Die ICF: auch eine «Sprache» für die Gesundheitsförderung? «Die ICF im Kontext von Bildung und Gesundheit» und 4. ICF-CY Anwenderkonferenz Zentrum Inklusion und Gesundheit in der Schule Zürich, 9. Juni 2016 Roger Keller Lagerstrasse 2 8090 Zürich
ICF und ICF-CY: einleitende Textstellen 1. Die ICF bietet eine gemeinsame und universelle Sprache für Anwendungen im klinischen Setting, im öffentlichen Gesundheitswesen und in der Forschung zur Dokumentation und Evaluation von Gesundheit und Behinderung. 2. Die ICF ist dank des zugrundeliegenden bio-psycho-sozialen Modells nicht primär defizitorientiert, also weniger eine Klassifikation der "Folgen von Krankheit". Vielmehr klassifiziert sie "Komponenten von Gesundheit": Körperfunktionen, Körperstrukturen, Aktivitäten und Partizipation (Teilhabe) sowie Umweltfaktoren. 3. Die ICF bietet einen konzeptionellen Rahmen für Informationen, die auf die Gesundheitsversorgung des Einzelnen anwendbar sind, einschliesslich Prävention und Gesundheitsförderung. 4. Sie ist damit auch ressourcenorientiert und nimmt bezüglich der Ätiologie einen neutralen Blickwinkel ein. Die ICF kann daher auf alle Menschen bezogen werden, nicht nur auf Menschen mit Behinderungen. 2
Die Struktur der ICF Klassifikation ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) Teile Teil 1: Funktionsfähigkeit und Behinderung Teil 2: Kontextfaktoren Komponenten Körperfunktionen und -strukturen Aktivitäten und Partizipation Umweltfaktoren personbezogene Faktoren Konstrukte / Beurteilungsmerkmale Änderung der Körperfunktionen Leistung Änderung der Körperstrukturen Leistungsfähigkeit Förderfaktoren und Barrieren Erwähnt, aber nicht klassiifiziert Domänen und Kategorien auf den unterschiedlichen Ebenen Item-Ebenen - 1. - 2. - 3. & 4. Item-Ebenen - 1. - 2. - 3. & 4. Item-Ebenen - 1. - 2. - 3. & 4. Item-Ebenen - 1. - 2. - 3. & 4. Item-Ebenen - 1. - 2. - 3. & 4. 3
Was verstehen wir unter Gesundheit? Gesundheit = Freisein von Krankheit oder Störungen? Biomedizinisches Paradigma;; eng mit Diagnosestellung verknüpft;; abhängig von technischen Möglichkeiten Gesundheit = Funktionsfähigkeit? Leistungsfähigkeit des Individuums für Erfüllung der Rollen und Aufgaben;; Stellenwert von subjektiven Empfindungen? Gesundheit = vollständiges körperliches, psychisches und soziales Wohlbefinden? Utopie?;; hemmungsloser Genuss? Definition wird zur Gesundheitsgefahr Gesundheit = Flexibilität (Heterostase)? Position auf Kontinuum zwischen Gesundheit und Krankheit (Salutogenese);; Mensch ist dauerhaft mit Störungen konfrontiert, die dank Ressourcen bewältigt werden können (Franke, 2012;; Lippke & Renneberg, 2006;; Raithel, 2009) 4
Wert der Gesundheit? Gesundheit als relativer Wert à gesundheitliche Überlegungen stehen nicht im Vordergrund, Gesundheit ist langweilig à wichtig ist ein gutes und glückliches Leben Gesundheit als höchstes Gut, Geschenk, Pflicht à alle müssen aktiv etwas für die Gesundheit tun 5
Was verstehen wir unter Gesundheit? Subjektive Erfahrung / Befinden: krank fühle mich krank fühle mich krank Objektive Diagnose oder Befund durch Fachperson: krank + bin krank fühle mich gesund + bin krank + bin gesund fühle mich gesund + bin gesund Objektive Diagnose oder Befund durch Fachperson: gesund 6 Subjektive Erfahrung / Befinden: gesund in Anlehnung an Naidoo & Wills, 2010
Was heisst Gesundheitsförderung? Wodurch werden wir behindert? Was macht krank? à Gesundheitsproblem steht im Vordergrund Ziel: Belastungen reduzieren Risikofaktoren minimieren Ausbreiten einer Krankheit verhindern PRÄVENTION Was fördert die Funktionsfähigkeit? GESUNDHEITS- FÖRDERUNG Was erhält gesund? à Konzept der Salutogenese Ziel: Ressourcen erkennen und aktivieren Ressourcen fördern / aufbauen Selbstverantwortlich Sorge zur eigenen Gesundheit tragen Quellen: www.dachverband-salutogenese.de;; Antonovsky, 1987;; Hurrelmann, Klotz& Haisch, 2014 7
Was heisst Gesundheitsförderung? Besondere Berücksichtigung der Lebenswelten Setting-Ansatz Verhältnisebene (Umwelt) Verhaltensebene (Person) 8
The Guardian - Points of View (1986) 9 https://www.youtube.com/watch?v=e3h-t3kqnxu
Was meint Partizipation? ICF: Partizipation [Teilhabe] ist das Einbezogensein in eine Lebenssituation Gesundheitsförderung: Partizipation ist Mitbestimmung in Entscheidungsprozessen (Partizipationsleiter, Wright et al., 2010) 10
Kontextfaktoren in São Paulo, Brasilien 11
Mensch-Umwelt-Passung: theoretisches Rahmenmodell (SAR-Modell) Anforderungen in der Umwelt Berufliche Anforderungen Soziale Anforderungen, z.b. Wünsche der Partnerin (Becker, 2006;; www.leitbegriffe.bzga.de) 12
Mensch-Umwelt-Passung: theoretisches Rahmenmodell (SAR-Modell) (Becker, 2006;; www.leitbegriffe.bzga.de) 13 Interne Anforderungen (Bedürfnisse, Ziele, Werte und Normen) Physiologische Bedürfnisse, z.b. Nahrung Selbstverwirklichung Orientierung und Sicherheit Bindung...
Mensch-Umwelt-Passung: theoretisches Rahmenmodell (SAR-Modell) Ressourcen in der Umwelt sozial (soziale Unterstützung, Vereine, soziales Ansehen) beruflich (Ausbildung, ergonomische Arbeitsbedingungen) materiell (Einkommen, Wohnverhältnisse) gesellschaftliche Ressourcen (Bildungssystem, (Becker, 2006;; www.leitbegriffe.bzga.de) Gesundheitssystem, Rechtssystem) ökologische (saubere Umwelt, Nahrung) 14
Mensch-Umwelt-Passung: theoretisches Rahmenmodell (SAR-Modell) (Becker, 2006;; www.leitbegriffe.bzga.de) 15 Interne Ressourcen (physisch, psychisch) Körperliche Fitness, Funktionsfähigkeit Fähigkeiten, Fertigkeiten, Kompetenzen Selbstwirksamkeitsüberzeugung Persönlichkeitseigenschaften Copingstrategien Kohärenzsinn Resilienz
Vorläufiges Fazit und offenen Fragen Gesundheitsförderung Frage: Was erhält gesund? starke Ressourcenorientierung à persönliche Ressourcen und Ressourcen in der Umwelt kein allgemein akzeptiertes Rahmenmodell zur Integration der unterschiedlichen Ansätze eher psychosoziale Ansätze, biomedizinische Sichtweise findet zu wenig Berücksichtigung Ø es braucht einen klaren Orientierungsrahmen für wissenschaftlich fundiertes, ethisch verantwortliches und kontextsensibles Handeln (Wechselwirkungen Verhaltens- und Verhältnisebene). 16
Vorläufiges Fazit und offenen Fragen Die ICF aus Sicht der Gesundheitsförderung bio-psycho-sozialer Denkansatz stellt Partizipation ins Zentrum bietet Klassifikation, die das Verhältnis von Person und Umwelt in den Blick nimmt dient als Unterstützung für eine umfassende Situationsanalyse. Ø Die ICF hat das Potenzial auch eine Sprache für die Gesundheitsförderung zu werden, wenn... Ø der bio-psycho-soziale-denkansatz im Bereich der Kontextfaktoren theoriegeleitet weiterentwickelt wird, um die Mensch-Umwelt-Passung optimal abzubilden (Umwelt- und Personenfaktoren) Ø Begriffsklärungen: Was meint Gesundheit / Funktionsfähigkeit und was heisst Partizipation? 17
Literatur Antonovsky, A. (1997). Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Gesundheit. (Deutsche erw. Herausgabe von Alexa Franke). Tübingen: DGVT Verlag. Becker, P. (2006). Gesundheit durch Bedürfnisbefriedigung. Göttingen: Hogrefe. Franke, A. (2012). Modelle von Gesundheit und Krankheit (3. überarb. Aufl.). Bern: Huber. Hurrelmann, K., Klotz, T., & Haisch, J. (2014). Lehrbuch Prävention und Gesundheitsförderung (4., vollst. überarb. Aufl. Aufl.). Bern: Hogrefe, vorm. Hans Huber. Lippke, S., & Renneberg, B. (2006). Konzepte von Gesundheit und Krankheit. In B. Renneberg & P. Hammelstein (Hrsg.), Gesundheitspsychologie (S. 7-12). Heidelberg: Springer Medizin Verlag. Naidoo, J., Wills, J., & BZgA. (2010). Lehrbuch der Gesundheitsförderung (überarbeitete, aktualisierte und durch Beiträge zum Entwicklungsstand in Deutschland erweiterte Neuauflage. Gamburg: Verlag für Gesundheitsförderung. Raithel, J. (2009). Einführung Pädagogik : Begriffe, Strömungen, Klassiker, Fachrichtungen (3. Aufl.). Wiesbaden: VS, Verlag für Sozialwissenschaften. Wright, M. (2010). Partizipative Qualitätsentwicklung in der Gesundheitsförderung und Prävention. Bern: Huber. 18