Lösungsskizze Fall 1 Liquorentnahme :

Ähnliche Dokumente
Arbeitsgemeinschaft Fall 1 : Liquorentnahme"

Übung zur Vorlesung im Öffentlichen Recht: Grundrechte und Verfassungsprozessrecht Wiss. Mitarbeiterin Andrea Löher Universität Trier

Aufbau Verfassungsbeschwerde. Die Verfassungsbeschwerde hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.

AG STAATSRECHT II - GRUNDRECHTE F AL L Z W AN G S M I T G L I E D S C H AF T

Die Funktionen der Grundrechte

Modul 55104: Staats- und Verfassungsrecht

AG Staatsrecht II - Grundrechte. Korrektur Probeklausur, vgl. NJW 2011,

Online-Durchsuchung Lösungsskizze. Die Verfassungsbeschwerde des E hat Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.

Verfassungsbeschwerde. BVerfGE 6, 32.

Propädeutische Übung Verfassungsrecht, Grundkurs II Sommersemester A. Allgemeines

Atomkraft nein danke! Lösungsskizze. Vorab: Festlegung der zu prüfenden hoheitlichen Maßnahme: Verbotsverfügung

Deutsches Staatsrecht

SCHEMATA Staats- und Verfassungsrecht

Die VB wird Erfolg haben, wenn sie zulässig und begründet ist. A. Zulässigkeit

Modul 55104: Deutsches und Europäisches Verfassungsrecht

Arbeitsgemeinschaft zum Grundkurs Öffentliches Recht II. Fall 8: Online-Durchsuchung

Konversatorium zum Grundkurs Öffentliches Recht II Grundrechte Fall 5: Obligatorische Zivilehe

Fall 4 Habeas Corpus

Rep.-Kurs Öffentliches Recht Einheit 4: Einführung in das Staatsrecht II

I. Zuständigkeit des BVerfG, Art. 93 I Nr. 4 a GG, 13 Nr. 8a BVerfGG. II. Beschwerdefähigkeit, Art. 93 I Nr. 4 a GG, 90 I 1 BVerfGG

A. Zulässigkeit I. Zuständigkeit des BVerfG II. Beteiligtenfähigkeit, 90 I BVerfGG: Jedermann III. Tauglicher Beschwerdegegenstand, 90 I BVerfGG

Modul 55104: Deutsches und Europäisches Verfassungsrecht

Denkmalschutz - mögliche Lösung. Die Verfassungsbeschwerde der D-AG hat Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.

Dr. Angelika Günzel, Wiss. Mitarbeiterin Sommersemester Lösung zu Fall 1

O. Die Versammlungsfreiheit gem. Art. 8 GG

Konversatorium zum Grundkurs Öffentliches Recht II Grundrechte. Fall 2: Soldaten sind potentielle Mörder!

AG Staatsrecht II - Grundrechte

» Struktur der Grundrechtsprüfung (Freiheitsrechte)

Modul 55104: Staats- und Verfassungsrecht

Arbeitsgemeinschaft zum Grundkurs Öffentliches Recht II. Fall 6: Deutschland muss sterben

Lösungsvorschlag: Akupunktur

Arbeitsgemeinschaft zum Grundkurs Öffentliches Recht II. Fall 5: IM-Sekretär

Arbeitsgemeinschaft zum Grundkurs Öffentliches Recht II. Fall 9: Wolf im Schafspelz

Fall Rauchverbot mögliche Lösung. Die Verfassungsbeschwerde des A hat Erfolg, soweit sie zulässig und begründet ist.

Übung zur Vorlesung Öffentliches Recht - Grundrechte und Verfassungsprozessrecht - Lösung zu Fall 4

Teil 1 - Fall: Die Freiexemplare. Die VerfB des VK beim BVerfG hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.

Freiheitsgrundrechte Gleichheitsgrundrechte Teilhaberechte. Grundrechtsfunktionen

Arbeitsgemeinschaft zum Grundkurs Öffentliches Recht II. Fall 3: Schulsport

Leseprobe Text. III. Rechtfertigung des Eingriffs

Prof. Dr. Meinhard Schröder Wintersemester 2009/2010 Universität Trier. Lösung Probeklausur

Musterlösung. Der Oberbürgermeister ist für mich der größte Dilettant! Er verscheuert das Tafelsilber der Stadt!

Arbeitsgemeinschaft zum Grundkurs Öffentliches Recht II. Fall 10: Abbruchreif. Sommersemester 2016

I. Zuständigkeit des BVerfG, Art. 93 I Nr. 4 a GG, 13 Nr. 8a BVerfGG. II. Beschwerdefähigkeit, Art. 93 I Nr. 4 a GG, 90 I 1 BVerfGG

Fall 9: Solidarfonds Lösungshinweise. II. Beschwerdeberechtigung Jedermann i.s. des Art. 93 Nr. 4a GG und des 90 I BVerfGG A-GmbH Art.

Vorlesung Staatsrecht II (Grundrechte)

Fallbesprechung. Grundkurs Öffentliches Recht III. Grundrechte

Arbeitsgemeinschaft zum Grundkurs Öffentliches Recht II. Fall 7: Kassenarztzulassung. Sommersemester 2016

Fallbesprechung zum GK ÖR III

Die Verfassungsbeschwerde

Prof. Dr. Christoph Gröpl Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, deutsches und europäisches Finanzund Steuerrecht

Fall 8. Lösungsskizze Fall 8. - Begründetheit der Verfassungsbeschwerde?

Die Verfassungsbeschwerde müsste zulässig sein.

Meinungsfreiheit für alle? Lösungsskizze

Fall 2: Schmerzhafte Strafverfolgung

3: Aufbau und Schutz der Grundrechte

Crashkurs Strafrecht Sommersemester 2017

I. Prozessgrundrechte

3: Aufbau und Schutz der Grundrechte

Die Verfassungsbeschwerde hätte Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet wäre.

Vorlesung Staatsrecht II

Grundkurs Öffentliches Recht II. Staatsrecht II - Grundrechte. Prof. Dr. Kyrill-A. Schwarz Vertreten von Wiss. Mit. Mario Winzek

Erläutertes Aufbauschema zur Verfassungsbeschwerde

Die Reichweite des grundrechtlichen Abwehranspruchs

19 Allgemeiner Gleichheitssatz und spezielle Gleichheitsrechte. 1. Warum wird Art. 3 Abs. 1 GG als allgemeiner Gleichheitssatz bezeichnet?

Übung im Öffentlichen Recht für Anfänger

Die 32 Fälle. Staatsrecht. wichtigsten nicht nur für Anfangssemester. Hemmer / Wüst. einfach l verständlich l kurz

Öffentliches Recht. WS 2009/010 Bachelor- Studiengang Wirtschaft und Recht

AG Grundrechte SS 2015, 1. Termin, , Wiss. Mit. Dominik Wedel - Einführung in die Prüfungsdogmatik der Grundrechte -

Das BVerfG ist für die Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 I Nr. 4a GG, 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG zuständig.

Arbeitsgemeinschaft Staatsrecht. Wiss. Mit. Anna Mrozek Lehrstuhl Prof. Dr. Christoph Enders. Fall 02 - "Nix is!" LÖSUNGSKIZZE

Deutsches und Europäisches Verfassungsrecht

AG im Staatsrecht II - Grundrechte. Fall 3 Elfes-Urteil (nach BVerfGE 6, 32 ff.)

Das Grundgesetz enthält einen Grundrechtskatalog Art GG -, sowie einige grundrechtsgleiche Rechte wie Art. 20 IV, 33, 38, 101, 103, 104 GG.

AG Grundkurs Öffentliches Recht II Teil 2 Jennifer Ricketts, Wiss. Mit. (LS Wollenschläger) Fall 9 - Folien Wintersemester 2012/13

1. Teil: Hinweise zur Erstellung einer Grundrechts-Klausur Abschnitt: Erfassen von Sachverhalt und Fallfrage...1

9: Gleichbehandlung und Gleichberechtigung

Grundrechtsgewährleistungen und Grundrechtsbeschränkungen

Modul 55104: Deutsches und Europäisches Verfassungsrecht

Besprechung der Klausur zur Vorlesung Grundrechte WS 2012/2013

Universitätsrepetitorium Öffentliches Recht Dienstag, den 10. Januar 2006

Fall 3: Wahlprüfungsbeschwerde - Lösungshinweise. Die Wahlprüfungsbeschwerde des W hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.

Fallbesprechung Grundrechte. Fall 7 Burkini

GRUNDRECHTE Funktion Gewährleistungen Beschränkungen

Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Bundesgesetze vor Inkrafttreten

Fall 4 Prüfungsrecht des Bundespräsidenten. Lösungshinweise

Kapitel I: Grundrechte Fall 1: Freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 I GG)

Der Ausschluss vom Unterricht ist weder im SchulVG noch in der Allgemeinen Schulordnung geregelt.

Judith Burgmann. Bekleidungsvorschriften an öffentlichen Schulen in Nordrhein-Westfalen

Inhaltsverzeichnis. C. Allgemeine Grundrechtslehren (Grundrechtsfunktionen) 18

A. Überblick: Wichtige Verfahrensarten im Staatsorganisationsrecht. Ausgangspunkt: Art. 93 GG, 13 BVerfGG

Einführung in die Grundrechten

Wiederholung. A. Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde. I. Zuständigkeit des BVerfG (Art. 93 I Nr. 4a GG, 13 Nr. 8a BVerfGG)

Examensrepetitorium Öffentliches Recht II Lösungsskizze Fall 8 - Sprayer von Göttingen -

ERASMUS-Tutorium SS 16 Grundrechte Katharina Baunach

Konversatorium Grundkurs Öffentliches Recht I -Staatsorganisationsrecht- Fall 4: Verlängerung der Legislaturperiode

Konversatorium zum Grundkurs Öffentliches Recht I Staatsorganisationsrecht. Fall 2: Wiedereinführung der Todesstrafe

Klausurfragestellungen im Öffentlichen Recht

Transkript:

Grundkurs Öffentliches Recht SoSe 2009 Prof. Dr. Moris Lehner Prof. Dr. Jens Kersten PD Dr. Mario Martini Lösungsskizze Fall 1 Liquorentnahme : Schwerpunkte des Falles: Aufbau der Grundrechtsprüfung, Recht auf körperliche Unversehrtheit, Zitiergebot, Verfassungsbeschwerde, Grundrechtsmündigkeit Zur Vertiefung: BVerfGE 16, 194 (Liquorentnahme); BVerfGE 17, 108 (Hirnkammerlüftung) Frage 1:... 2 A. Verletzung von Art. 2 Abs.2 S. 1 GG... 3 I. Schutzbereich... 3 II. Eingriff... 4 III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung... 5 IV. Ergebnis... 11 B. Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG?... 11 Frage 2:... 13 I. Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts... 13 II. Beschwerdefähigkeit... 13 III. Prozessfähigkeit... 13 IV. Beschwerdegegenstand... 14 V. Beschwerdebefugnis... 14 1. Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung... 14 2. Selbstbetroffenheit... 14 3. Gegenwärtige Betroffenheit... 15 4. Unmittelbare Betroffenheit... 15 VI. Rechtswegerschöpfung... 15 VII. Frist... 15 VIII. Ergebnis... 15

LUDWIG-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT MÜNCHEN SEITE 2 VON 15 Frage 1: Die richterliche Anordnung verletzt A in ihren Grundrechten, wenn sie einen Eingriff in eines der Grundrechte der A darstellt, der nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Exkurs: Hinweise zum Aufbau Prüfung eines Freiheitsrechts: Ein Freiheitsrecht ist verletzt, wenn ein Eingriff in den Schutzbereich vorliegt, der verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt ist. 1. Schutzbereich Fällt das reglementierte Verhalten in den Schutzbereich des Grundrechts? a) Persönlicher Schutzbereich Ist der Beschwerdeführer selbst geschützt? b) Sachlicher Schutzbereich Ist der geschützte Lebensbereich betroffen? 2. Eingriff Wird dem Beschwerdeführer ein vom Schutzbereich erfasstes Verhalten erschwert bzw. ganz oder teilweise unmöglich gemacht? - Klassischer Eingriffsbegriff - Moderner Eingriffsbegriff 3. Rechtfertigung Ist der Eingriff von den Schranken des Grundrechts gedeckt? a) Schranken aa) Verfügt das Grundrecht über eine Einschränkungsmöglichkeit? Einfacher Gesetzesvorbehalt Qualifizierter Gesetzesvorbehalt Kein Gesetzesvorbehalt, aber kollidierendes Verfassungsrecht

LUDWIG-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT MÜNCHEN SEITE 3 VON 15 Darüber hinaus stets zu beachten: Gesetzes- bzw. Parlamentsvorbehalt bb) Ist das einschränkende Gesetz seinerseits verfassungsgemäß? (1) Formelle Verfassungsmäßigkeit (2) Materielle Verfassungsmäßigkeit - Art. 19 I und II GG - Verhältnismäßigkeitsgrundsatz b) Schranken Schranken Verfassungsmäßigkeit des Einzelaktes, insbesondere Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips Hinweis zum Aufbau: Ebenfalls üblich ist es, die Verfassungsmäßigkeit des einschränkenden Gesetzes nicht unter dem Prüfungspunkt Schranken, sondern erst unter dem Prüfungspunkt Schranken-Schranken zu prüfen. Inhaltliche Unterschiede zur obigen Variante bestehen nicht. Entscheiden Sie sich in ihrer Falllösung frei für eine der beiden Aufbauvarianten und halten Sie diese durch. Thematisieren Sie aber nie die Wahl ihres Aufbaus selbst! A. Verletzung von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG A könnte durch die Anordnung zunächst in ihrem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verletzt sein. I. Schutzbereich 1. Sachlicher Schutzbereich Das Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG schützt in sachlicher Hinsicht die Gesundheit im biologisch-physiologischen Sinne. Davon umfasst sind die Freiheit von Schmerz und die körperliche Integrität. Durch die Liquorentnahme wird in jedem Fall die körperliche Integrität der A betroffen, der sachliche Schutzbereich des Art. 2 II 1 GG ist daher berührt.

LUDWIG-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT MÜNCHEN SEITE 4 VON 15 2. Persönlicher Schutzbereich Träger des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit ist jeder, also jede natürliche Person und damit auch die A. Auch der persönliche Schutzbereich des Grundrechts für A ist daher eröffnet. II. Eingriff Fraglich ist, ob auch ein Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit der A vorliegt. Unter einem Eingriff ist grundsätzlich eine staatliche Maßnahme mit freiheitsverkürzender Wirkung zu verstehen. Umstritten ist, welche zusätzlichen Anforderungen an diese Maßnahme zu stellen sind, um sie als Grundrechtseingriff zu qualifizieren. Nach dem klassischen Eingriffsbegriff ist unter einem Eingriff eine Freiheitsverkürzung zu verstehen, die - unmittelbar, - final, - imperativ und - normativ wirkt. 1 Unmittelbar ist die Freiheitsverkürzung, wenn sie ohne weitere Zwischenschritte die beeinträchtigende Wirkung auslöst. Final ist sie, wenn die Beeinträchtigung bezweckt ist und nicht nur eine reine Nebenfolge darstellt. Die Freiheitsverkürzung ist imperativ, wenn sie mit Befehl und Zwang durchgesetzt werden kann. Sie ist normativ, wenn sie mittels Rechtsakt erfolgt. Den klassischen Eingriffsbegriff erweitert der sog. moderne Eingriffsbegriff, dessen genaue Reichweite im Einzelnen aber umstritten ist. Unter den modernen Eingriffsbegriff fällt jedes staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht. 2 Darüber hinaus ist es erforderlich, dass die nachteilige Wirkung von einem ursächlichen und zurechenbaren Verhalten der öffentlichen Gewalt ausgeht. 3 Die Liquorentnahme an A beeinträchtigt ihre körperliche Unversehrtheit unmittelbar. Die Beeinträchtigung ist auch bezweckt und nicht lediglich Nebenfolge der Liquorentnahme. Sie ist mit Befehl und Zwang durchsetzbar. Die Anordnung erfolgt rechtsförmig durch 1 Vgl. Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG, Vorb. Art. 1, Rn. 124; Jarass/Pieroth, GG, Vorb. Art. 1, Rn. 25; Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, Rn. 228. 2 Vgl. Pioroth/Schlink, Staatsrecht II Grundrechte, Rn. 238; BVerfGE 105, 279 (299 ff.). 3 Vgl. Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen im Bereich der Grundrechte, 1970, S. 21 f.; Bethge, VVDStRL 57 (1998), 7 (40); zum Ganzen Lübbe-Wolff, Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988.

LUDWIG-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT MÜNCHEN SEITE 5 VON 15 Gerichtsentscheidung. Es liegt somit ein klassischer Eingriff vor, so dass die näheren Voraussetzungen eines Eingriffs im modernen Sinne hier dahinstehen können. III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Fraglich ist, ob der Eingriff gerechtfertigt ist. Dies ist der Fall, wenn sich der Eingriff auf eine taugliche gesetzliche Grundlage als Schranke stützen kann, die ihrerseits die Schranken-Schranken des Grundrechts wahrt, und der Eingriff selbst in verfassungsmäßiger Weise von der gesetzlichen Ermächtigung Gebrauch macht. 1. Schranken Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG stellt einen einfachen Gesetzesvorbehalt auf. Eine Einschränkung ist also aufgrund eines einfachen Parlamentsgesetzes möglich. a) Gesetzliche Grundlage Eine gesetzliche Grundlage für die Anordnung ist durch 81a StPO gegeben. Allerdings kann nicht jede gesetzliche Grundlage taugliche Schranke für ein Grundrecht sein, sondern nur eine verfassungskonforme gesetzliche Grundlage. Fraglich ist daher, ob 81a StPO formell und materiell verfassungsgemäß ist. b) Formelle Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlage ( 81a StPO) Anmerkung: Die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit des dem Eingriff zugrundeliegenden Gesetzes darf nicht verwechselt werden mit der Frage der Rechtfertigung des Eingriffs. Beides ist nur dann identisch, wenn der Eingriff unmittelbar durch das Gesetz selbst erfolgt. Von der formellen Verfassungsmäßigkeit des 81a StPO ist mangels anderweitiger Anhaltspunkte auszugehen. Anmerkung: Bei 81a StPO handelt es sich um ein vorkonstitutionelles Gesetz, das gem. Art. 123 Abs. 1 GG unter der Geltung des Grundgesetzes fortgilt. Für die Frage seines ordnungsgemäßen Zustandekommens ist das Grundgesetz daher nicht anwendbar. Prüfen Sie die formelle Verfassungsmäßigkeit eines vorkonstitutionellen Gesetzes daher nie am Maßstab des Grundgesetzes!

LUDWIG-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT MÜNCHEN SEITE 6 VON 15 c) Materielle Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlage ( 81a StPO) Fraglich ist, ob 81a StPO auch materiell verfassungsgemäß ist. Da die Grundlage für eine Einschränkung des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG bildet, muss sie den Schranken-Schranken genügen, die das Grundgesetz an eine solche gesetzliche Grundlage stellt. Hier kommen als einschlägige Schranken-Schranken die Wesentlichkeitstheorie, das Zitiergebot sowie das Verhältnismäßigkeitsprinzip in Betracht. aa) Wesentlichkeitstheorie Die sogenannte Wesentlichkeitstheorie ist unmittelbarer Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips und des Demokratiegebots nach Art. 20 Abs. 1, 2, bzw. Art. 20 Abs. 3 GG. Sie verpflichtet den parlamentarischen Gesetzgeber, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen. 4 Die wesentlichen Entscheidungen über die Voraussetzungen, Umstände und Folgen eines Grundrechtseingriffs müssen daher vom Gesetzgeber selbst getroffen werden, wobei sich die Wesentlichkeit der Entscheidung nach der Intensität bemisst, nach der die Grundrechte betroffen sind. 5 Im vorliegenden Fall bestimmt 81a StPO, dass körperliche Eingriffe nur zur Feststellung von Tatsachen angeordnet werden dürfen, die für das Strafverfahren von Bedeutung sind, und nur beim Beschuldigten vorgenommen werden dürfen. Als weitere Voraussetzung normiert die Vorschrift, dass kein Nachteil für die Gesundheit des Betroffenen zu befürchten sein darf. Die Durchführung der Maßnahme wird insofern festgelegt, als sie nur von einem Arzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst zu Untersuchungszwecken vorgenommen werden darf. Voraussetzungen, Umstände und Folgen des Grundrechtseingriffs sind daher vom Gesetzgeber so genau bestimmt, wie dies angesichts der Vielzahl unterschiedlicher Fälle notwendig ist, die von einer derartigen Bestimmung erfasst sein müssen. Die Erfordernisse der Wesentlichkeitstheorie wurden daher durch 81a StPO eingehalten. bb) Zitiergebot Fraglich ist, ob darüber hinaus auch die Anforderungen des Zitiergebots nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 eingehalten wurden. Danach muss ein Gesetz, durch das oder aufgrund dessen ein Grundrecht eingeschränkt werden kann, das Grundrecht unter Angabe 4 BVerfGE 49, 89 (126); 61, 260 (275); 83, 130 (142). 5 Vgl. Pieroth/Schlink, Staatsrecht II Grundrechte, Rn. 266.

LUDWIG-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT MÜNCHEN SEITE 7 VON 15 des Artikels nennen. Die StPO nennt in keiner Vorschrift den Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG als eingeschränktes Grundrecht. Fraglich ist allerdings, ob das Zitiergebot hier überhaupt Anwendung findet. Dafür wäre nämlich erforderlich, dass das Zitiergebot auf das eingeschränkte Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG sowie auch auf das entsprechende Gesetz, hier also auf 81a StPO Anwendung fände. Das Bundesverfassungsgericht legt Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG in ständiger Rechtsprechung eng aus, damit das Zitiergebot nicht den Gesetzgeber in seiner Arbeit behindert 6. Am Wortlaut orientiert hält es das Zitiergebot daher von vorne herein nur auf solche Grundrechte für anwendbar, die aufgrund ausdrücklicher Ermächtigung vom Gesetzgeber eingeschränkt werden können. 7 Das Zitiergebot gilt daher nur dort, wo sich bereits im Schrankenvorbehalt des Grundgesetzes der Wortlaut des Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG wiederfindet, dass das Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann. Da ausdrücklich des Wortlauts des Art. 2 Abs. 2 S. 3 in das Recht auf körperliche Unversehrtheit nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden kann, findet das Zitiergebot auf dieses Grundrecht Anwendung. Fraglich ist jedoch, ob das Zitiergebot auch auf 81a StPO anwendbar ist. Das Zitiergebot kann nämlich von vorne herein nur von solchen Gesetzen erfüllt werden, die unter Geltung des Grundgesetzes erlassen wurden, da erst ab diesem Zeitpunkt die Zitieranordnung an den Gesetzgeber Wirkung entfaltete. Vorkonstitutionelle Gesetze sind vom Anwendungsbereich des Zitiergebots somit von vorne herein nicht erfasst. Darüber hinaus wird das Zitiergebot aber auch dann nicht angewandt, wenn ein Gesetz vorkonstitutionelle Grundrechtsbeschränkungen unverändert oder mit geringen Abweichungen fortschreibt, da hier die grundlegende Eingriffsermächtigung gerade nicht durch den an das Grundgesetz gebundenen Gesetzgeber erfolgt, sondern bereits vorkonstitutionell erfolgt ist. 8 81a StPO wurde im Jahr 1933 in die StPO eingefügt und später vom Bundesgesetzgeber zwar mehrfach neu gefasst aber inhaltlich nicht verschärft. Es handelt sich daher um ein vorkonstitutionelles Gesetz, dessen Grundrechtsbeschränkung durch den grundrechtsgebundenen Gesetzgeber nur unverändert fortgeschrieben wurde. Das Zitiergebot ist daher nicht anwendbar. 6 BVerfGE 35, 185 (188). 7 BVerfGE 83, 130 (154). 8 Vgl. BVerfGE 35, 185 (189); 61, 82 (113).

LUDWIG-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT MÜNCHEN SEITE 8 VON 15 cc) Verhältnismäßigkeitsprinzip Zuletzt müsste 81a StPO auch mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip vereinbar sein. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz folgt zunächst aus Art. 20 Abs. 3 GG, da er als elementares Kennzeichen des Rechtstaats auch und gerade im Bereich der Grundrechte gilt. Darüber hinaus folgt er im Grund bereits aus dem Wesen der Grundrechte selbst, die als Ausdruck des allgemeinen Freiheitsanspruchs des Bürgers gegenüber dem Staat von der öffentlichen Gewalt jeweils nur so weit beschränkt werden dürfen, als es zum Schutz öffentlicher Interessen unerlässlich ist. 9 Jede Grundrechtsbeschränkung muss daher einem legitimen Ziel dienen und zur Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich sein und darüber hinaus auch angemessen sein, d.h. die Schwere des Grundrechtseingriffs darf nicht außer Verhältnis zu dem mit der Maßnahme verfolgten Zweck stehen. 81a StPO dient der Effektivität der Strafrechtspflege, damit die für die Wahrheitsfindung erforderlichen Tatsachen auch durch körperliche Eingriffe beim Beschuldigten ermittelt werden können. Er verfolgt daher ein legitimes Ziel. Da körperliche Eingriffe beim Beschuldigten der Wahrheitsfindung dienen können, ist 81a StPO zur Erreichung dieses Ziels geeignet. Da solche Eingriffe oft die einzige Möglichkeit darstellen, bestimmte Tatsachen festzustellen, ist die Vorschrift auch erforderlich. Fraglich ist, ob sie auch angemessen ist, ob also mit der generellen Möglichkeit der Anordnung körperlicher Eingriffe verbundene Grundrechtsverkürzung zum Ziel der effektiven Strafrechtspflege in einem angemessenen Verhältnis steht. Hier lässt die Norm einen Spielraum für eine denkbar weite Bandbreite möglicher körperlicher Eingriffe, so dass sie Grundrechtseingriffe von ganz unterschiedlicher Intensität ermöglicht. Auf der anderen Seite lässt die Vorschrift solche Eingriffe dem Wortlaut nach zunächst für jedwede Straftat, unabhängig von ihrer Schwere, und für jedweden Beschuldigten unabhängig von der Intensität der Verdachtsmomente zu. Vor diesem Hintergrund der großen Offenheit der Norm sowohl auf der Ebene der Grundrechtsverkürzung als auch auf der Ebene der Effektivität der Zweckerreichung, könnte man hier argumentieren, dass die Angemessenheit hier deshalb zu verneinen ist, weil kein bestimmter Grad von Tatverdacht gefordert wird, die Bestimmung also zum einen die Unschuldsvermutung verletzt, zum anderen aber auch aufgrund fehlender scharfer Grenzen völlig unangemessene Eingriffe ermöglicht. 9 BVerfGE 19, 342 (348); 55, 28 (30); 76, 1 (50 f.).

LUDWIG-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT MÜNCHEN SEITE 9 VON 15 Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass die elementaren Bedürfnisse des Strafrechts es erfordern, aufgrund der besonderen Stellung des Beschuldigten ihm gegenüber besondere Eingriffe zu erlauben. Zwar muss eine verfassungskonforme Auslegung des 81a StPO dazu führen, vor einer richterlichen Anordnung zu prüfen, ob der jeweils bestehende Grad von Tatverdacht die Maßnahme rechtfertigt. Eine solche Prüfung ist aber gerade möglich und auch implizit vorgesehen, da die Entscheidung über die Anordnung des körperlichen Eingriffs gerade in die Hand des Richters gelegt wird. Dass der Gehalt einer unvollkommen gefassten Vorschrift erst durch Auslegung unter Berücksichtigung ihres Zwecks und (auch bei vorkonstitutionellen Gesetzen) unter Beachtung der Wertmaßstäbe des Grundgesetzes erschlossen werden muss, ist nichts Ungewöhnliches, sondern resultiert vielmehr aus der abstrakt-generellen Natur des Gesetzes, das gerade keine Einzelfallregelung trifft, sondern für eine Vielzahl unterschiedlicher Fälle Anwendung finden muss. Darüber hinaus ist für Eingriffe nach 81a StPO zu beachten, dass auch für solche Eingriffe, die der Wortlaut des Gesetzes deckt, eine absolute Grenze gilt, da Eingriffe unzulässig sind, wenn ein Nachteil für die Gesundheit des Betroffenen zu befürchten ist. Schließlich ist aber auch zu berücksichtigen, dass die Anordnung in die Hand des Richters gelegt ist. Von dem Richter erwartet aber das Gesetz, dass er eine spezifisch richterliche Denkweise anwendet und damit in besondere Weise eine Abwägung der Umstände des Einzelfalls vornimmt. Vor diesem Hintergrund der möglichen verfassungskonformen Auslegung der Vorschrift, die hier in die Hand des Richters gelegt ist, ist die auf 81a StPO basierende Möglichkeit der Grundrechtsverkürzung daher als angemessen anzusehen. d) Zwischenergebnis 81a StPO stellt als verfassungskonforme gesetzliche Regelung eine taugliche Schranke für Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG dar. 2. Verfassungsmäßige Anwendung im Einzelfall Trotz einer wirksamen Rechtsgrundlage ist die Anordnung der Liquorentnahme nur dann verfassungsgemäß, wenn die Rechtsgrundlage auch in Hinblick auf den aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgenden Grundrechtsschutz ausgelegt und angewendet worden ist. Fraglich ist dabei hier, ob die Anordnung im vorliegenden Fall dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht. Anmerkung: Die Prüfung der verfassungsgemäßen Auslegung und Anwendung des Ge-

LUDWIG-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT MÜNCHEN SEITE 10 VON 15 setzes ist nicht identisch mit der einfachrechtlichen Prüfung der korrekten Gesetzesanwendung. Im Rahmen der verfassungsrechtlichen Prüfung ist also nicht die korrekte Anwendung des einfachen Rechts zu prüfen! Im vorliegenden Fall sind also die einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen des 81a StPO nicht zu thematisieren. a) Legitimer Zweck Die Anordnung der Liquorentnahme dient hier der Feststellung der Zurechnungsfähigkeit von A, die sowohl im Allgemeininteresse an der Strafrechtspflege als auch im individuellen Interesse der A an schuldangemessener Bestrafung liegt. Ein legitimer Zweck liegt damit vor. b) Geeignetheit Da durch die Liquorentnahme die Schuldfähigkeit der A festgestellt werden kann, ist die Maßnahme geeignet. c) Erforderlichkeit Da keine anderen Mittel zur Feststellung der Schuldfähigkeit der A bestehen, ist die Anordnung der Liquorentnahme auch erforderlich. d) Angemessenheit Fraglich ist, ob die Anordnung auch angemessen ist, d.h. auch im konkreten Fall die Schwere des Eingriffs zu der Erreichung des angestrebten Zwecks in einem ausgewogenen Verhältnis steht. Im vorliegenden Fall ist zunächst das abstrakte mit der Anordnung verfolgte Ziel als sehr hochwertig einzuordnen. Das öffentliche Interesse an der Aufklärung von Verbrechen wurzelt in dem rechtsstaatlich besonders wichtigen Legalitätsprinzip, d.h. dem Gebot, Straftaten durch den Staat zu verfolgen, sobald die zuständigen Behörden von ihnen Kenntnis erlangen. Allerdings muss dieses Interesse umso eher zurücktreten, je schwerer in die Freiheitssphäre des Betroffenen eingegriffen wird. Für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit zwischen Zweck und Maßnahme muss daher auch in Betracht gezogen werden, welches Gewicht die zu ahndende Tat hat. Das gilt besonders für die Feststellung der Zurechnungsfähigkeit des Beschuldigten. Hier fordert eine dem Sinn der Grundrechte Rechnung tragende Gesetzesanwendung, dass der beabsichtigte Eingriff in angemessenem Verhältnis zu der Schwere der Tat steht, damit nicht die mit der Aufklä-

LUDWIG-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT MÜNCHEN SEITE 11 VON 15 rung der Tat verbundenen Folgen den Täter stärker belasten als die zu erwartende Strafe. Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine Straftat mit relativ geringem Gewicht. Der durch den Diebstahl entstandene Schaden beträgt lediglich 6,99 Euro, auch hat A über die reine Eigentumsverletzung keine weitere besondere kriminelle Energie an den Tag gelegt. Es handelt sich daher um eine Bagatellsache, derentwegen nur eine geringe Strafe, unter Umständen sogar eine Einstellung wegen Geringfügigkeit in Betracht kommen dürfte. Demgegenüber ist die Liquorentnahme ein nicht belangloser körperlicher Eingriff. Mit etwa zehnprozentiger Wahrscheinlichkeit ist mit Schmerzen und Übelkeit zu rechnen. In seltenen Fällen kann es auch zu erheblichen Komplikationen kommen. Zu dem öffentlichen Interesse an der Aufklärung eines Bagatelldelikts wie dem vorliegenden Diebstahl stehen diese gesundheitlichen Risiken außer Verhältnis. Die Anordnung war daher unangemessen. IV. Ergebnis Die richterliche Anordnung verletzt die A in ihrem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. B. Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG? Neben dem Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG könnte die Anordnung auch die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzten. Dieses Grundrecht schützt umfassend ein Grundrecht des Bürgers, nur auf Grund solcher Vorschriften mit einem Nachteil belastet zu werden, die formell und materiell der Verfassung gemäß sind. 10 Aufgrund dieser Weite des Schutzbereiches wird es auch als Auffanggrundrecht bezeichnet, weil es all diejenigen menschlichen Verhaltensweisen umfasst, die nicht Gegenstand spezieller Freiheitsgewährleistungen sind. Gegenüber diesen speziellen Freiheitsgewährleistungen in den speziellen Freiheits- (und Gleichheits-) Rechten ist die allgemeine Handlungsfreiheit deshalb streng subsidiär. Ihr Schutzbereich ist daher nur eröffnet, wenn kein anderes Grundrecht einschlägig ist. Da hier Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht nur einschlägig, sondern sogar verletzt ist, ist daneben der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG daher nicht zu prüfen. 10 BVerfGE 29, 402 (408); 103, 29 (45).

LUDWIG-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT MÜNCHEN SEITE 12 VON 15

LUDWIG-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT MÜNCHEN SEITE 13 VON 15 Frage 2: A kann sich erfolgreich vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Anordnung wehren, wenn eine entsprechende Verfassungsbeschwerde zulässig ist. I. Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich aus Art. 93 Abs.1 Nr. 4a GG, 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG II. Beschwerdefähigkeit A müsste zunächst gem. 90 BVerfGG beschwerdefähig sein. Beschwerdefähig ist nach dieser Vorschrift jedermann, d.h. jeder Grundrechtsträger. A ist als natürliche Person Trägerin von Grundrechten und daher beschwerdeberechtigt. III. Prozessfähigkeit Darüber hinaus müsste A auch prozessfähig sein. Die Prozessfähigkeit ist nicht in BVerfGG geregelt. Sie bezeichnet die Fähigkeit, Prozesshandlungen selbst oder durch Bevollmächtigte vorzunehmen und folgt der Grundrechtsmündigkeit. Hier ist nicht klar, ob A zurechnungsfähig und damit grundrechtsmündig und prozessfähig ist. Für einen Streit, der sich im weiteren Sinne wie hier um die Zurechnungsfähigkeit dreht, ist die Prozessfähigkeit jedenfalls zu unterstellen. Exkurs: Grundrechtsmündigkeit Grundsätzlich ist jeder Mensch mit dem Beginn seines Lebens grundrechtsfähig. Von der Grundrechtsfähigkeit ist die Grundrechtsmündigkeit zu unterscheiden, d.h. die Fähigkeit, sich tatsächlich auf die Grundrechte berufen zu können. Das Grundgesetz enthält diesbezüglich keine Regelungen. Die Frage der Grundrechtsmündigkeit kann nicht generell, sondern muss für jedes Grundrecht einzeln beantwortet werden. 11 Dabei ist die Ausübung von Grundrechten, die an die schlichte menschliche Existenz anknüpfen (Art. 1, 2 Abs. 2 S. 1, Art. 104 GG), an keine Altersgrenze gebunden. Bei den übrigen Grundrechten stellt sich die Frage, ob auf die individuelle Einsichts- und Entscheidungsfähigkeit des Betroffenen (flexible Altersgrenze) oder eher generalisierend auf die typischen Einsichts- und Entscheidungs- 11 v. Münch, in: ders./kunig, Grundgesetz, Vorb. Art. 1-19, Rn. 13.

LUDWIG-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT MÜNCHEN SEITE 14 VON 15 fähigkeit innerhalb einer Altergruppen abzustellen ist (starre Altersgrenze), die der einfache Gesetzgeber gezogen hat. 12 Typischerweise wird anerkannt, dass der Gesetzgeber bei Altersschranken, die er im einfachen Recht für die Ausübung von Rechten gesetzt hat, Lösungen gefunden hat, die dem besonderen Spannungsverhältnis zwischen der wachsenden Eigenständigkeit des Jugendlichen entsprechen und daher auch für die Frage der Grundrechtsmündigkeit zugrunde gelegt werden können. 13 Zu nennen sind hier neben den Regelungen der Geschäftsfähigkeit im BGB etwa die Regelungen über die Fähigkeit zur Eheschließung, 1303 Abs.1, 2 BGB, oder auch die Altersgrenzen des RelKErzG 14 für die Grundrechtsmündigkeit in Bezug auf die Religionsfreiheit. IV. Beschwerdegegenstand Es müsste auch ein tauglicher Beschwerdegegenstand vorliegen. Gegenstand der Verfassungsbeschwerde kann gem. 90 Abs. 1 BVerfGG jeder Akt der öffentlichen Gewalt sein, d.h. jede Maßnahme oder Unterlassung von Legislative, Exekutive oder Judikative. Hier liegt mit der richterlichen Anordnung eine Maßnahme der Judikative als Akt der öffentlichen Gewalt und damit ein tauglicher Beschwerdegegenstand vor. V. Beschwerdebefugnis Schließlich müsste A auch beschwerdebefugt sein, d.h. die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung geltend machen können. Die geltend gemachte Grundrechtsverletzung müsste A auch selbst, gegenwärtig und unmittelbar betreffen. 1. Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung Die behauptete Grundrechtsverletzung müsste möglich, d.h. nicht von vorneherein ausgeschlossen sein. Wie oben geprüft, wird A durch die Anordnung in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verletzt. 2. Selbstbetroffenheit Selbst betroffen ist derjenige, der sich auf die Verletzung eigener grundrechtlicher Positionen beruft. Die Verletzung von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG betrifft A in eigener Person, also selbst. 12 Pieroth/Schlink, Staatsrecht II Grundrechte, Rn. 124. 13 Zu dieser Argumentation s. v. Münch, in: ders./kunig, Grundgesetz, Vorb. Art. 1-19, Rn. 13. 14 Gesetz über die religiöse Kindererziehung von 1921.

LUDWIG-MAXIMILIANS-UNIVERSITÄT MÜNCHEN SEITE 15 VON 15 3. Gegenwärtige Beschwer Gegenwärtig ist die Beschwer, wenn der Beschwerdeführer schon oder noch betroffen ist. Die Anordnung entfaltet bereits jetzt Rechtswirkung. Somit ist A auch gegenwärtig betroffen. 4. Unmittelbare Beschwer Die Anordnung entfaltet ohne weitere Vollzugsakte ihre Wirkung, die Beschwer ist also auch unmittelbar. 5. Zwischenergebnis A ist daher beschwerdebefugt. VI. Rechtswegerschöpfung Schließlich müsste A auch den Rechtsweg gegen die Maßnahme erschöpft haben. Dies ist laut Sachverhalt erfolgt. VII. Frist Zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde wäre die Monatsfrist des 93 Abs. 1 BVerfGG einzuhalten. VIII. Ergebnis Eine innerhalb der gesetzlichen Frist eingelegte Verfassungsbeschwerde wäre demnach zulässig. A könnte sich vor dem Bundesverfassungsgericht erfolgreich gegen die Anordnung wehren.