Pharmakokinetik beim alten Menschen Bad Honnef-Symposium 2011, 18.04.2011 Priv.-Doz. Dr. W. Mühlberg Klinik für Innere Medizin 4 (Geriatrie und Geriatrische Tagesklinik) Klinikum Frankfurt Höchst (Chefarzt: Priv.-Doz. Dr. W. Mühlberg) Lehrstuhl Innere Medizin-Geriatrie und Institut für Biomedizin des Alterns der Universität Erlangen-Nürnberg (Direktor: Prof. Dr. C. Sieber)
Die Pharmakokinetik älterer Patienten ist aus folgenden Gründen verändert: Alternsabhängige Veränderungen der Resorption, der Verteilung und der Plasmaproteinbindung, der hepatischen Metabolisierung und der renalen Elimination Durch den Einfluß der mit dem Alter zunehmenden Multimorbidität (und der damit verbundenen Polymedikation) auf die Pharmakokinetik eines Arzneimittels Die erhöhte Rate unerwünschter Arzneimittelwirkungen (UAW) bei älteren Patienten resultiert wesentlich aus den o.g. Umständen
Veränderungen der Nierenfunktion im Alter Eingeschränkte Nierenfunktion: mit dem Alter nimmt die Creatinin-, Inulin- und PAH-Clearance ab; die Nierendurchblutung ist vermindert Je älter der Patient, umso geringer ist die diagnostische Aussagekraft des Serum-Creatinins als Parameter der Nierenfunktion
Abnahme der mittleren Creatinin-Clearance mit dem Alter bei unverändertem mittleren Serum-Creatinin (n=500)
Farbkodierter dreidimensionaler Plot der Variablen Alter, Harnstoff und Creatinin (n=32000) if science meets art A l t e r [ J a h r e ] 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 Alter [Jahre] => 90 J. 80-89 J. 70-79 J. 60-69 J. 50-59 J. 40-49 J. 6 5 4 3 Creatinin [mg/dl] 2 100 1 400 300 200 Harnstoff [mg/dl] 30-39 J. 20-29 J. <20 J.
Age: p=0.000, clinic: p=0.002, interaction: n.s. 1,6 1,5 95% CI Creatinine [mg/dl] 1,4 1,3 1,2 1,1 1,0 Department trauma surg.,9 internal med. N = 363 242 650 1004 386 921 311 678 88 185 <40 40-69 70-79 80-89 >=90 Age [years]
Age: p=0.000, clinic: p=0.000, interaction: p=0.024 100,0 90,0 80,0 95% CI Urea [mg/dl] 70,0 60,0 50,0 40,0 Department 30,0 20,0 10,0 trauma surg. internal med. N = 360 236 640 991 386 904 307 669 88 186 <40 40-69 70-79 80-89 >=90 Age [years]
Veränderungen der Pharmakokinetik im Alter Eingeschränkte Leberfunktion: mit dem Alter nimmt die funktionsfähige Leberzellmasse ab, die Leberdurchblutung ist vermindert. Inwieweit die für den hepatischen Arzneimittelabbau verantwortlichen mikrosomalen Cytochrom P450-Familien und Unterfamilien (z.b. CYP3A4, CYP2C9, CYP2D6 u.a.) mit ihrer metabolischen Kapazität im Alter abnehmen, ist noch nicht geklärt.
Höhere Blutspiegel von Spironolacton (Canrenon-Metabolite) bei älteren Patienten
Neuere Erkenntnisse über Arzneimittel-Interaktionen Viele Arzneimittel werden über die mikrosomalen Enzyme der Leber (Cytochrom P450 = CYP) abgebaut. Die Entdeckung und Entschlüsselung der Funktion der verschiedenen Cytochrom P450 (CYP)-Unterfraktionen ermöglichte ein besseres Verständnis zahlreicher Arzneimittel-Interaktionen. Die CYP-Unterfraktionen werden in ihrer Wirkung durch verschiedene Induktoren verstärkt und durch zahlreiche Hemmer abgeschwächt.
CYP-Interaktionen im Alter CYP1A2: Metabolisiert ca. 15 % der heute verwendeten Pharmaka, u.a. Theophyllin, mehrere Antidepressiva und Neuroleptika. Da CYP1A2 durch Tabakrauch induziert wird, benötigen Raucher höhere Theophyllindosen als Nichtraucher. Gefährliche Interaktion: Älterer Patient mit COPD hört mit dem Rauchen auf und entwickelt bei gleichbleibender Dosis toxische Theophyllin- Spiegel!
Besonderheiten verschiedener Zytochrome / CYP3A4 (3,5,7) CYP3A4 (3,5,7): Wichtigste Gruppe, metabolisiert ca. die Hälfte aller gebräuchlichen Arzneimittel! CYP3A findet sich auch in der Dünndarmwand und ist deshalb häufig für eine präsystemische Biotransformation ( first pass ) verantwortlich. Gefährliche Interaktion: Hemmung von CYP3A durch zahlreiche Pharmaka!!! Die gleichzeitige Einnahme verschiedener Pharmaka betrifft vor allem geriatrische Patienten!
Pharmaka, die durch CYP3A4 (5,7) metabolisiert werden Statine: Atorvastatin, Cerivastatin, Lovastatin, Simvastatin Steroide: Östradiol, Hydrocortison, Progesteron, Testosteron Makrolide: Clarithromycin, Erythromycin Benzodiazepine: Alprazolam, Diazepam, Midazolam Calciumantagonisten: Amlodipin, Diltiazem, Felodipin, Nifedipin, Nitrendipin, Verapamil Sonstige: Koffein, Codein, Fentanyl, Haloperidol, Lidocain, Methadon, Propranolol, Sildenafil u.v.a.
Pharmaka, die CYP3A4 (5,7) hemmen Kardiaka: Amiodaron, Diltiazem Antibiotika: Ciprofloxacin, Clarithromycin, Erythromycin, Fluconazol, Ketoconazol, Norfloxacin Sonstige: Cimetidin, Fluvoxamin, Norfluoxetin, Grapefruitsaft, Cyclosporin
Veränderungen der Pharmakokinetik im Alter Veränderungen der Verteilungsvolumina: mit dem Alter nimmt der relative Wassergehalt des Körpers ab und der relative Anteil des Fettgewebes zu (wichtig für lipophile Medikamente, z.b. Diazepam) (Turnheim K, Exp Gerontol 2003, 38(8):843-53) Niedrigeres Körpergewicht älterer Menschen: kleineres Verteilungsvolumen und dadurch höhere Arzneimittelspiegel
Multimorbidität im Alter Mit dem Alter nimmt die Zahl gleichzeitig bestehender chronischer Erkrankungen zu. Die dadurch bedingte Polypragmasie erhöht das Risiko von unerwünschten Arzneimittelwirkungen und Interaktionen. Unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) nehmen im Alter zu. Je höher die Zahl gleichzeitig eingenommener Pharmaka, um so häufiger treten UAW auf!
Differentialdiagnose medikamenteninduzierter Nephropathien bei geriatrischen Patienten NSAR: meist prärenales akutes Nierenversagen (ARF = acute renal failure), kann aber auch durch eine akute interstitielle Nephritis (AIN) verursacht sein Semisynthet. Penicilline: AIN mit Eosinophilie, Fieber Ciprofloxacin: AIN, Fieber, sterile Leukozytose im Urin Moxifloxacin: acute tubulointerstitial nephritis (ATIN) Aminoglycoside: acute tubular necrosis (ATN) LITERATUR: Fischereder M, MMW Fortschr Med 2004; 146(43):35-6, 38. Mandal et al, Drugs Aging 1996; 9(4):226-50. Argirov et al, Clin Ther 2005;27(8):1260-3.
Farbkodierter dreidimensionaler Plot der Variablen Alter, Harnstoff und Creatinin (n=32000) if science meets art A l t e r [ J a h r e ] 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 Alter [Jahre] => 90 J. 80-89 J. 70-79 J. 60-69 J. 50-59 J. 40-49 J. 6 5 4 3 Creatinin [mg/dl] 2 100 1 400 300 200 Harnstoff [mg/dl] 30-39 J. 20-29 J. <20 J.
Diagnostische Möglichkeiten zur Früherkennung toxischer Arzneimittelspiegel bei multimorbiden geriatrischen Patienten mit Niereninsuffizienz Für multimorbide geriatrische Patienten ist es charakteristisch, daß die Plasmaspiegel vieler Medikamente bei einigen Patienten teilweise exzessiv erhöht sind, bei anderen dagegen im normalen therapeutischen Bereich liegen. Für die Therapiesicherheit hilfreich wären daher diagnostische Kriterien, die es ermöglichen, das Risiko eines toxischen oder potentiell toxischen Arzneimittelspiegels annähernd abzuschätzen bzw. vorauszusagen.
Methodik Die vorliegenden Untersuchungen basieren auf 17 klinischen Pharmakokinetik-Studien; insgesamt nahmen 256 multimorbide ältere Patienten daran teil. Ziel war die Entwicklung eines "diagnostischen" Tests, mit dessen Hilfe geriatrische Patienten erfaßt werden sollten, die im Therapieverlauf (oder schon zu Beginn) toxische oder potentiell toxische Medikamentenspiegel entwickeln (Zielparameter). Als diagnostische Parameter wurden die nach der Formel von Cockroft und Gault (1976) berechnete Creatinin- Clearance und das Alter der geriatrischen Patienten herangezogen.
120 100 creatinine clearance [ml/min] 80 60 40 20 drug plasma level normal range potentially 0 toxic 50 60 70 80 90 100 age [years]
ROC-Analyse Mit Hilfe eines speziellen mathematischen Verfahrens (ROC-Analyse, ROC = Receiver Operating Characteristics) wurde bei jedem Pharmakon untersucht, ob sich für die genannten diagnostischen Parameter "Schwellenwerte" ermitteln lassen, bei deren Über- oder Unterschreiten Patienten mit dem Zielkriterium (toxischer oder potentiell toxischer Medikamentenspiegel) mit einer definierten diagnostischen Sensitivität und Spezifität erfaßt werden können.
Ergebnisse / 1 Für acht Pharmaka (Furosemid, Spironolacton, Hydrochlorothiazid, Enalaprilat, Cefotaxim, Piracetam, Pentoxifyllin und Lorazepam) wurde ein gemeinsamer Schwellenwert (Creatinin-Clearance < 40,15 ml/min) ermittelt, bei dessen Unterschreiten Patienten mit dem o.g. Zielkriterium mit einer mittleren Sensitivität von 89,8 % und einer Spezifität von 80 % erfaßt bzw. "diagnostiziert" wurden.
Ergebnisse / 2 Ähnliche Schwellenwerte fanden sich auch für das Lebensalter. Bei Propranolol, Spironolacton und Hydrochlorothiazid wurden bei Überschreiten des Schwellenwertes (Alter > 77,5 Jahre) Patienten mit dem Zielkriterium mit einer mittleren Sensitivität von 96,3 % und einer Spezifität von 80 % erfaßt. Für Alprazolam und Lorazepam lag der entsprechende Schwellenwert bei 74,5 Jahren (mittlere Sensitivität 90 %, Spezifität 86 %).
Take-home message Für zahlreiche Medikamente ist bei Unterschreiten einer (errechneten) Creatinin-Clearance von 40 mg/dl bei älteren Patienten mit einer Kumulation bzw. mit toxischen Plasmaspiegeln zu rechnen Für die adäquate Dosisanpassung von Pharmaka bei geriatrischen Patienten mit Niereninsuffizienz ist die nach Cockcroft und Gault errechnete Creatinin- Clearance nach wie vor das effektivste Hilfsmittel Die Multimedikation bei multimorbiden geriatrischen Patienten ist weiterhin ein weitgehend ungelöstes Problem
Which are the most dangerous psychoactive drugs in elderly patients (as compared to younger patients)? Acute poisoning with drugs: a statistically significant higher frequency of intoxications in old patients for single psychoactive / analgetic drugs (zopiclon, zolpidem, and bromazepam) Symptoms: Cognitive impairment, excessive sedation, increased risk of falls and fractures
Problematik / Pharmakokinetik von Cefditoren bei multimorbiden geriatrischen Patienten l Infektionen der Atemwege und der Lunge sind im Alter sehr häufig. Cefditoren ist ein neues Cephalosporinpräparat, welches hauptsächlich bei ambulant erworbenen Atemwegsinfektionen indiziert ist. l Über den Einsatz von Cefditoren bei multimorbiden geriatrischen Patienten liegen nur sehr wenige Daten vor. l Ziel der vorliegenden Phase III-Studie war es, die pharmakokinetischen Parameter von Cefditoren durch Messung der Plasmakonzentrationen nach einmaliger täglicher Gabe von 200 mg p.o. bei multimorbiden älteren Patienten mit Atemwegsinfektionen zu bestimmen.
Ergebnisse l Auffällig war die große Schwankungsbreite der pharmakokinetischen Parameter: l Die Spitzenkonzentration von Cefditoren variierte um den Faktor 5 (zwischen 985 und 4800 ng/ml), l die Halbwertszeit um den Faktor 8 (zwischen 1,87 und 15,4 Stunden) und l die Fläche unter der Konzentrations-Zeit-Kurve um den Faktor 9 (zwischen 5110 und 44700 ng/ml*h).
Abb. 1: Korrelation zwischen der Creatinin-Clearance und der Halbwertszeit von Cefditoren (single dose, n=19, r= -0,711, p<0,001) 16 14 12 Halbwertszeit [h] 10 8 6 4 2 0 10 20 30 40 50 60 70 80 Creatinin-Clearance [ml/min]
Abb. 2: Korrelation zwischen der Creatinin-Clearance und der MRT (0-oo) von Cefditoren (n=19, r= -0,535, p<0,02) 30 MRT (0-oo) [h] von Cefditoren 20 10 0 10 20 30 40 50 60 70 80 Creatinin-Clearance [ml/min]
Abb. 3: Korrelation zwischen der Creatinin-Clearance und der AUC (0-oo) von Cefditoren (single dose, n=19, r= -0,535, p<0,02) 50000 AUC (0-oo) [ng/ml * h) 40000 30000 20000 10000 0 10 20 30 40 50 60 70 80 Creatinin-Clearance [ml/min]
Die Firma Grünenthal hat nach den Ergebnissen dieser Phase III Studie (Pharmakokinetik von Cefditoren bei multimorbiden geriatrischen Patienten) auf den Erwerb der Lizenz für dieses Cephalosporin verzichtet
Vortrag Pharmakokinetik beim alten Menschen, Bad Honnef-Symposium 18. April 2011