>1& <>:14?B-&@1/-:02?>1&
Nebenfrage Hat die Schulform (integra8v vs. separa8v) einen Effekt auf das emo8onale, soziale und kogni8ve Integriert- Sein in der Schule/Klasse?
Sta8s8sch bedeutsame Effekte der Schulform auf die Selbsteinschätzungen in den Integra8onsdimensionen &#$"!"#$%&'()*+,'-.$'.,/!'$+) &#!$" 89'03-:1;30<365" &"!#%$"!#$"!#!$"!" '(')*+",-',./0012" 34536-'0171363-("',./0012" 1-536-'0171363-("',./0012" 1-5326'*+3"8=>,0?@6:3-" 73)'6'*+3"8=>,0?@6:3-"
Lern- und Leistungsmo8va8on Zielorien:erungen Umschreibung Lernziele Annäherungs- Leistungsziele Vermeidungs- Leistungsziele eigene Kompetenzen steigern eigene Kompetenzen demonstrieren fehlende Kompetenzen verbergen Arbeitsvermeidung Anstrengung und Arbeit vermeiden Beispiels- Items (SELLMO) «In der Schule geht es mir darum,...» «... neue Ideen zu bekommen.» «... komplizierte Inhalte zu verstehen.» «... zu zeigen, was ich kann und weiss.» «... bessere Noten zu bekommen als andere.» «... mich nicht zu blamieren.» «... nicht durch dumme Fragen aufzufallen.» «... keine schwierigen Tests oder Arbeiten zu haben.» «... mit wenig Arbeit durch die Schule zu kommen.»
Zielorien8erungen von als «verhaltensauffällig» klassifizierten Lernenden und Lernenden der Referenzgruppe im Vergleich "#)& ;8-</5/90<-1& "#,& "#(& "#+& "& "#%(& "#$)& "#($& "#%(& "#*'& "#+,&!"#+&!"#%'&!"#(&!"#$%&!"#,& -./-0123454-0-16&2789334:& =>?@-/-1A-0B-4/-071:& F-0G-0:-1&?21:-316-0&=>?@-/-1A-1& 41/-0123454-0-16&2789334:& C-?>15/02D>1&E>1&=>?@-/-1A-1& H0G-4/5E-0?-4671:&
Bilanz Frage 3 Als «verhaltensauffällig» klassifizierte Lernende fühlen sich gesamthab betrachtet weniger gut in der Schule/Klasse integriert als solche des adap8ven Typs: Auffällige Lernende des externalisierenden Typs fühlen sich im Allgemeinen moderat weniger gut emo8onal, sozial, kogni8v und mo8va8onal integriert. Auffällige Lernende des internalisierenden Typs fühlen sich sozial und kogni8v deutlich weniger gut integriert und orien8eren sich moderat stärker an Vermeidungs- Leistungszielen.
Frage 4: Erleben im Unterricht Unterscheidet sich das emo8onale Erleben von als «verhaltensauffällig» klassifizierten Lernenden und Lernenden der Referenzgruppe im unmiuelbaren Unterrichtsalltag?
Circumplex- Modell affek8ver Zustände (Watson & Tellegen) Aktivierung + + Valenz
Circumplex- Modell affek8ver Zustände (Watson & Tellegen) Aktivierung + + Valenz
Circumplex- Modell affek8ver Zustände (Watson & Tellegen) Aktivierung + + Valenz
Circumplex- Modell affek8ver Zustände (Watson & Tellegen) Aktivierung + + Valenz
Circumplex- Modell affek8ver Zustände (Watson & Tellegen) Negative Aktivierung (NA) negativ aktiviert Aktivierung + Positive Aktivierung (PA) positiv aktiviert + Valenz negativ deaktiviert positiv deaktiviert
Experience Sampling Method (ESM) Technik zur Gewinnung von Daten zum Erleben im Alltag Grundidee: Capturing life as it is lived
Datengrundlage Mit Hilfe der Experience- Sampling- Method wurden total 9520 Momentaufnahmen emo8onalen Erlebens im unmiuelbaren Unterricht aufgenommen (davon 85.6% von Lernenden aus Regelklassen).
Experience Sampling Method (ESM): Ein Beispiel (" '" &" %" $" #"!" (" '" &" )*" +,-%(" )*"!!-+!" )*"!%-!,"./"!+-#,"./"!!-+("!"#$%&'()*+,-.)*"'./"!%-+," )/" +(-%%" )/"!!-#&" 3/4567".*" +0-#," 89" :9" ;"89" ;":9"!"#"$%&'()*+,-()"&.*" +,-!&".*"!+-$%" 12" +,-#(" 12"!+-#&" 12"!%-#,"! "#$$%&'! ()$*#++#!,-$%')#%$!./&!000! 12!,('! *34! 56! 7#.%&! 4#$#2! 8! 9/! 73! 4:!,#;$!'#<=>2%#?#&!,#;$!'#<=>2%#?#&! @! 9/!! 73A63! 45! 3B=>#2!'#?/>2$! +(C%&%#2$! D! 9/! 73A63! 45! '#+(=>$! '#2#=>&#$! E! F%!! 73! 75! 73!G*'#>B2$! H! F%!! 73! 75! I(*<(*J'(?#&!(*J'#<=>2%#?#&! K! F%! 73A"I! 45!,#;$!'#<=>2%#?#&! LF%20!F#C/)2($%#M! JN2!:*<<$#++*&'!,(J#+!?#(2?#%$#$! O! 9%! 73! 75! P*&Q#<2($<R(>+#&!'#<=>(*$! S! 9%!! "%'&(+!R#'#&!"$*&Q#&T+(&*C<$#++*&'!.#2T(<<$! U! F/! 73AV4! 75! V->&#!'#T*$G$! V4!G*'#>B2$! 8W! F/!! 73! 75! 9($>#$#<$! %" $" #"!" )*" +,-%(" )*"!!-+!" )*"!%-!,"./"!+-#,"./"!!-+("./"!%-+," )/" +(-%%" )/"!!-#&" 3/4567".*" +0-#," 89" :9" ;"89" ;":9".*" +,-!&".*"!+-$%" 12" +,-#(" 12"!+-#&" 12"!%-#,"! 88! F/!! 73! 4:! I(*<(*J'(?#&! "=>(=>!'#<T%#+$! 8@! 62!! 73A"I! 75! 9($>#!)/22%'%#2#&! 8D! 62!! 73! 75! G*C!7/22%'%#2#&!?#2#%$!'#C(=>$!./&!4(*<#!'#)/CC#&!! L#<!'(?!#%&#!"=>+-'#2#%M! 8E! 62! 63! 75! V#%=>#&(*J$2('!#2>(+$#&!
Aktuelles Befinden im Unterricht von als «verhaltensauffällig» klassifizierten Lernenden und Lernenden der Referenzgruppe im Vergleich "#$% "#&% "#'% 74)8+1+5,8)-% "#(% "%!"#(%!"#'%!"#&%!"#$% )*+),-./010),)-2%.345//06% 0-+),-./010),)-2%.345//06% 9:10;<)%=8;<0),3-6% >)6.;<)%=8;<0),3-6%?./)-@%
Nebenfrage Hat die Schulform (integra8v vs. separa8v) einen Effekt auf das aktuelle Befinden im Unterrichtsalltag?
Sta8s8sch bedeutsame Effekte der Schulform auf das aktuelle Befinden im Unterricht &#$"!"#$%&"'()%&*"+,-#' &#!$" 89'03-:1;30<3653" &"!#%$"!#$"!#!$"!" '(')*+",-',./0012" 34536-'0171363-("',./0012" 1-536-'0171363-("',./0012" 1-5326'*+3"8=>,0?@6:3-" 73)'6'*+3"8=>,0?@6:3-"
Bilanz Frage 4 Lernende mit Verhaltensauffälligkeiten erleben den Unterrichtsalltag weniger posi8v als solche des adap8ven Typs: Auffällige Lernende des externalisierenden Typs fühlen sich im Unterricht weniger wohl: Sie sind im Miuel mehr nega8v ak8viert sowie weniger posi8v ak8viert. Die Unterschiede zwischen auffälligen Lernenden des internalisierenden Typs und solchen des adap8ven Typs sind gering.
Abschliessende Bemerkungen Auffälliges Verhalten ist nicht immer augenfällig. Auffällige Lernende mit internalisierendem Verhalten fühlen sich sozial weniger gut integriert als solche mit externalisierenden. Auffällige Lernende mit externalisierendem Verhalten sind im Unterricht gestresster.