2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension

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2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension In diesem Kapitel geht es um die Projektion des Raums in eine Ebene. Eine solche Projektion liegt der Perspektive, die in der Renaissance erforscht wurde, zu Grunde. Mit dieser Abbildungsmethode werden die Dinge wohl recht anschaulich, aber keineswegs einfacher. Die klassische Darstellende Geometrie hingegen, Ende des 18. Jahrhunderts begründet, verwendet ganz spezielle Projektionen. Es sind dies insbesondere Normalprojektionen in den Hauptrichtungen. Dieser gezielte Dimensionssprung kann oft helfen, Probleme wesentlich einfacher zu lösen. Schatten machen Darstellungen nicht nur interessanter, sie stellen auch eine Zusatzinformation dar: Während man das Abbild einer Raumsituation im Regelfall nicht eindeutig rekonstruieren kann, ist dies bei Kenntnis von Schatten viel eher möglich. Eines der Ziele der Darstellenden Geometrie ist es, räumliche Objekte durch i. Allg. zwei zugeordnete Normalprojektionen abzubilden, dort nach wohl erprobten Regeln zu manipulieren (z.b. zu drehen) oder einfach besser zu erfassen (z.b. Winkel- oder Streckenmessungen durchzuführen), und wenn nötig die Objekte wieder im Raum zu rekonstruieren. Überblick 2.1 DasPrinzipderZentralprojektion... 44 2.2 Durch Einschränkung zur Parallelprojektion bzw. Normalprojektion... 48 2.3 ZugeordneteNormalrisse... 55 2.4 HauptgeradenundderSatzvomrechtenWinkel... 63 2.5 Im Maschinenzeichnen ist manches anders..... 70 G. Glaeser, Geometrie und ihre Anwendungen in Kunst, Natur und Technik, DOI 10.1007/978-3-642-41852-5_2, Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

44 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension 2.1 Das Prinzip der Zentralprojektion Die Punkte des Raums werden in eine Ebene gedrängt Denken wir uns im Raum eine beliebige, aber feste Ebene π, dieeineprojektionsebene oder Bildebene sein soll, und einen nicht in π gelegenen Punkt Z / π, der das Projektionszentrum darstellt. Die Gerade p = ZP durch einen beliebigen Raumpunkt P nennen wir Projektionsstrahl. Klarerweise darf P nicht mit dem Zentrum zusammenfallen (P /= Z). Im Schnitt von p mit der Bildebene ergibt sich die Projektion P c (der Bildpunkt oder Riss) vonp. Für diese Vorschrift spielt es keine Rolle, ob der Punkt vor oder hinter der Bildebene, ob er vor oder gar hinter dem Projektionszentrum liegt. Es haben ohnehin alle Punkte auf ein- und demselben Projektionsstrahl dasselbe Bild! Wie sonst könnte man den gesamten Raum in eine Ebene zwängen? Abb. 2.1 Zentralprojektion von Punkten mit Sehkegel bzw. Sehpyramide Die Fotografie ist im Wesentlichen eine Zentralprojektion. Bei ihr liegt das Auge (das optische Zentrum der Linse) zwischen Objekt und Bildebene (der lichtempfindlichen Schicht). Bedingt durch den beschränkten Öffnungswinkel des Objektivs werden nur Punkte innerhalb eines vor dem Objektiv befindlichen Sehkegels abgebildet. Bedingt durch die Rechtecksform des Negativs (bzw. des lichtempfindlichen Chips) reduziert sich der Kegel sogar auf einen Pyramidenstumpf ( Sehpyramide ). Abb. 2.2 Fernpunkte werden bei der Zentralprojektion zu gewöhnlichen Punkten (links). Ausnahme: Die Fernpunkte der Bildebene sind mit ihren Projektionen identisch, bleiben also fix (rechts).

2.1 Das Prinzip der Zentralprojektion 45 Unendlich ferne Punkte sind ganz normal Wenn wir nicht gerade Pech haben, schneidet der Projektionsstrahl p die Bildebene in einem ganz gewöhnlichen Punkt P c = p π. Diese Abbildungsvorschrift funktioniert auch für Fernpunkte. Fernpunkte P u werden durch eine Geradenrichtung vorgegeben: Der Projektionsstrahl p ist dann einfach parallel zu dieser Richtung und wird die Bildebene in einem Punkt Pu c schneiden, der nicht mehr im Unendlichen liegt (Abb. 2.2 links). Eine Ausnahme bilden die Fernpunkte der Bildebene, die, weil sie in π liegen, nicht mehr projiziert werden müssen und deren Bilder daher auch Fernpunkte sind (Abb. 2.2 rechts). Punkte können verschwinden Wenn wir Pech haben, liegt der Projektionsstrahl p zufällig parallel zur Bildebene. Dann landet das Bild des Punkts im Unendlichen, obwohl der Punkt selbst keineswegs ein Fernpunkt sein muss: Er braucht nur in jener Ebene π v liegen, die das Zentrum Z enthält und parallel zu π liegt (π v π,π v Z). Ein solcher Punkt heißt Verschwindungspunkt, die Ebene π v Verschwindungsebene (Abb. 2.2 rechts). Wir sehen also: Alle Raumpunkte (auch Fernpunkte), die nicht in der Verschwindungsebene liegen, haben Bilder, die keine Fernpunkte sind. Was passiert mit Geraden? Bilden wir als nächstes eine Gerade des Raums ab. Das geht natürlich so, dass wir alle ihre Punkte abbilden. Nun werden Sie mit Recht vermuten, dass es genügt, zwei Punkte A und B einer Geraden g abzubilden, um dann die Verbindungsgerade der projizierten Punkte als Bild der ganzen Geraden zu erhalten: g c = A c B c. Das lässt sich auch leicht beweisen: Die Projektionsstrahlen durch alle Punkte von g bilden die Verbindungsebene Zg, welche die Bildebene π tatsächlich längs einer Geraden schneidet: g c =(Zg) π. Eine lineare Abbildung Die Zentralprojektion ist demnach geradentreu. Das verwundert uns nicht, denn von der Fotografie wissen wir: Auf Fotos erscheinen gerade Häuserkanten und Fußbodenleisten geradlinig, und da wir täglich hunderte Fotografien in Büchern und Zeitschriften sehen, erscheint uns das natürlich. Was daran wirklich natürlich ist, werden wir in einem eigenen Kapitel über Perspektive noch genau zu besprechen haben. Jedenfalls ist die Zentralprojektion einfach, weil sie linear ist, also geradentreu. Wir hatten schon einmal eine lineare Abbildung, nämlich die Polarität am Kreis bzw. der Kugel. Während dort aber Punkte in Geraden bzw. Ebenen transformiert werden, entsprechen bei der Zentralprojektion Punkte und Geraden des Raums wieder Punkte und Geraden der Bildebene. Die Abbildung funktioniert nur in eine Richtung Es gibt noch einen großen Unterschied zur Polarität: Letztere funktioniert anstandslos in beide Richtungen. Die Zentralprojektion ist jedoch nicht rück-

46 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension gängig zu machen. Mit anderen Worten: Aus einem Foto lässt sich ein Raumobjekt nicht rekonstruieren (Abb. 2.3 links). Da muss man zusätzliche Daten haben, also z.b. wissen, dass das Objekt im Raum ein Quader ist; dann ist das Objekt bis auf einen Größenmaßstab bestimmt (Abb. 2.3 rechts). Abb. 2.3 Zweimal zwei Objekte mit identischer Projektion Tatsächlich ist gerade in neuester Zeit das Problem des 3D-Scannens hoch aktuell (und noch nicht restlos zufrieden stellend gelöst). Oft wird dabei ein Objekt mittels Laserstrahlen erfasst, wodurch neben der gewöhnlichen geometrischen Projektion die Abstände vom Projektionszentrum automatisch ermittelt werden. Bei riesigen Objekten (wie sie bei Flugaufnahmen vorkommen) oder mikroskopisch kleinen Objekten ist diese Methode problematisch, und man muss mehrere qualitativ hochwertige fotografische Aufnahmen zur Verfügung haben, um mit ausreichender Sicherheit und Genauigkeit komplizierte Gebilde rekonstruieren zu können. Aus meiner Perspektive... Die Zentralprojektion wird uns noch viel mehr in Kapitel 9 (mit der gängigen Bezeichnung Perspektive) beschäftigen. Sie ist in der Malerei und Architektur von größter Bedeutung. Die meisten Menschen fühlen sich von interessanten perspektivischen Bildern angesprochen. Das hängt wohl damit zusammen, dass die Perspektive einen sehr subjektiven und damit persönlichen Eindruck vermittelt. Schließlich sagt man auch: Aus meiner Perspektive sehe ich das so und so. Fernelemente näher betrachtet Die Zentralprojektion vermittelt auch den Zusammenhang zwischen der euklidischen und der Projektiven Geometrie, in der man ganz andere Regeln aufstellen muss. Allein schon die Tatsache, dass man mithilfe der Zentralprojektion Fernpunkte und Ferngeraden in die Zeichenebene hereinholen kann, ist faszinierend. Nun wird erneut klar, wie sinnvoll es ist, einer Geraden nur einen Fernpunkt zuzusprechen (in der Zentralprojektion wird das ein gewöhnlicher Punkt auf der Geraden). Auch der Begriff der Ferngerade einer Ebene wird nun leicht verständlich: Projiziert man alle unendlich fernen Punkte einer nicht zur Bildebene parallelen Ebene ε, dann liegen die Projektionsstrahlen alle in einer zu ε parallelen Ebene ε durch das Zentrum Z. Sie schneidet die Bildebene in einer gewöhnlichen ( endlichen ) Geraden.

2.1 Das Prinzip der Zentralprojektion 47 Ebenen zentral projiziert Den Begriff Fernebene können wir mit der Zentralprojektion nicht so leicht plausibel machen. Das hängt damit zusammen, dass man eine Ebene zwar Punkt für Punkt problemlos abbilden kann, dass aber die Bildpunkte i. Allg. die gesamte Bildebene füllen. Ausnahmen bilden nur jene Ebenen, die das Zentrum Z beinhalten: Sie enthalten unendlich viele Projektionsstrahlen, die ihrerseits einen einzigen Bildpunkt haben ( projizierend erscheinen ). Abb. 2.4 Parallelbeleuchtung (Untersicht auf ein Zeltdach) Zentral beleuchtet Stillschweigend haben wir uns statt des Projektionszentrums immer einen Augpunkt bzw. ein Sehzentrum gedacht. Zentralprojektionen treten aber auch häufig bei Schatten auf. Die Lichtquelle darf nicht unendlich weit entfernt sein (Sonne und Mond scheiden dadurch aus). Außerdem sind viele endliche Lichtquellen nur großzügig betrachtet als punktförmig zu bezeichnen. Abb. 2.5 Zweischaliges Drehhyperboloid in Theorie und Praxis Nicht einmal ein kegelförmiger Lichtspot liefert ausschließlich Lichtstrahlen, die von einem punktförmigen Zentrum ausgehen. Dazu braucht man schon ein sogenanntes

48 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension zweischaliges Drehhyperboloid (Abb. 2.5), das wir später noch besprechen werden. Immerhin gilt: Jede endliche punktförmige Lichtquelle vermittelt auf einer Schirmebene (=schattenempfangende Ebene) eine Zentralprojektion des Raums. 2.2 Durch Einschränkung zur Parallelprojektion bzw. Normalprojektion Die Zentralprojektion ist im Wesentlichen eine Fotografie des Raums. Je weiter das Linsenzentrum (geometrisch gesehen das Projektionszentrum, der Augpunkt oder die Lichtquelle) entfernt ist, desto eher sind die Sehstrahlen (Projektionsstrahlen, Lichtstrahlen) parallel. Abb. 2.8 zeigt eine Flugaufnahme, bei der die Distanz naturgemäß schon recht groß ist. Abb. 2.6 Schiefe Parallelprojektionen... Abb. 2.7...bzw. Normalprojektionen Wenn das Projektionszentrum (Augpunkt oder Lichtquelle) ein Fernpunkt ist, gelten natürlich noch immer alle Regeln der Zentralprojektion. Die Sehstrahlen bzw. Lichtstrahlen sind dann allerdings parallel, und daraus resultiert eine wichtige Eigenschaft: Die Parallelprojektion ist parallelentreu, das heißt, wenn zwei Geraden im Raum parallel sind, dann sind auch ihre Projektionen parallel (sofern sie nicht projizierend sind). Beweis: Seien a b zwei parallele Geraden im Raum. Alle Projektionsstrahlen durch die Punkte von a bzw. b bilden zwei parallele Ebenen α und β. Diese beiden Ebenen sind mit der Projektionsebene π zu schneiden. Die drei Ebenen α, β und π haben einen Fernpunkt U gemeinsam, und der bleibt bei der Projektion fest, weil er schon in π liegt. Die Bildgeraden a p = α π und b p = β π gehen durch U, sind also parallel. Die Umkehrung des Satzes gilt natürlich nicht: Sind zwei Geraden im Bild parallel, heißt das noch lange nicht, dass die Geraden im Raum parallel sind. Aus der Parallelentreue folgt die Teilverhältnistreue der Parallelprojektion:

2.2 Durch Einschränkung zur Parallelprojektion bzw. Normalprojektion 49 Die Parallelprojektion ist teilverhältnistreu, das heißt, das Verhältnis von Streckenlängen auf ein- und derselben Geraden bzw. parallelen Geraden bleibt bei der Projektion erhalten. Beweis: Sei g eine Gerade, auf der sich drei Punkte P, Q und R befinden. Der Spurpunkt G = g π der Geraden bleibt bei der Projektion fest ( g p G). Die beiden Schenkel g und g p liegen in einer Ebene und werden nun von Parallelen (Projektionsstrahlen) durch P, Q und R geschnitten. Dann gilt nach dem Strahlensatz: PQ QR = P p Q p Q p R p Parallelentreue und Teilverhältnistreue haben unschätzbare Vorteile, wenn es darum geht, die räumliche Situation aus einem Schrägriss zu rekonstruieren. Wir denken uns mit einem Objekt (z.b. einem Quader) ein kartesisches Koordinatensystem (Ursprung U) verknüpft. Alle drei Koordinatenachsen x, y und z stehen im Raum paarweise aufeinander rechtwinklig. Auf den Achsen tragen wir die sogenannten Einheitspunkte auf. Einfache Darstellung mittels Militärriss In der Praxis hat sich ein Parallelriss besonders durchgesetzt: Der Militärriss. Bei ihm wählt man das Bild der x-achse beliebig (etwa unter einem Winkel α 0 zur Horizontalen, Abb. 2.9). Das Bild der y-achse wählt man dazu rechtwinklig. Die z-achse blickt nach oben. Die x- und y-werte bleiben unverkürzt, die z-werte kann man beliebig verkürzen, wobei es auch erlaubt ist, sie ebenfalls unverkürzt zu belassen. Abb. 2.8 Normalprojektion... Abb. 2.9... und Militärriss Abb. 2.9 zeigt, wie man schon mit wenigen Linien einigermaßen anschauliche Bilder hervor zaubern kann. Das Verfahren ist besonders gut für Objekte geeignet, die einen komplizierten Grundriss haben, dessen Gliederung sich mit zunehmender Höhe kaum verändert (z.b. lotrechte Drehzylinder). Hervorragend geeignet ist die Methode zum Erstellen anschaulicher Stadtpläne:

50 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension Abb. 2.10 Militärriss bzw.... Abb. 2.11...Normalprojektion: Informativ Man hat im Bild alle Straßenzüge und Gebäudegrundrisse bis auf den Maßstab unverzerrt, kann also Längen- und Winkelmessungen vornehmen. Die Schrägansicht liefert im gleichen Bild Information, wie hoch die Gebäude zueinander sind bzw. wie sie aussehen. Abb. 2.12 Perspektivische Ansichten mit waagrechter Achse kommen Übereckstellungen, also Normalprojektionen mit waagrechter Achse, nahe. Links: Architekturentwurf von Lukas Galehr. Rechts: Man kann davon ausgehen, dass sich die Blüten der Taubnessel ähneln. Damit hat man mehrere Ansichten in einem Bild vereint. Abb. 2.11 und Abb. 2.12 zeigen (gute Annäherungen an) Normalprojektionen einer Szene. Die Bilder erlauben Rückschlüsse, die bei einer Zentralprojektion viel schwerer zu ziehen sind. Z.B. kann man sofort beurteilen, ob die drei Objekte in Abb. 2.11 vollkommen gleichmäßig angeordnet sind, oder ob die Schneedecke auf allen drei Stühlen gleich dick ist. Rekonstruktion einer Raumsituation mithilfe von Schatten Wie hoch ist die Katze in Abb. 2.13 rechts in der Luft? Lösung: Das Bild zeigt zwei Fast-Parallelprojektionen (starkes Teleobjektiv) einer Katze im Galopp auf einem Hang mit leichter Schräglage. Spielen wir ein bisschen Sherlock Holmes: Das Bild rechts für sich alleine wirkt fast wie eine Fotomontage: Erst beim genaueren Betrachten entdecken wir einen möglichen Schatten ganz rechts. Das linke Bild (Bruchteile von Sekunden später aufgenommen) bestätigt die Annahme. Das Sonnenlicht fällt also sehr flach ein. Die Szene muss sich knapp nach Sonnenaufgang bzw. knapp vor Sonnenuntergang abgespielt haben. Man sieht noch den Tau

2.2 Durch Einschränkung zur Parallelprojektion bzw. Normalprojektion 51 Abb. 2.13 Wie hoch ist die Katze in der Luft? Der Schatten gibt die Antwort! im Gras glitzern also war es am Morgen. Kann man jetzt vielleicht noch sagen, wie hoch die Katze im rechten Bild in der Luft ist? Nun, wenn wir ein bisschen großzügig sind, lässt es sich machen: Der Hang ist offensichtlich eine schräge Ebene. Das Licht kommt ziemlich genau von der Seite. Man erahnt den Schatten P s der linken hinteren Pfote P. Jetzt können wir ein Dreieck PP P s einzeichnen, dessen Seite P P s parallel zur Hangrichtung ist (PP ist lotrecht). Der Abstand PP gibt Aufschluss über die Sprunghöhe: Wenn die Beckenhöhe der Katze sagen wir 30 cm beträgt (das Tier ist noch relativ klein), dann wird die Sprunghöhe etwas weniger als die Hälfte davon, also vielleicht 12 cm, betragen. Abb. 2.14 Ein Skarabäus hebt von einem Autodach ab. Schlagschatten und Spiegelung geben in zweifacher Weise Zusatzinformationen über die räumliche Situation. Abb. 2.14 zeigt eine andere Szene, an der Sie ihr Raumvorstellungsvermögen trainieren können. Hier liegt zusätzlich zum Schlagschatten eine Spiegelung an einer Ebene (ein silbernes Autodach) vor. Insgesamt haben wir also drei Projektionen in einem Bild. Wir haben in unseren Überlegungen die Parallelentreue der Normalprojektion und die Parallelen- bzw. Teilverhältnistreue des Parallelschattens verwendet. Auf einem

52 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension Foto, das mit einer gewöhnlichen Linse gemacht wurde, müsste man wesentlich genauer vorgehen. Auch das werden wir noch besprechen. Folgender Satz kann manchmal recht nützlich sein: Zwei Geraden im Raum sind i. Allg. parallel, wenn sie in zwei Parallelrissen parallel erscheinen. Sie sind garantiert parallel, wenn sie in drei unabhängigen Parallelrissen parallel sind. Beweis: Wenn zwei Geraden a und b in einer Parallelprojektion parallel sind, liegen sie in zwei projizierenden parallelen Ebenen α 1 β 1. Sind die Geraden in einer zweiten Parallelprojektion parallel, dann liegen sie i. Allg. in zwei weiteren parallelen Ebenen α 2 β 2, und dann ist a = α 1 α 2 b = β 1 β 2. Allerdings könnte es sein, dass a und b windschief sind, und beide Projektionsrichtungen zufällig rechtwinklig zum Gemeinlot n von a und b sind. In diesem Fall hilft nur eine Parallelprojektion, die eben nicht rechtwinklig zu n ist. Die drei Projektionsstrahlen durch einen Raumpunkt dürfen also nicht in einer Ebene liegen. Radarreflektoren und Katzenaugen Auf kleineren Schiffen baumelt häufig ein Gebilde der Form wie in Abb. 2.15. Man zeige, dass dieser aus drei paarweise rechtwinklig stehenden Quadraten gebildete Reflektor alle einfallenden Strahlen (insbesondere Radarstrahlen) zum Sender zurück schickt. In ganz ähnlicher Weise funktionieren die Rückstrahler auf Fahrrädern ( Katzenaugen ), wo das Licht des Autoscheinwerfers zum betreffenden Auto zurückgeschickt wird. Abb. 2.15 Baumelnder Radarreflektor auf einem Schiff Abb. 2.16 Katzenaugen : Reflektor auf den Fahrradspeichen in verschiedenen Vergrößerungsstufen Lösung: Das zweidimensionale Analogon ist viel besser bekannt: Eine Billardkugel wird über die Doppelbande reflektiert und kehrt im Idealfall parallel zur Abstoßrichtung zurück. Der Beweis dazu ist in Abb. 2.17 links zu sehen: Wenn man das Reflektionsgesetz zu Hilfe zieht ( Einfallswinkel = Ausfallswinkel ),

2.2 Durch Einschränkung zur Parallelprojektion bzw. Normalprojektion 53 kehrt der Strahl mit den dortigen Winkelbezeichnungen unter dem Winkel 90 +(ε 90 )=ε zurück. Abb. 2.17 Reflektion einer Billardkugel Nun in den Raum: Wir betrachten die Situation so, dass zwei der drei Spiegelebenen projizierend erscheinen. In einem solchen Hauptriss handelt es sich genau um das Billard-Problem. Der Spiegelung an den projizierenden Ebenen entspricht die ebene Doppelspiegelung, und die Spiegelung an der dritten frontalen Ebene ist nicht zu erkennen: Die Spiegelnormale erscheint nämlich projizierend, und einfallender und ausfallender Strahl liegen somit in derselben projizierenden Ebene (Abb. 2.18 Mitte links und rechts)! Abb. 2.18 Reflektion im Würfeleck (Mitte: Grund- und Aufriss) Wir können den Strahl also in allen Hauptrissen stets parallel zur Einfallsrichtung sehen. Wenn zwei Geraden aber in drei unabhängigen Parallelrissen parallel erscheinen, sind sie auch im Raum parallel! Abb. 2.17 rechts beantwortet folgendes Problem: Wie muss ich eine Billardkugel abstoßen, damit sie zum Anfangspunkt P zurückkehrt? Die Kugelbahn (der einfallende Strahl) wird zunächst an der ersten Bande gespiegelt. Welche Richtung sie auch immer hat, sie muss durch den an dieser Bande gespiegelten Ausgangspunkt P gehen. Der schon einmal reflektierte Strahl soll nach Spiegelung an der zweiten Bande durch den Endpunkt Q = P gehen; er muss also durch den an der zweiten Bande gespiegelten Punkt Q gehen. Damit ist der das erste Mal reflektierte Strahl eindeutig festgelegt.

54 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension Spiegeloptik statt Brechungslinsen Fast alle Tiere verwenden Brechungseigenschaften von Linsen oder Kristallen, um Licht auf ihrer Retina zu bündeln. Flusskrebse sowie einige Garnelen- und Hummerarten bedienen sich eines anderen Tricks: Sie haben Komplexaugen, deren Facetten innen verspiegelte quadratische Prismen sind. Wie soll das funktionieren? Zahllose dünne quadratische Prismen Lichtstrahlrichtung Normalprojektion Grundriss Retina Abb. 2.19 Links: In einem innen verspiegelten rechteckigem Prisma wird ein Teil der einfallenden Lichtstrahlen genau einmal so über die Bande reflektiert, dass der Strahl im Grundriss parallel austritt. Rechts: Ordnet man sehr viele sehr dünne solcher Prismen auf einer Kugeloberfläche an, werden parallele Lichtstrahlen teilweise auf einer konzentrischen Kugel gebündelt. Lösung: Die dahinterstehende Geometrie und wurde von Klaus Vogt 1980 entdeckt (K. Vogt: Die Spiegeloptik des Flusskrebsauges J. comp. Physiol. 135: 1-19): Wenn nämlich ein Lichtstrahl in so ein verspiegeltes quadratisches Prisma gelangt, ist die Wahrscheinlichkeit je nach Einfallswinkel und Einfallsrichtung mehr oder weniger groß, nach genau zweimaliger Spiegelung an zwei aufeinanderfolgenden Seitenflächen auf der anderen Seite ins Freie zu gelangen. (Manche Strahlen werden öfter reflektiert, andere schaffen es ohne jede Reflexion.) In Richtung Prismenachse betrachtet (Grundriss) scheint der Lichtstrahl wie beim Billardtisch über die Bande zu gehen (Abb. 2.19 links). Seine Neigung zur Prismenachse bleibt dabei erhalten. Ist das Prisma sehr dünn, sieht die Doppelreflexion in guter Näherung wie eine einfache Reflexion an einer virtuellen in Achsenrichtung projizierenden Ebene ε orthogonal zur Grundrissrichtung des Lichtstrahls aus. Einfallender und ausfallender Lichtstrahl bilden mit ε denselben Winkel. Wir drängen nun tausende solcher hauchdünnen Prismen auf einer Kugeloberfläche zusammen (Abb. 2.19 rechts) und belichten dieses System in vorgegebener Richtung s. Betrachten wir nun jene Prismen, deren Achsen zu s unter gleichem Winkel α geneigt sind (sie scharen sich um einen Kleinkreis der Kugel). Alle Lichtstrahlen, die die spezielle Doppelreflexion schaffen, werden dann so reflektiert, als ob sie von hunderten virtuellen Ebenen ε, die einen Drehkegel mit halbem Öffnungswinkel α berühren, reflektiert würden. Dementsprechend bilden die reflektierten Strahlen einen Drehkegel. Dessen Spitze hat vom Kugelmittelpunkt wie man sich leicht überlegt in etwa den Abstand des halben Kugelradius. Zu jeder Lichtstrahlrichtung s bündeln sich also sehr viele Lichtstrahlen in einem Punkt, der auf einer konzentrischen Kugel im Inneren liegt. Etwas großzügig gesprochen werden also Lichtstrahlen von weiter entfernten Punkten des Raums

2.3 Zugeordnete Normalrisse 55 recht lichtstark auf einen Punkt einer konzentrischen Kugel (der Retina) gebündelt. Das ist genau das Prinzip, das wir aus der geometrischen Optik kennen. Einziger Unterschied zum Linsenauge: Wir brauchen dazu keine Linse! Abb. 2.20 Spiegelaugen treten beim Flusskrebs und verschiedenen Garnelenarten und Hummern auf. Man erkennt Spiegelaugen an den rechteckigen Pseudopupillen (schwarzen Flecken, die ihre Lage je nach Position des Betrachters ändern). Bei den besagten Krebsen bzw. Garnelen sind die Augen, wie man in Abb. 2.20 sehen kann, keine Kugeln, sondern Ellipsoide, auf die man die Überlegungen durchaus übertragen kann. Man erkennt Augen mit Spiegeloptik an ihren Pseudopupillen, die nahezu rechteckig sind. Innerhalb dieser Rechtecke landen die Lichtstrahlen, die aus der Richtung des Beobachters kommen, in beschriebener Weise auf der Retina. Die viereckige Form hängt mit der viereckigen Form der einzelnen Facetten zusammen, die nicht-quadratische Form resultiert daraus, dass eben keine exakte Kugel vorliegt. Die Facetten erscheinen schwarz, weil kein Licht mehr zum Betrachter zurückreflektiert wird. Die Lage der Pseudopupillen ändert sich daher, wenn der Beobachter die Position ändert. 2.3 Zugeordnete Normalrisse Um ein Objekt eindeutig erfassen zu können, brauchen wir i. Allg. mindestens zwei Projektionen. Abb. 2.22 zeigt (fast) synchrone Fotografien (Zentralprojektionen) einer Katze im Flug. Unter idealen Verhältnissen (und bei wirklich synchronen Bildern) könnte man aus mehreren solchen Bilder die Position aller sichtbaren Körperteile rekonstruieren. Viel besser als Fotografien eignen sich Normalprojektionen. Wählt man die Projektionen nicht unabhängig von einander, sondern zueinander rechtwinklig, vereinfachen sich die meisten Aufgaben enorm. Ein Objekt kann man meist zwanglos mit einem rechtwinkligen Koordinatensystem verknüpfen (Abb. 2.21, Abb. 2.23). Dann heißen die Normalprojektionen auf die Koordinatenebenen die Hauptrisse. Bei Projektion entgegen

56 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension Abb. 2.21 Zwei Projektionen liefern wesentlich mehr Information als eine einzige Abb. 2.22 Zugeordnete Projektionen der z-achse erhält man den Grundriss, entgegen der x-achse den Aufriss, entgegen der y-achse den Kreuzriss. Hat ein Raumpunkt die Koordinaten P (x/y/z), dann haben seine Hauptrisse die Koordinaten P (x/y), P (y/z) und P (x/z). Die drei Risse hängen somit paarweise durch jeweils eine Koordinate miteinander zusammen, so dass man sie einander zuordnen kann. Zeichnet man Grund- und Aufriss genau übereinander, dann gibt es von P nach P einen Ordner (Abb. 2.24). Aus Grund- und Aufriss lassen sich von jedem Punkt die Koordinaten ablesen. Die doppelt auftretende y-koordinate legt den Ordner fest. Ebenso gibt es Ordner zwischen Auf- und Kreuzriss bzw. dem Grundriss und einem Seitenriss wie in Abb. 2.29 Mitte und links. (Zum besseren Verständnis ist rechts eine allgemeine Normalprojektion eingezeichnet). Immer liegen die beiden zugeordneten Normalprojektionen eines Raumpunkts auf Ordnern. Die Lage des Koordinatenursprungs und damit die Lage der Projektionen der Achsen ist für viele Anwendungen nicht von Wichtigkeit.

2.3 Zugeordnete Normalrisse 57 Abb. 2.23 Links: Die drei Hauptrisse (Normalprojektionen auf paarweise zueinander normale Ebenen). Rechts: Eine berühmte Studie von Leonardo da Vinci, fast 300 Jahre vor Gaspard Monge (Abb. 2.24). Die beiden unten angeordneten Risse sind zugeordnete Normalrisse. Die darüber angeordnete unverzerrte Vorderansicht des Kopfs ist ein weiterer zugeordneter Hilfsriss. Abb. 2.24 So entstehen Grund-, Auf- und Kreuzriss (Prinzip von Gaspard Monge) Vielmehr kommt es auf Relativpositionen zu Bezugsebenen parallel zu den Koordinatenebenen an. Welches Objekt ist das? Wie sieht ein räumliches Objekt aus, dessen Umriss von vorne gesehen ein Quadrat ist, von links gesehen ein gleichschenkliges Dreieck und von oben gesehen ein Kreis ist? Für einen Anfänger ist diese Frage eine ziemliche Herausforderung. Selbst bei Vorgabe der Hauptrisse des keilförmigen Objekts in Abb. 2.25 dort sind neben den Umrissen auch eine zusätzliche Kante und eine halbe Ellipse zu erkennen ist es nicht leicht, herauszufinden, wie das Objekt wirklich aussieht. Es handelt sich um einen Drehzylinder, der zweimal symmetrisch abgeschnitten wurde. Dabei treten, wie wir bald sehen werden (S. 133), Ellipsen als Schnittkurven auf. Einfache Netzkonstruktion (Abb. 2.26) Von einer quadratischen Pyramide ist das Netz (die Abwicklung) anzufertigen. Lösung: Wir stellen das Objekt so einfach wie möglich auf. Dadurch erscheinen die Basis-

58 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension Abb. 2.25 Hauptrisse und allgemeine Normalprojektion Abb. 2.26 Netzkonstruktion mittels Hauptrissen (Paralleldrehen von AS) kanten im Grundriss unverkürzt. Drehen wir eine Seitenkante um die Achse des Objekts in eine zur Aufrissebene parallele Ebene (die Drehung lässt sich im Grundriss durchführen), dann erscheint die Kante im Aufriss unverzerrt. Zuordnungsprobleme? Nicht selten hat man es mit zwei oder mehr speziellen Ansichten eines Objekts zu tun, die irgendwie nebeneinander gelagert sind. Man hat die Anschauung aber wesentlich leichter im Griff, wenn man diese Risse in zugeordnete Lage bringt. So ganz nebenbei ist das eine vorzügliche Schulung des räumlichen Vorstellungsvermögens. Abb. 2.27 Links, Mitte: Zwei spezielle Ansichten. Rechts: Zugeordnete Lage. Abb. 2.27 illustriert dies am Beispiel zweier Abbildungen eines Schneckenhauses in zueinander normalen Richtungen. Obwohl es sich um Fotografien und daher keine Normalprojektionen handelt, lassen sich die beiden Fotos recht gut zuordnen (rechts). Dies hilft unmittelbar, um zugeordnete Punkte aufspüren zu können. In der amerikanischen Norm spricht man von top view, front view bzw. left side view und right side view. Im Gegensatz zum Mongeschen Modell arbeitet man aber oft mit einer Ansicht von unten oder hinten (bottom view, back view). Das kann gelegentlich verwirren. Anderseits weichen die starren Normen ohnehin auf, weil heute mit dem Computer gearbeitet wird und zusätzliche allgemeine räumliche Ansichten gratis dabei sind. Was ist gebrochen bzw. luxiert? Abb. 2.28 zeigt drei Röntgen-Aufnahmen eines linken Unterarms samt Hand. Die

2.3 Zugeordnete Normalrisse 59 Bilder zeigen einen Speichenbruch. Allerdings scheint zusätzlich ein Handwurzelknochen (Mondbein) herumzuschwirren (Bild ganz links), was eine Verrenkung (Luxation) vermuten ließe. Abb. 2.28 Drei Röntgenaufnahmen. Rechts: Frontalansicht, Mitte ein Kreuzriss. Beim linken Bild wurde nicht exakt um 90 geschwenkt ( Übereckstellung ). Die Aufnahme in der Mitte zeigt recht genau eine Ansicht von rechts (Kreuzriss) des linken Unterarms: Elle und Speiche liegen übereinander. Hier erscheint die Position des in Frage stehenden Handwurzelknochens einigermaßen normal (es liegt nämlich keine Luxation vor). Der Bruch in der Speiche ist im Kreuzriss besonders deutlich zu sehen, insbesondere lässt sich der Winkel gut abschätzen, um den beim Einrichten rückgestellt werden muss. Abb. 2.29 Grundriss (Mitte) und zugeordneter Normalriss (links) einer Szene (rechts) Schatten auf koordinatenparallele Schirmebenen In Abb. 2.29 ist im Grundriss mithilfe einer zugeordneten Seitenansicht (Seitenriss) der Parallelschatten des Objekts auf die horizontale Basisebene zu ermitteln. Die Richtung des Lichtstrahls sei in Grund- und Seitenriss angege-

60 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension ben. Verschiebt man diese Richtung durch zugeordnete Punkte P und P, dann hat man im Seitenriss bereits das Bild P s des Durchstoßpunkts P s gefunden. Sein Grundriss P s liegt am Ordner. Ohne das Beispiel im Detail weiter zu besprechen (wir haben noch nicht über Schatten von Kugeln auf Ebenen oder Schatten von Geraden auf Kugeln gesprochen), kann man zumindest sofort Begrenzungslinien für den Schatten finden, indem man in beiden Hauptrissen streifende Lichtstrahlen an die Kugel betrachtet. Seitenrisse werden in der Darstellenden Geometrie oft benötigt. Die originelle (auf einem Papierfragment gefundene) Freihandskizze Abb. 2.30 soll das Prinzip erläutern: Wenn man zu zwei zugeordneten Normalrissen (z.b. Grund- und Aufriss) einen dritten Riss erzeugen will, der einem der beiden gegebenen (hier dem Aufriss) zugeordnet ist, wählt man im wegfallenden Riss eine projizierende Bezugsebene ε senkrecht zur Ordnerrichtung (grün eingezeichnet). Sie ist auch im neuen Riss projizierend und senkrecht zur Ordnerrichtung. Auf den Ordern im neuen Riss kann man die Abstände von ε aus dem wegfallenden Riss übertragen (blau). Allerdings wird man Seitenrisse üblicherweise nicht verwenden, um anschauliche Bilder zu gewinnen, sondern im Gegenteil spezielle Ansichten zu erzeugen, in denen etwa Ebenen projizierend sind ([22]). Abb. 2.30 Seitenriss Abb. 2.31 Hauptprojektionen als Schatten Schatten liefern zusätzliche Information Schatten unterscheiden sich geometrisch nicht von Projektionen. Kann man auf einem Bild Schatten erkennen, liefern diese ähnliche Zusatzinformationen wie zusätzliche Risse. Abb. 2.31 zeigt ein mathematisch definiertes Herz (www.mathematische_basteleien.de/herz.htm). Aufgrund der Schatten auf die Koordinatenebenen (sie entsprechen den Hauptrissen) kann man sehr gut beurteilen, wie das Objekt rundum aussieht.

2.3 Zugeordnete Normalrisse 61 Abb. 2.32 Schatten liefern zusätzliche Informationen Eine häufige Aufgabe ist die sogenannte Sichtbarkeitsentscheidung. Abb. 2.33 illustriert, dass man manchmal auf einem Foto nicht beurteilen kann, wie scheinbare Kollisionspunkte liegen. Manchmal kommt einem der Zufall zu Hilfe und man findet über Schlagschatten die Lösung (Abb. 2.32). Wir wollen uns überlegen, was i. Allg. für eine solche Entscheidung notwendig ist. Sichtbarkeitsentscheidung bei windschiefen Geraden Zwei Geraden haben genau dann einen Schnittpunkt, wenn sie in einer Ebene liegen. Liegen sie nicht in einer Ebene, sind sie windschief zueinander (kreuzend). Abb. 2.33 Oft ist eine Sichtbarkeitsentscheidung gar nicht so leicht zu fällen. Bei der Szene im linken Bild wirft der Orca den Stuntman in die Luft. Zur Beruhigung: Es kam zu keiner Kollision mit der Säule. Im rechten Bild sieht man recht bald, dass der Fallschirm nicht einfädelt. Denken wir uns Geraden materiell als Stäbe ausgeführt, dann wird in jeder Ansicht eine Gerade eine windschiefe Gerade beim scheinbaren Schnittpunkt verdecken oder dort von letzterer verdeckt werden. Um diese Entscheidung zu fällen, brauchen wir zwei Projektionen am besten zugeordnete Normalrisse. Abb. 2.34 zeigt Grund- und Aufriss zweier Geraden a und b. Der Schnittpunkt im Aufriss entspricht nicht dem Schnittpunkt im Grundriss, denn sonst müssten die Punkte auf einem Ordner liegen. a und b sind somit windschief. Im Grundriss überlagern einander ein Punkt 1 auf a und ein Punkt 2 auf b. Zeichnet man den Ordner durch den scheinbaren Schnittpunkt 1 = 2 und sucht die zugeordneten Punkte 1 a bzw. 2 b,dannkannmanbeurteilen, welcher Punkt höher liegt und damit im Grundriss sichtbar ist.

62 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension Ganz analog sucht man zu den überlagerten Punkten 3 a = 4 b die Grundrisse 3 a und 4 b auf. Jener Punkt, der weiter vorne liegt, ist im Aufriss sichtbar. Wir merken uns: Die Sichtbarkeitsentscheidung in einem Normalriss geschieht in einem anderen ihm zugeordneten Normalriss. Abb. 2.34 Sichtbarkeitsentscheidung in Theorie... Abb. 2.35... und Praxis: Die Beinstellungen sind schon verwirrend genug, aber wo verlaufen die Stricke? Zeichentechnisch betont man die Verdeckung einer Geraden durch eine andere, indem man die verdeckte Gerade kurz unterbricht. Man erzeugt sozusagen eine Aura um jede Gerade. Solche kleinen Tricks unterstützen die Raumvorstellung beträchtlich. Umgekehrt wirken sich Fehler bei solchen Sichtbarkeitsentscheidungen negativ auf die Raumvorstellung aus, sie können ein geistig entstandenes dreidimensionales Objekt zerstören. Der folgenden wichtigen Sätze kommen in vielen Überlegungen zum Tragen: Eine Gerade, die mit einer Ebene einen rechten Winkel bildet, ist rechtwinklig zu jeder Geraden in der Ebene. Beweis: Wir betrachten einen rechten Winkel mit den Schenkeln a und b (Scheitel S = a b). Halten wir a fest und lassen b um a rotieren, dann überstreicht b die Normalebene ν a. Jede beliebige Gerade in ν ist zu einer der Lagen von b parallel, bildet also auch einen rechten Winkel mit a. Abb. 2.36 illustriert den Satz: Eine Baggerschaufel, die sich um eine Normale zur schrägen Geländeebene dreht, kann erfolgreich zum Glätten des Erdreichs eingesetzt werden.

2.4 Hauptgeraden und der Satz vom rechten Winkel 63 Abb. 2.36 Praktische Anwendung des konstanten rechten Winkels: Die rot eingezeichnete Drehachse der Baggerschaufel steht senkrecht zur gewünschten Geländeebene. Nun kann der Bagger mittels Rotation des Auslegers mit der Schaufel den Hang glätten. 2.4 Hauptgeraden und der Satz vom rechten Winkel Liegt eine Gerade parallel zur Bildebene und damit rechtwinklig zur Projektionsrichtung, nennt man sie Hauptgerade. Strecken auf Hauptgeraden werden bei der Normalprojektion unverzerrt abgebildet. Für Hauptgeraden gilt der Satz vom rechten Winkel: Ein rechter Winkel erscheint bei Normalprojektion nur dann als rechter Winkel, wenn mindestens einer der beiden Schenkel Hauptgerade ist. Beweis: Seien wieder a und b die Schenkel und S = a b der Scheitel des rechten Winkels und π die Projektionsebene. Die Gerade b überstreicht bei Rotation um a die Normalebene ν a.ist nun a π, dann ist die ganze Ebene ν projizierend und im Bild rechtwinklig zu a. Ist nun a / π, dannistν nicht projizierend. Die Normalen n a bilden dann mit π stets verschiedene Winkel. Für die spezielle Normale b π gilt nach dem eben Gesagten, dass sie im Bild mit jeder Normalen, also auch mit a, einen rechten Winkel bildet. Der Satz lässt sich auch mittels Vektorrechnung elegant beweisen: Wir verwenden ein angepasstes Koordinatensystem, bei dem die z-achse senkrecht zur Bildebene ist. Zwei Vektoren a und b sollen im Raum orthogonal sein ( a b = a x b x + a y b y + a z b z = 0). Dann sind die Vektoren genau dann in der Normalprojektion orthogonal (Bedingung: a x b x + a y b y = 0), wenna z b z = 0 gilt, also entweder a z = 0 oder b z = 0, was bedeutet, dass entweder a oder b parallel zur xy-ebene ist. Lauter rechte Winkel... Abb. 2.37 zeigt zwei grundsätzlich verschiedene Fotos von Baukränen (Weitwinkel- und Teleobjektiv-Aufnahme). Bei diesen treten ja einigermaßen genau rechte Winkel auf. Man erkläre, warum sämtliche rechten Winkel im rechten Bild auch im Bild als solche erscheinen. Lösung: Die Aufnahme links ist eine klassische Zentralprojektion, bei welcher der Satz

64 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension Abb. 2.37 Die ewige Baustelle: Die Sagrada Familia in Barcelona (Antoni Gaudí) ist seit Jahren von Baukränen eingekreist (das ist Teil des Konzepts). Die Kransäule bildet mit dem Balken einen rechten Winkel, den man auf Weitwinkelfotos (links) praktisch nie als solchen sieht, bei Teleobjektivaufnahmen (annähernd Normalprojektionen) mit waagrechter optischer Achse jedoch praktisch immer, denn dann sind sämtliche Säulen Hauptgeraden. vom rechten Winkel nur in einem Ausnahmefall gilt: Beide Schenkel müssen parallel zur Bildebene (also Hauptgeraden) sein. Die Aufnahme rechts ist annähernd eine Normalprojektion. Wenn nun die optische Ache waagrecht ist (und damit die Bildebene = Sensorebene lotrecht), dann sind sämtliche Säulen der abgebildeten Kräne Hauptgeraden, und der Satz vom rechten Winkel gilt: Egal, welche Richtung die Balken haben, sie bilden sich horizontal ab. Eine direkte Folge des Satzes vom rechten Winkel ist die folgende zeichentechnisch fundamentale Regel, die wir im Anhang über Freihandzeichnen im Detail besprechen werden: Ein Kreis bildet sich bei Normalprojektion als Ellipse ab, deren Hauptachse rechtwinklig zum Bild der Kreisachse steht. Der Kreisdurchmesser ist gleich der Länge der Hauptachse. Beweis: Wir nehmen vorweg, dass das Kreisbild eine Ellipse ist (was wir noch zeigen werden). Unter allen Kreisdurchmessern (Abb. 2.38) bildet sich jener in wahrer Länge ab, der auf einer Hauptgeraden liegt. Weil sich alle anderen Durchmesser verkürzt abbilden, liegen auf der Hauptgeraden die Hauptscheitel der Bildellipse. Sind Gepäck-Röntgen-Scans Normalprojektionen? Bei der Handgepäckskontrolle werden kleinere Gepäckstücke mittels Rönt-

2.4 Hauptgeraden und der Satz vom rechten Winkel 65 Abb. 2.38 In Normalprojektion ist das Bild eines Kreises c eine Ellipse c n. Die Nebenachse von c n ist identisch mit dem Bild a n der Kreisachse a. Die halbe Hauptachse ist gleich dem Radius r des Kreises. genstrahlen analysiert (Abb. 2.39), indem das Objekt auf einem Förderband transformiert wird und Querschnitte orthogonal dazu gescannt werden. Welche Projektion entsteht dabei? Abb. 2.39 Der Koffer eines Fotografen passiert das Gepäcks-Röntgen. Es handelt sich dabei nicht um eine Fotografie (=Zentralprojektion), sondern um einen Scan, der einer fast orthogonalen Parallelprojektion entspricht. Dementsprechend gilt in guter Näherung der Satz vom rechten Winkel. Zur Information die nachgestellte Szene, fotografisch festgehalten. Lösung: Bei Analyse des linken Bildes in Abb. 2.39 lässt sich folgende Hypothese aufstellen: Die Querschnitte werden offenbar erfasst, indem der Scan-Strahl nahezu orthogonal zur Beförderungsrichtung (und damit stets parallel), aber schräg, durch die Szene geführt wird. Das Ergebnis wird auf einer Pixelleiste orthogonal zur Strahlenrichtung gespeichert, wodurch eine Normalprojektion des Querschnitts entsteht. Beim Durchschieben entsteht dann insgesamt jedenfalls eine Parallelprojektion, die aber sehr nahe an eine Normalprojektion herankommt.

66 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension Zur Erhärtung dieser Hypothese kann man nach verschiedenen Kriterien testen. Offensichtlich gilt Parallelentreue und Teilverhältnistreue, was man unter Anderem bei der eingekreisten externen Harddisk verifizieren kann. Wenn eine Normalprojektion vorliegt, muss auch der Satz vom rechten Winkel gelten. Das lässt sich beim Kofferrand sehen (gestricheltes Achsenkreuz rechts), in nicht-trivialer Weise aber auch bei den aufgesetzten langen Objektiven: Die verschiedenen Kreisringe der Objektive stehen ja zur optischen Achse orthogonal. Bei den elliptischen Kreisbilder sollten die Hauptachsen der Ellipsen exakt senkrecht zum Bild der Achse stehen was in der Tat recht genau stimmt. Abb. 2.40 Der Satz vom rechten Winkel ist für das Phänomen verantwortlich, dass die Mondsichel bei Sonnenuntergang verdreht erscheint. Zeigt die Mondsichel nicht zur Sonne? Bei Sonnenuntergang ist der zunehmende Mond noch über dem Horizont. Dann sollte man doch annehmen können, dass die Mondsichel zur Sonne schaut. Doch die Sichel schaut leicht nach oben (Abb. 2.40). Warum?

2.4 Hauptgeraden und der Satz vom rechten Winkel 67 Lösung: Wenn wir den Mond anvisieren und stark heranzoomen, liegt näherungsweise eine Normalprojektion vor, wodurch der Satz vom rechten Winkel zum Tragen kommt. Die Mondsichel setzt sich aus zwei Kurven zusammen: Dem Umriss c der Mondsichel (ein Halbkreis) und der sichtbaren Hälfte des Terminators t. Bei Letzterem handelt es sich um die Eigenschattengrenze des Mondes, welche diesen in eine beleuchtete und eine unbeleuchtete Seite teilt (siehe dazu auch Anwendung S. 128). Um nun die Nebenachse der Bildellipse des Terminators zu bekommen, muss die Achse s des Terminators auf die Bildebene π normalprojiziert werden. s kann auch als Sonnenstrahl durch den Mondmittelpunkt M interpretiert werden (Abb. 2.40). Man kann nun wie folgt vorgehen: Sei Z der Betrachter und S die beinahe unendlich weit entfernte Sonne. Die Projektionsebene π ist orthogonal zum Hauptsehstrahl MZ. Die Normalprojektion s n der Achse s = MS des Terminators geht durch M n und durch die Normalprojektion H n eines Hilfspunkts H auf s. Sie ist offensichtlich unter einem von Null verschiedenen Winkel ϕ geneigt. Je höher der Mond noch am Himmel steht, desto größer ist der vermeintliche Fehler. In www1.uni-ak.ac.at/geom/ files/moon-tilt.pdf finden Sie mehr zu diesem Thema. Unter anderem wird dort eine Formel für den Winkel ϕ abgeleitet. Wann genau beginnen der Frühling und die restlichen Jahreszeiten? Frühlings- und Herbstbeginn sind dadurch charakterisiert, dass Tag und Nacht gleich lang sind (Äquinoktium). Sommerbeginn ist dann, wenn maximale Tageslänge, Winterbeginn, wenn minimale Tageslänge erreicht wird. Wie können wir die zugehörigen exakten Zeitpunkte beliebig genau finden (Abb. 2.41)? Äquinoktium Raumsituation (Normalprojektion) Nord-Sommer Grundriss (Normalprojektion) Äquinoktium Hauptgerade Nord-Winter Äquinoktium Hauptgerade Nord-Winter Äquinoktium Abb. 2.41 Der Satz vom rechten Winkel ermöglicht es, den exakten Frühlingsbeginn zu bestimmen. Links eine allgemeine Normalprojektion, rechts der Grundriss. Die Gestalt der Bahnkurve der Erde wurde übertrieben elliptisch eingezeichnet, um die Überlegung zu verdeutlichen.

68 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension Lösung: Nach dem ersten Keplerschen Gesetz ist die Bahn der Erde eine Ellipse mit einem Brennpunkt in der Sonne. Während eines Jahres bleibt die Achsenrichtung der Erde konstant. Äquinoktium (Tag-und-Nacht-Gleiche) tritt ein, wenn die Eigenschattengrenze der Erde (der Terminator) durch die Pole geht. Dann bilden aber die Erdachse und die Sonnenstrahlen einen rechten Winkel. Wenn wir einen Grundriss also eine Normalprojektion auf die Bahnellipse betrachten, sind alle Sonnenstrahlen Hauptgeraden, weil sie in der Projektionsebene liegen. Da eine Normalprojektion vorliegt, gilt der Satz vom rechten Winkel: Man sieht demnach den gesuchten rechten Winkel zwischen Sonnenstrahlen und der schrägen Erdachse sofern er im Raum vorliegt im Grundriss, weil ein Schenkel des Winkels Hauptgerade ist! Somit liegen die beiden Punkte, an denen Tag-und-Nacht-Gleiche vorliegt (Frühlings- und Herbstbeginn), auf einer Normalen zur Richtung des Grundrisses der Erdachse. Die zugehörige orthogonale Richtung (die somit die Richtung des Grundrisses der Erdachsenrichtung hat) liefert in keineswegs trivialer Weise gleich den Sommer- bzw. Winterbeginn. Zu zeigen ist, dass dort der Winkel σ zwischen Erdachse und Sonnenstrahlen extrem ist. Und schon wieder hilft uns der Satz vom rechten Winkel beim Beweis (Abb. 2.42): Abb. 2.42 Der extreme Winkel zwischen den Sonnenstrahlen und der Erdachse. Sei E jene Position der Erde auf der Bahnellipse, an der die Erdachse im Grundriss durch die Sonne S zu gehen scheint, A ein beliebiger Punkt auf der Erdachse (mit festem Abstand EA), A sein Grundriss und C der Lotfußpunkt aus A auf die Gerade ES. Wir legen den Winkel σ durch das rechtwinklige Dreieck AEC fest. Dieses Dreieck erscheint in der speziellen Position wegen A = C projizierend. Bei Nachbarpositionen E und E vor bzw. nach dem speziellen Ereignis kann man C konstruieren, indem man den planaren Lotfußpunkt aus A zum zugehörigen Sonnenstrahl s bzw. s aufsucht, denn jede Sonnenstrahlrichtung ist Hauptgerade. Daraus folgt, dass sowohl E C als auch E C vor und nach der speziellen Position kürzer als EC sind und σ dadurch in E einen Extremwert angenommen hat. In Kapitel 11 werden wir noch einiges mehr zu diesem Thema erarbeiten.

2.4 Hauptgeraden und der Satz vom rechten Winkel 69 Kotierte Projektion In bestimmten Einsatzgebieten, etwa im Straßenbau (Abb. 2.43, Abb. 5.42 rechts), Eisenbahnbau oder in der Geologie, kommt man unter Umständen sehr gut auch mit einer einzigen Normalprojektion dem Grundriss zurecht, wenn man gezielt Höheninformationen angibt. Das Verfahren wird Kotierte Projektion genannt. Perspektive Standpunkt Güterweg überwindet Geländestufe Abb. 2.43 Kotierte Projektion, aus der sogar recht einfach ein Zentralriss (perspektivisches Durchschnittsverfahren, s.s. 292) konstruiert werden kann (oben). Der geplante Güterweg wird in eine Geländestufe eingepasst, wobei sich im Idealfall Einschnitte und Böschungen ausgleichen (Material-Umschichtung). Der kreisförmig gekrümmte gleichmäßig 10% ansteigende Weg hat schraublinienförmige Ränder, die Böschungen sind daher Schraubtorsen (s.s.249). Es erlaubt, die häufigsten Grundaufgaben in den genannten Einsatzgebieten effizient zu lösen. Straßenplanung im Gelände oder komplizierte Flächen in der Kartografie sind so leicht in den Griff zu bekommen.

70 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension 2.5 Im Maschinenzeichnen ist manches anders Die klassische Darstellende Geometrie und das Maschinenzeichnen bedienen sich vieler gemeinsamer Methoden. Im Maschinenzeichnen werden allerdings viele Zeichenkürzel und andere Vereinbarungen ( Regeln ) verwendet. Das bringt enorme Vorteile beim Zeichnen, verlangt vom Betrachter der Zeichnung andererseits gewisse Vorkenntnisse. Das Wissen um das Wesen eines Schnittes im Maschinenzeichnen, das wir gleich besprechen werden, gehört dazu. Wer sich die Objekte wirklich zerschnitten denkt, macht einen grundsätzlichen Fehler! Maschinenzeichner sind recht pragmatisch. Regeln sind nur Empfehlungen, die man, wenn es geht, einhalten sollte. Im Wissen darum, dass es fast unmöglich ist, alle Regeln gleichzeitig konsequent einzuhalten, hilft man sich dann mit Sätzen wie nach Möglichkeit, wenn es der Platz erlaubt, usw. Spezielle zusätzliche Ansichten Im Maschinenzeichnen spricht man statt von Grund-, Auf-, Kreuz- und Seitenrissen von der Draufsicht, Vorderansicht, Ansicht von links bzw. rechts und zusätzlichen Ansichten. Geräte (so heißen die Objekte auch) kann man in allen möglichen speziellen und allgemeinen Ansichten darstellen. Solche Bilder helfen zwar dem Betrachter, sich das Objekt besser vorstellen zu können, bauen kann man das Gerät aber oft genug nicht nach diesen Plänen. SCHNITT A B Ansicht X A B Abb. 2.44 Beim abgebildeten Werkstück genügt eine Hauptansicht und eine einzige gezielte zusätzliche Ansicht. Abb. 2.45 Schnitt durch einen Rohrkrümmer: Alles, was hinter der virtuellen Schnittebene zu sehen ist, wird eingezeichnet. Abb. 2.44 links zeigt ein Gerät, diesmal durch eine typische Maschinenzeichnung dargestellt: Es genügt eine Vorderansicht und eine gezielte zusätzliche Ansicht, um alle nötigen Maße in wahrer Länge zu sehen und auch bemaßen zu können. Dünne

2.5 Im Maschinenzeichnen ist manches anders 71 strichpunktierte Linien werden im Maschinenzeichnen für unterschiedliche Zwecke verwendet. Im Allgemeinen stellen sie Rotationsachsen dar, könne aber auch als Symmetrieachsen oder in Form eines Achsenkreuzes zum Markieren eines Kreismittelpunkts Verwendung finden. Virtuelle Schnitte Im Maschinenzeichnen steht man immer wieder vor dem Problem, Objekte darzustellen, die selbst bei verschiedenen Projektionen nur schwer eindeutig zu erkennen oder gar zu bemaßen sind. Zu diesem Zweck hat man den Schnitt eines Objekts entwickelt. Darunter versteht man eine gedachte Zerlegung des Objekts längs einer meist zu einer Körperachse normalen bzw. die Achse enthaltenden Schnittebene. In der Regel wird das, was in der Schnittebene liegt, schraffiert (Ausnahmen bilden Längsschnitte von Streben, Rippen, Schrauben, Muttern, Beilagscheiben, usw.). Alles, was vor der Ebene liegt, wird weggelassen, alles dahinter gezeichnet. Abb. 2.45 links zeigt einen Schnitt durch einen Rohrkrümmer. Um zu erklären, wo Bohrungen anzusetzen sind, aber auch, wo Schrauben eingeschraubt werden, eignet sich ein einfacher Schnitt (AB). Die Pfeile deuten die Blickrichtung an. Mehrfache virtuelle Schnitte Abb. 2.46 soll illustrieren, dass man auch bei vermeintlich einfachen Objekten nicht mit einem einzelnen Schnitt auskommt. Dabei gilt folgende Regel: Bei Mehrfachschnitten wird jeder Schnitt ohne Berücksichtigung anderer Schnitte ausgeführt. B D A C Schnitt AB Schnitt CD Abb. 2.46 Mehrfachschnitte bei einem einzigen Objekt: Ganz links liegt ein Halbschnitt vor. Daneben sieht man eine Ansicht von links und zwei weitere Schnitte durch das Objekt. Links ist zunächst eine Vorderansicht des Objekts (eine Düse) zu sehen. Das Objekt ist symmetrisch, daher kann man zwei Fliegen auf einen Schlag erledigen: Die eine Hälfte bis zur strichpunktierten Symmetrieachse wird als Ansicht gezeichnet (ob die obere oder untere Hälfte, hängt von der verwendeten Norm ab). Weil die andere symmetrisch ist, stellt man die andere Seite im sogenannten Halbschnitt dar, um das nicht allzu komplizierte Innenleben der Düse zu illustrieren. Eine wichtige Regel dabei ist, dass die Schnittachse nicht als Volllinie nachgezogen werden darf: Der Schnitt ist nur virtuell!

72 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension Nun wäre man bereits fertig, wenn alle Teile der Düse zylindrisch wären, denn es ist im Maschinenzeichnen vereinbart, dass Teile automatisch zylindrisch sind, wenn nichts dagegen spricht. Eine Ansicht von links (im Regelfall rechts von der Vorderansicht gezeichnet) zeigt aber, dass zumindest der Düsenkopf quadratisch ist. Was dahinter liegt, könnte immer noch zylindrisch oder wieder quadratisch sein. Im vorliegenden Fall ist der Teil zwischen A und B zylindrisch, die Verdickung rechts davon quadratisch. Das kann in einem Schnitt von A nach B ( Vollschnitt ) gut gezeigt werden. Schlussendlich soll ein Vollschnitt von C nach D zeigen, dass der Rest der Düse wieder zylindrisch ist. Wenn Platz genug ist, werden hinter einander liegende Schnitte in Serie gezeichnet. Bemaßung Geräte sollen erstens dort bemaßt werden, wo man es erwartet (dort, wo die Maße unverkürzt zu sehen sind), und zweitens so, dass am Werkstück nachgemessen werden kann. Deshalb werden in der Regel nicht die Radien von Kreisen, sondern deren Durchmesser bemaßt, notfalls auch mit fliegenden Maßen (Abb. 2.47 ganz links). Wenn der Kreis projizierend ist, schreibt man das Durchmesserzeichen Ø dazu. 5 25 2 45 o 20 / o 14 / o 38 / 6 o 20 / o 26 / 39.5 10 10 15 28 30 215 Abb. 2.47 Mehrfachschnitte bei einem einzigen Objekt: Ganz links liegt ein Halbschnitt vor. Daneben sieht man eine Ansicht von links und zwei weitere Schnitte durch das Objekt. Um nicht sichtbare Bohrungen und Ähnliches bemaßen zu können, arbeitet man entweder mit Vollschnitten oder Halbschnitten. Oft genügt es aber auch, das Objekt lokal aufzureißen, also einen Teilschnitt durchzuführen. Ist ein Objekt zu lang, um zur Gänze abgebildet zu werden, unterbricht man es kurzerhand (z.b. mit einer Wellenlinie oder mit einer Achterschleife). Wichtig sind immer die Außenmaße. Geschlossene Maßketten sind zu vermeiden. Maßlinien sollen sich nach Möglichkeit nicht überkreuzen. So einfach das Werkstück in Abb. 2.47 auch zu sein scheint: Eine anschauliche Skizze davon zu erstellen, bei der alle Einzelheiten eindeutig zu erkennen

2.5 Im Maschinenzeichnen ist manches anders 73 Abb. 2.48 Das in Abb. 2.47 beschriebene Werkstück, links mit echten Schnitten (falsch!), rechts transparent in einer räumlichen Ansicht dargestellt. sind, erscheint relativ schwierig. Im Zeitalter des Computers kann man sich manchmal mit Transparenz-Zeichnungen über die Runden helfen (Abb. 2.48). Ein Viertel des Objekts herauszunehmen, erhöht zwar die Anschaulichkeit, birgt aber die Gefahr eines Missverständnisses! Schnitte in Bauzeichnungen Abb. 2.49 Perspektivische Ansicht des in Abb. 2.50 dargestellten Objekts, mittels einer Fotomontage eingebettet in seine geplante zukünftige Umgebung. Bauzeichnungen unterscheiden sich mitunter beträchtlich von Maschinenzeichnungen. Schon die Norm ist z.b. verschieden (1 cm statt 1 mm). Außerdem gibt es keine Bemaßungspfeile, stattdessen Striche. Wie im Maschinenzeichnen sind jedoch virtuelle Schnitte von essentieller Bedeutung. Abb. 2.50 zeigt ein doch recht kompliziertes Gebäude (Cornelia Faißt) mit drei zugeordneten Schnitten. Ohne jetzt im Detail darauf einzugehen: Hier kann niemand behaupten, sich aufgrund dieser drei Schnitte das Objekt wirklich vorstellen zu können, und es ist zumindest eine allgemeine Ansicht notwendig (Abb. 2.49), um überhaupt erkennen zu können, worum es sich handelt. Bewundernswerterweise entwickeln Architekten aber im Lauf der Zeit eine erstaunliche Gabe, aufgrund einer Serie von Schnitten tatsächlich tiefere Einsichten in nahezu unüberschaubare Szenen zu gewinnen. Im Vorgriff auf Kapitel 6 sei verraten: Die Außenwand des Gebäudes wird von sogenannten HP-Schalen (hyperbolischen Paraboloiden) gebildet, die zwei verschiedene

74 2 Projektionen und Schatten: Die Reduktion der Dimension Abb. 2.50 Gebäude mit einem horizontalen und zwei vertikalen Schnitten. Scharen von Geraden tragen (Abb. 6.17, 7.7). Die in Abb. 2.50 eingezeichneten ebenen Schnitte solcher Flächen sind wie der Name schon andeutet Parabeln bzw. Hyperbeln. Abb. 2.51 Trotz aller Computersimulationen: Das Modell ist nach wie vor für das Verständnis sehr wichtig. Hier ist besonders deutlich der Charakter der Außenhaut zu sehen diese trägt zwei unterschiedliche Scharen von Geraden! Der verspiegelte Boden bringt natürlich für die Präsentation zusätzliche Effekte, ist für das Erfassen des Objekts aber gewöhnungsbedürftig.