Tagung Entsicherte Kindheit Fachhochschule Erfurt, 27. Mai 2015

Ähnliche Dokumente
Geflüchtete Kinder - Herausforderungen und Chancen kultureller Vielfalt in der frühen Bildung

Schule und bürgerliche Gesellschaft

Gliederung. 1. Lebenslauf Max Webers. 2. Hauptwerke. 3. Die Begriffe Klasse Stand Partei 3.1. Klasse 3.2. Stand 3.3. Partei. 4.

Bildungsplan 2016: Die Leitperspektive BTV. Bildungsplan Die Leitperspektive Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt (BTV)

Anstöße. Gesellschaftslehre mit Geschichte. Didaktische Jahresplanung Berufsfeld Erziehung und Soziales

Die Generation Y im Bildungssystem

Schüler mit herauforderndem Verhalten

Was hält unsere Gesellschaft zusammen? Gesellschaftliche und kulturelle Integration im Verfassungsstaat

Leitbild des Kath. Kindergarten St. Jakobus, Untermettingen

Das Gebäude der Kinderrechte

Werte und Grundsätze des Berufskodexes für interkulturell Dolmetschende. Ethische Überlegungen: Was ist richtig? Wie soll ich mich verhalten?

Emanzipation und Kontrolle? Zum Verhältnis von Demokratie und Sozialer Arbeit

1. Verantwortung der Leitung

Pfarrei Liebfrauen Trier. Leitbild. der Kindertagesstätten der katholischen Kirchengemeinde Liebfrauen Trier

Kindergarten steht drauf- Vielfalt ist drin! KULTURSENSIBEL UND MEHRSPRACHIG IM ALLTAG

Anmerkungen zur Verwendung des Schullehrplans im Jahrgang 10

Deutschland im demografischen Wandel.

Partnerschaft im Alter.

Leitbild der Universität Leipzig

IV. Globalisierung Globalización aus Sicht der Fächer Gemeinschaftskunde, Spanisch und Religion

Kinderschutz im Gesundheitswesen Fachveranstaltung Ärztekammer Schleswig-Holstein Bad Segeberg, 10. September 2014

Die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen

Begriffsdefinitionen

z'mitts drin Menschen mit einer geistigen und mehrfachen Behinderung stehen in der SSBL im Zentrum.

Krise der Leistungsgesellschaft?

Lehrbuch Kinder- und Jugendhilfe

1. Mit dem Inkrafttreten des KJHG hat sich EB auf den Weg in die Jugendhilfe gemacht und ist inzwischen mitten drin!

Kinderarmut als gesellschaftliches Problem Aufwachsen unter Armutsbedingungen

AWO pro:mensch. Kinder betreuen. Familien beraten.

Auf dem Weg zu einer jugendfreundlichen Kommune

Sperrfrist: Ende der Rede Es gilt das gesprochene Wort.

Resilienz Die Widerstandsfähigkeit der Seele von Anja Mahne (PSKB)

Alles ist im Wandel. vieles im Umbruch. manches im Zerfall. Was einen Ort am Leben hält. Die Folgen des Niedergangs:

Elke Schlösser - Fachvortrag Innsbruck. Interkulturelle Pädagogik Erziehung für eine Kultur der Vielfalt in der Gesellschaft

Kindererziehung im Islam

Segel Setzen 2014 Die Rolle der SpDis im Sozialraum 20./ Hannover

Freiwillig und unentgeltlich, aber nicht umsonst. Herausforderungen und Perspektiven Bürgerschaftlichen Engagements in Rheinland-Pfalz

Systematik des SGB VIII

Leitbild. des Jobcenters Dortmund

Begriffe der Friedens- und Konfliktforschung : Konflikt & Gewalt

Pädagogisches Konzept. KiBiZ Tagesfamilien

Kritische Theorie (u.a. Horkheimer, Marcuse, Adorno..., Habermas)

Studienpatenschaftsprogramm Senkrechtstarter

Grundsätzlich werden vier Lebenszyklen unterschieden: 14

Demokratiebildung aus Sicht des Sachunterrichts

Wert -volle Partizipation für Kinder in der Demokratie Elisabeth Nowak

Traumapädagogik als Pädagogik der Selbstbemächtigung von jungen Menschen Wilma Weiß

GRÖßENVERHÄLTNISSE DER SCHWEIGENDEN MEHRHEIT

Zukunftsfähige Entwicklung und generative Organisationskulturen (ZEGO)

Kollaborative Ökonomie Potenziale für nachhaltiges Wirtschaften

Informationen zum Thema umfassende Gefährdungsbeurteilung: Psychische Belastungen erkennen und erfassen. FH Südwestfalen, 23.

Wie werden Lehrerinnen und Lehrer professionell und was kann Lehrerbildung dazu beitragen?

Alterskonferenz Biel vom 6. Dezember Katharina Frischknecht, lic.phil. / MAS Gerontologie Koordinatorin Altersplanung Abteilung Alter

Qualifikationsphase (Q1/I) Grundkurs

Politische Bildung in Österreich. Trends, Problembereiche, Perspektiven: Fünf Herausforderungen und fünf Chancen

Psychosoziale Diagnostik in der Jugendhilfe

Wege zu einem entwicklungs- fördernden Miteinander von Erwachsenen und Kindern

NICHTS FÜR KINDER!? ADULTISMUS ALS TEIL EINER FUNKTIONIERENDEN GESELLSCHAFT?

Daseinsvorsorge und Engagement? Workshop 2 Bagfa Jahrestagung Augsburg Dr. Thomas Röbke

Piagets Stufenmodell der Entwicklung

Schulinternes Curriculum Sek. II für das Zentralabitur 2012 /2013

Schule und Professionelle Gemeinschaft Ressource oder Belastung?

Elterliche Trennung und Scheidung im Erleben von Kindern

Der Lebensbezogene Ansatz

Pädagogische Geschlossenheit

Konzept Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE) der Stadt Zug. Kurzfassung

Zur Zeit unterrichten zwei Kolleginnen das Fach Erziehungswissenschaft. Einführungsphase. Unterrichtsvorhaben I:

Biografische Übergänge in der zweiten Lebenshälfte neue Inhalte, alte Muster?

Sperrfrist: Uhr. Rede des Präsidenten des Nationalrates im Reichsratssitzungssaal am 14. Jänner 2005 Es gilt das gesprochene Wort

Soziale Arbeit am Limit - Über konzeptionelle Begrenzungen einer Profession

Leitbild des Jobcenters Berlin Neukölln

Eltern-Information. Warum entscheiden sich katholische Eltern für die katholische Grundschule? Elternmitwirkung macht Schule

François Höpflinger Generationenbeziehungen im Wandel.

Veranstaltungsreihe. Wintersemester 09/10 Ruprecht-Karls Universität Heidelberg.

Gender und Diversity im Gesundheitsmanagement

GRUNDBEGRIFFE DER SOZIOLOGIE. Markus Paulus. Radboud University Nijmegen DIPL.-PSYCH. (UNIV.), M.A.

Unterhaltung und Erziehung

Empowermentkonzepte und - strategien

Netzwerk mehr Sprache Kooperationsplattform für einen Chancengerechten Zugang zu Bildung in Gemeinden

V O N : P R O F. D R. D I E R K B O R S T E L F A C H H O C H S C H U L E D O R T M U N D D I E R K. B O R S T E F H - D O R T M U N D.

2.2.1 Werteorientierung und Religiosität

Hölderlin-Gymnasium Nürtingen

Sei nicht ängstlich, im Umgang mit mir standhaft zu bleiben! Mir ist diese Haltung lieber, weil ich mich dadurch sicher fühle.

Alternative Geldanlagen (ethisches Investment)

Who cares? Who pays? Zur Frage der frühkindlichen Erziehung im modernen Welfare State.

Vortrag Resilienz das Bindeglied zwischen Gesundheit und Leistung. von Dipl.-Psych. Markus Schmitt

Chancen und Herausforderungen familiärer Lebensformen

Anthropologische Grundlagen

Verantwortungspartner-Regionen in Deutschland. Seite 1

Lebensqualität und Welfare Mix...durch Partizipation und Empowerment in der Stadt Ahlen. Ein Beispiel für den ländlichen Raum

Pädagogik bei Verhaltensauffälligkeiten unter besonderer Berücksichtigung des verstehenden Zugangs. Georg Theunissen

Der Umgang der Sozialen Arbeit mit Armut

Ein Modell zur Gesundheits- und Krankheitsentwicklung Das Konzept der Salutogenese. Florian Schmidt, Marius Runkel, Alexander Hülsmann

Wie findet Sprachförderung in der Kindertageseinrichtung statt?

Tagung Partizipation als Kultur. Konzeptentwicklung in der Partizipation. Beatrice Durrer Eggerschwiler Projektleiterin

PARTIZIPATION VON KINDERN, JUGENDLICHEN UND FAMILIEN STÄRKEN FORUM 2 FRIEDHELM GÜTHOFF

Propädeutische Übung im Öffentlichen Recht. Universität Bonn Wintersemester 2010/

Waldmünchen. der KAB & CAJ ggmbh für den Bezirk Oberpfalz

Transkript:

Tagung Entsicherte Kindheit Fachhochschule Erfurt, 27. Mai 2015 Kindheit zwischen familialer Autonomie und gesellschaftlichem Druck Prof. Dr. Wilhelm J. Brinkmann

Kindheit zwischen familialer Autonomie und gesellschaftlichem Druck Prof. Dr. Wilhelm J. Brinkmann Gliederung: 1. Zur familialen Autonomie: Die Autonomie der Familie ist relativ. Das Familienleben hat eine beziehungsdynamische Innenseite und eine sozialökologische Außenseite. 2. Zum gesellschaftlichen Druck: Die Entsicherung der Kindheit wird begleitet von einer zunehmenden (kontraproduktiven) Pädagogisierung der Kindheit. 3. Konsequenzen und Perspektiven: Rechte für Kinder, eigene Grundsicherung für Kinder, Partizipation von Kindern, Kultur der Wertschätzung statt Bildungskonkurrenz.

Gliederung: Tagung Entsicherte Kindheit Kindheit zwischen familialer Autonomie und gesellschaftlichem Druck Prof. Dr. Wilhelm J. Brinkmann 1. Zur familialen Autonomie: Die Autonomie der Familie ist relativ. Das Familienleben hat eine beziehungsdynamische Innenseite und eine sozialökologische Außenseite. 2. Zum gesellschaftlichen Druck: Die Entsicherung der Kindheit wird begleitet von einer zunehmenden (kontraproduktiven) Pädagogisierung der Kindheit. 3. Konsequenzen und Perspektiven: Rechte für Kinder eigene Grundsicherung für Kinder Partizipation von Kindern Kultur der Wertschätzung statt Bildungskonkurrenz

Vorab: Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. (Art. 6 (2) GG) Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. (Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Napoleon)

1. Zur familialen Autonomie Schutz- und Risikofaktoren im Familienalltag I: die beziehungsdynamische Innenseite die Lebensgeschichten der Eltern: persönlichkeitsspezifische Lebenserfahrungen die gemeinsame Familiengeschichte: beziehungstypische Kompetenzen die beziehungsdynamische Stellung des Kindes/ der Kinder

Schutz- und Risikofaktoren im Familienalltag II: Die sozialökologische Außenseite Die materiellen Lebensverhältnisse Die soziale Integration auf der Mikro-, Meso- und Makroebene Soziale Werte und Normen, kulturelle Muster, pädagogische Leitbilder (im sozialen Wandel)

Die Dynamik familialen Scheiterns Vier große Räder greifen ineinander: 1. Beziehungsstörungen zwischen einzelnen oder allen Familienmitgliedern, 2. objektiv belastende Lebensumstände und Lebensereignisse, 3. subjektiv verfügbare Kräfte und Kompetenzen der Beteiligten, 4. soziale Ressourcen, psychosoziale Dienste, soziale Netzwerke

2. Zum gesellschaftlichen Druck: Beispiele kontraproduktiver Konsequenzen des gesellschaftlichen Strukturwandels Gesellschaft als ärgerliche Tatsache (Dahrendorf) Risiken und Nebenwirkungen: Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit (Alexander Kluge) Folgen der ökologischen Belastung Folgen der Nutzung der Atomkraft Folgen der Reproduktionsmedizin und Gentechnologie Der Geist des Kapitalismus und die Folgen für die Ethik Einschränkungen der Bewegungs-, Erfahrungsund Spielmöglichkeiten von Kindern in kommunalen Lebensräumen

Kindheit zwischen familialer Autonomie und gesellschaftlichem Druck Historische Veränderungen der Qualität des Familienlebens Einzelkinder steigende Quote von Trennungen Kompensation von Beziehungsmangel durch Konsum zeitweilige Stilllegung von Konflikten durch Medien Unerwünschtheit von Kindern im zweckrationalen Lebensalltag der Erwachsenen: Öffentlichkeit wird von Kindheit thematisch gereinigt.

Kindheit zwischen familialer Autonomie und gesellschaftlichem Druck Pädagogische Spezialeinrichtungen sind in ihrem Innenbereich nur bedingt kindgerecht gestaltet. (provokative Stichworte: Bewahranstalten, Lernfabriken, Unterrichtsvollzugsbeamte vs. kreativer Müßiggang : Günter Grass) Veränderung der Aneignung von Kultur Zunehmender Konsum & zunehmende Erfahrung aus zweiter Hand Reduktion von Eigentätigkeit mediatisierte Aneignung der symbolischen Kultur Brachliegen der Sinne & Verkümmerung der Phantasie Digitalisierung Zunehmende Pädagogisierung der Kindheit

Kindheit zwischen familialer Autonomie und gesellschaftlichem Druck Moderne Kindheit steht im Spannungsverhältnis von Selbsttätigkeit und Fremdbestimmung zunächst wurde ein Eigenraum für Kindheit eröffnet, nun wird er durch Pädagogik fremdbestimmt. Die Pädagogisierung der Kindheit ist wie eine Wohltat, die zur Plage wird. Kindheit als Vorhang, den man zwischen vernünftige Menschen zieht (Ivan Illich). Man kann Kindheit nicht nach betriebswirtschaftlichen Maßgaben bewirtschaften (Paolo Freire).

Pädagogisierung der Kindheit: Gewinne und Verluste Einerseits wird das Wissen über die Eigenwelt des Kindes und das Eigenrecht des Kindseins immer umfangreicher und genauer, andererseits wird Kindheit als soziale Lebenslage immer mehr auf den pädagogischen Bereich eingeschränkt und aus den anderen gesellschaftlichen Sektoren ausgegrenzt.

3. Konsequenzen und Perspektiven Notwendig und vorrangig ist die Verstärkung der Teilnahme und der Beteiligung von Kindern am Leben der Erwachsenen und die Verminderung der Abtrennung der Generationen voneinander. 3.1 Rechte des Kindes müssen im Grundgesetz und in den Landesverfassungen verankert werden. 3.2 Kinder müssen eine eigene materielle Grundsicherung erhalten, unabhängig von den Höhen und Tiefen der Erwerbsbiographie ihrer Eltern.

Kindheit zwischen familialer Autonomie und gesellschaftlichem Druck Prof. Dr. Wilhelm J. Brinkmann 3.3 Notwendig ist eine weitgehende Partizipation von Kindern auf den verschiedenen politischen Ebenen, und zwar um so weiter gehend, je näher die Politik den Kindern ist, das heißt, je unmittelbarer politische Entscheidungen die Weichen für den Lebensalltag von Kindern stellen. 3.4 Notwendig ist eine Kultur der Anerkennung und Wertschätzung, von Vertrauen und Solidarität, von Unterstützung und Toleranz auch und vor allem Minderheiten gegenüber.