Zur Bedeutung des Gesundheitswesens als Wirtschaftsfaktor Prof. Dr. Walter Ried, Lehrstuhl für Allgemeine Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft Wintersemester 2008/09
Die Bedeutung eines Wirtschaftsbereichs Eine Volkswirtschaft besteht aus einzelnen Sektoren: Private Haushalte, Unternehmen, Staat aus einzelnen Wirtschaftsbereichen, z.b. Landwirtschaft Fahrzeug-Industrie Gesundheitswesen Umfang und Entwicklung einer Volkswirtschaft werden bestimmt durch Umfang und Entwicklung ihrer einzelnen Wirtschaftsbereiche Folgerungen: Eine positive Entwicklung aller Wirtschaftsbereiche impliziert eine positive Entwicklung der Volkswirtschaft Die Umkehrung gilt jedoch nicht: Eine Volkswirtschaft kann sich positiv entwickeln, obwohl ein einzelner Wirtschaftsbereich im Niedergang begriffen ist Grund: Strukturwandel (dessen erfolgreiche Bewältigung zugleich ein Indiz für die positive Entwicklung einer Volkswirtschaft sein kann)
Die Bedeutung eines Wirtschaftsbereichs Zentrale Fragen: Wie kann man die ökonomische Bedeutung eines Wirtschaftsbereichs erfassen? Welche Faktoren spielen hierfür eine Rolle? Kriterien zur Messung: Leistungserstellung: Umsatz Wertschöpfung Umfang und Struktur des Ressourceneinsatzes Arbeit (Personaleinsatz) Kapital (Maschinen, Gebäude) Bedeutung für andere Wirtschaftsbereiche? Verflechtung der Leistungserstellung Weitere Aspekte
Die Bedeutung eines Wirtschaftsbereichs Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Vergleich? Bedeutung in der Zukunft? Innovationsfähigkeit Künftige Nachfrage Wichtige Faktoren: Stückkosten, die abhängen von der Produktivität des Ressourceneinsatzes (z.b. erstellte Leistungen pro Arbeitseinheit) von den Kosten des Ressourceneinsatzes (z.b. Lohnsatz) Nachfrage allgemein im eigenen Land (speziell bei Dienstleistungen) Weitere Einflussgrößen (z.b. staatliche Förderung oder Regulierung)
Die Bedeutung eines Wirtschaftsbereichs Beispiele (Deutschland) Indikator: Anteil des Wirtschaftsbereichs an der gesamten Bruttowertschöpfung Land- und Forstwirtschaft: 1970 (alte Bundesländer): 3,3% 2006 (Deutschland): 0,8% Produzierendes Gewerbe: 1970 (alte Bundesländer): 48,3% 2006 (Deutschland): 29,6% Dienstleistungsbereiche: 1970 (alte Bundesländer): 48,3% 2006 (Deutschland): 69,6%
Gesundheitsversorgung: Einrichtungen Gesundheitsschutz: Öffentlicher Gesundheitsdienst Sonstige Einrichtungen (z.b. medizinischer Dienst der Krankenkassen) Ambulante Einrichtungen, z.b. Praxen (Ärzte, Zahnärzte, sonstige medizinische Berufe) Apotheken Stationäre und teilstationäre Einrichtungen, z.b. Krankenhäuser Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen Rettungsdienste Verwaltung Vorleistungsindustrien, z.b. pharmazeutische Industrie Medizinische Laboratorien und Großhandel
Ressourcen der Gesundheitsversorgung: Berufe Gesundheitsdienstberufe, z.b. Ärzte, Zahnärzte, Arzthelfer Apotheker Heilpraktiker Soziale Berufe, z.b. Altenpfleger Heilpädagogen Gesundheitshandwerker, z.b. Augenoptiker Zahntechniker Sonstige Gesundheitsfachberufe, z.b. Gesundheitsingenieure pharmazeutisch-kaufmännische Angestellte Andere Berufe, z.b. Kurierdienste der Apotheken Erfassung: Beschäftigte vs. Vollzeitäquivalente
Abgrenzung des Gesundheitswesens Statistisches Bundesamt: Bezug: Gesundheitsausgabenrechnung (GAR) Gesundheitspersonalrechnung (GPR) Berücksichtigung von Ausgaben für Leistungen bzw. Tätigkeiten, wenn sie primär der Sicherung, der Vorbeugung oder der Wiederherstellung von Gesundheit dienen Diese Abgrenzung umfasst die Leistungserstellung im Gesundheitswesen auch die Finanzierung über die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) und die Private Krankenversicherung (PKV) Gesundheitswirtschaft als weiter gefasster Begriff, der auch den sogenannten wellness -Bereich einschließt
Gesundheitswesen: Einige Kennzahlen Quelle: Zusammengestellt aus Daten des Statistischen Bundesamts und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung
Ausgewählte Entwicklungen des Gesundheitswesens Leichte Zunahme der Zahl der Beschäftigten Deutliche Erhöhung der Zahl der Ärzte, die an der Versorgung mit Gesundheitsleistungen beteiligt sind die ambulante Leistungen an Versicherten der GKV erbringen dürfen der Arztdichte (d.h. der Anzahl der Ärzte pro 1.000 Einwohner) Krankenhäuser: Anzahl der Betten rückläufig, ebenso die Zahl der Belegungstage und der behandelten Fälle GKV-Arzneimittelmarkt: Rückgang der Verordnungen von Arzneimitteln Starke Erhöhung des Werts je Verordnung Zunahme der Ausgaben für Gesundheit, sowohl absolut als auch pro Kopf oder in Relation zum BIP
Gesundheitswesen: Bedeutung für andere Wirtschaftsbereiche Verflechtung der Leistungserstellung: Das Gesundheitswesen bezieht Vorleistungen von anderen Wirtschaftsbereichen, z.b. Teile der Praxisausstattung Gebäude (Krankenhaus) Die erbrachten Leistungen sind teilweise selbst Vorleistungen (z.b. öffentlicher Gesundheitsdienst) Weitere Aspekte: Im Zuge der Leistungserstellung entstehen Einkommen, mit denen Güter und Dienstleistungen anderer Wirtschaftsbereiche nachgefragt werden können Gesundheit als (wichtige!) Voraussetzung für andere Tätigkeiten bzw. der Gesundheitszustand beeinflusst die Nachfrage nach Güter und Dienstleistungen Krankheit bei Erwerbspersonen kann zu einem Ressourcenverlust führen aufgrund von Arbeits- oder Erwerbsunfähigkeit ist mit indirekten Kosten verbunden, die überwiegend außerhalb des Gesundheitswesens anfallen
Knappheit der Ressourcen Ressourcen, die im Gesundheitswesen eingesetzt werden, stehen an anderer Stelle nicht mehr zur Verfügung Es gilt: Die vorhandenen Ressourcen reichen (bei weitem!) nicht aus, um alle bestehenden Bedürfnisse zu befriedigen Kurz: Das Schlaraffenland existiert nicht Folgerungen: Der Einsatz von Ressourcen in einer Verwendung impliziert den Verzicht auf Erträge, die aufgrund einer anderen Verwendung entstanden wären Die Ressourcen sind allgemein knapp Die Kosten des Ressourceneinsatzes hängen von ihrer Verwendung ab entsprechen demjenigen Ertrag, auf den maximal verzichtet wurde Opportunitätskosten: Maximal entgangener Ertrag aufgrund des betrachteten Ressourceneinsatzes
Knappheit der Ressourcen: Gesundheitswesen Rationalität des Ressourceneinsatzes im Gesundheitswesen: Einsatz nur dann, wenn der Ertrag die Opportunitätskosten übersteigt, dies erfordert Informationen über Ertrag und Opportunitätskosten (z.b. Lebenslänge, Lebensqualität oder eingesparte Behandlungskosten) eine Abwägung von Ertrag und Opportunitätskosten Zentrale Fragen: Wie viele Ressourcen sind im Gesundheitswesen allgemein einzusetzen? sind in welchem Teilbereich des Gesundheitswesens? sind für wen (z.b. für welche Patientengruppen) einzusetzen? Gesundheitsökonomische Analysen, die die Rationalität des Ressourceneinsatzes im Gesundheitswesen untersuchen, können auch zu dem Ergebnis gelangen, dass zu wenige Ressourcen in das Gesundheitswesen bzw. in einen Teilbereich fließen liefern zeitabhängige Ergebnisse, da sich z.b. folgende Größen auf Kosten oder Erträge auswirken können: Medizinisch-technischer Fortschritt Wandel der Bedürfnisse (demographische Alterung, höhere Einkommen)
Ausgaben für Gesundheit Mit den Ausgaben für Gesundheit werden im Wesentlichen die im Gesundheitswesen erstellten Leistungen finanziert Diese Ausgaben enthalten nicht die Ausgaben für Einkommensleistungen, die hauptsächlich dazu dienen, die finanziellen Folgen von Krankheit zu mildern (z.b. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall) Primäre Finanzierungsebene: Private und öffentliche Haushalte, Arbeitgeber und private Organisationen ohne Erwerbszweck Kennzeichen: Diese Träger finanzieren letztlich die Ausgaben für Gesundheit Sekundäre Finanzierungsebene: Versicherer (GKV, PKV, GRV, ) Kennzeichen: Diese Träger refinanzieren sich vollständig bei den Trägern der primären Finanzierungsebene Gesundheitsleistungen werden hauptsächlich zunächst durch diese Träger finanziert, denen das Statistische Bundesamt die zugehörigen Ausgaben zuordnet
Ausgaben für Gesundheit 2006 Quelle: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Gesundheit. Ausgaben 2006, Wiesbaden 2008, S. 33.
Ausgaben für Gesundheit und Gesundheitseffekte Mehrstufiger Transformationsprozess: Die Ausgaben für Gesundheit finanzieren den Einsatz von Ressourcen Aus einer Kombination der Ressourcen ergibt sich das Angebot (der Output ) an Gesundheitsleistungen Die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen kann zu gesundheitlichen Ergebnissen ( Outcomes ) beim Patienten sowie weiteren Effekten führen Höhere Ausgaben für Gesundheit bedeuten nicht zwangsläufig verbesserte Gesundheitseffekte bei den Patienten: Preise der Ressourcen (In-)Effizienz der Leistungserstellung im Gesundheitswesen Wirkung der Gesundheitsleistungen Auf die Gesundheit eines Menschen wirkt eine Vielzahl weiterer Faktoren ein: demographische Faktoren (z.b. Alter) individuelle Faktoren (z.b. Lebensstil) strukturelle Faktoren (z.b. Arbeitsbedingungen)
Ausgaben für Gesundheit und Gesundheitseffekte Folgerungen: Ohne nähere Informationen implizieren höhere (bzw. geringere) Ausgaben für Gesundheit nicht eine bessere (bzw. schlechtere) Gesundheit der Bevölkerung impliziert eine bessere (bzw. schlechtere) Gesundheit der Bevölkerung nicht höhere (bzw. geringere) Ausgaben für Gesundheit Diese Aussagen gelten für den regionalen Vergleich ( Querschnitt ) für die zeitliche Entwicklung ( Längsschnitt )
Gesundheitswesen: Aktuelle Probleme Geringe finanzielle Anreize für (primäre oder sekundäre) Prävention bei den Versicherten, da Behandlungsausgaben im Krankheitsfall nahezu vollständig vom Versicherer gezahlt werden Versorgung mit Gesundheitsleistungen teilweise unwirtschaftlich: Gefahr einer Über-, Unter- oder Fehlversorgung der Patienten Gefahr einer unnötig kostspieligen Versorgung Gründe: Geringe Kommunikation und Koordination der Leistungserbringer aufgrund sektorbezogener Steuerung führen zu Schnittstellenproblemen Mangelnder Wettbewerb zwischen den Versicherern innerhalb der GKV: Einseitige Orientierung auf den Beitragssatz innerhalb der PKV: Konzentration auf Neukunden Solidarische Finanzierung der GKV belastet im Wesentlichen den Faktor Arbeit (Beiträge als Lohnzusatzkosten, Verringerung des Nettolohns) gefährdet die Beschäftigung
Gesundheitswesen: Künftige Herausforderungen Demographischer Wandel: Die Bevölkerung in Deutschland unterliegt einer doppelten Alterung, da die Geburtenrate zu niedrig ist die Sterblichkeit insbesondere in höheren Altersstufen sinkt Medizinisch-technischer Fortschritt: Erweiterung der Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten ( Produktinnovationen ) Kostengünstigere Behandlungen ( Prozessinnovationen ) Globalisierung verstärkt den Wettbewerb mit den Gesundheitswesen anderer (anliegender) Länder Effekte auf die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen und die Finanzierung der Krankenversicherung?
Gesundheitswesen als Wachstumsmotor Medizinisch-technischer Fortschritt und eine steigende Nachfrage nach Gesundheitsleistungen können dazu führen, dass im Zeitablauf aufgrund einer hohen Innovationsrate die Bedeutung des Gesundheitswesens relativ zu anderen Wirtschaftsbereichen steigt im Gesundheitswesen die Produktivität steigt und damit höhere Einkommen sowie mehr Beschäftigung entstehen auch andere Wirtschaftsbereiche profitieren: höhere Produktivität z.b. aufgrund gesunkener Fehlzeiten Günstiges Szenario, in welchem sich die Entwicklung im Gesundheitswesen positiv auf die Entwicklung der übrigen Wirtschaftsbereiche auswirkt
oder als Kostenbremse? Mangelnde Wirtschaftlichkeit und die im Wesentlichen auf das Arbeitsentgelt bezogene Finanzierung der GKV können dazu führen, dass im Zeitablauf die Belastung des Faktors Arbeit mit Abgaben zunimmt ungünstige Effekte auf die Produktivität, die Einkommen und die Beschäftigung resultieren z.b. die Bedeutung der Armuts-Falle zunimmt, da steigende Beiträge zur GKV relativ zum Einkommen die Aufnahme einer Beschäftigung unattraktiver werden lassen Ungünstiges Szenario, in welchem die Entwicklung im Gesundheitswesen negative Auswirkungen auf die übrigen Wirtschaftsbereiche hat
Künftige Bedeutung des Gesundheitswesens Welches Szenario wird künftig im Vordergrund stehen? Dies hängt maßgeblich davon ab, ob und in welchem Umfang es gelingt, die Erbringung und die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen wirtschaftlich erfolgen zu lassen nur gesamtwirtschaftlich sinnvolle medizinische Innovationen einzuführen, d.h. in den Leistungskatalog der Krankenversicherung zu übernehmen die Struktur des Gesundheitswesens in geeigneter Weise an sich verändernde Bedingungen anzupassen Von zentraler Bedeutung: Organisation und Finanzierung der Erbringung sowie der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen Die Realisation des günstigen Szenarios erfordert geeignete Anreize für die Akteure des Gesundheitswesens (Versicherer, Leistungserbringer und Versicherte) eine hohe Flexibilität des Gesundheitswesens (keine verkrustete Unterteilung in Sektoren)
Zur Bedeutung des Gesundheitswesens als Wirtschaftsfaktor: Literatur Böhm, K., Gesundheitsdaten in Deutschland, Wirtschaft und Statistik, Heft 8/2005, S. 828ff.; Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch 2008 für die Bundesrepublik Deutschland, Kap. 9: Gesundheitswesen; Busse, R. und Riesberg, A., Gesundheitssysteme im Wandel: Deutschland 2000, Europäisches Observatorium für Gesundheitssysteme 2000; Busse, R. und Riesberg, A., Health Care Systems in Transition: Germany, Copenhagen, WHO regional office on behalf of the European Observatory for Health Systems and Policies, 2004; Fleßa, S., Gesundheitsökonomik. Eine Einführung in das wirtschaftliche Denken für Mediziner, 2. Aufl., Springer Verlag, Berlin u.a.o. 2007, Kap. 1-2 Lauterbach, K.W., Stock, S., Brunner, H. (Hrsg.), Gesundheitsökonomie. Lehrbuch für Mediziner und andere Gesundheitsberufe, Verlag Hans Huber, Bern 2006, Teil 1 Robert-Koch-Institut (Hrsg.), Gesundheit in Deutschland. Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Robert-Koch-Institut, Berlin 2006.